Entscheidungsdatum
12.11.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W175 2219353-1/21E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Neumann als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , afghanischer Staatsangehöriger, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.03.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte am 08.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. In der Erstbefragung am 09.12.2015 gab der BF an, er sei am XXXX in Kabul geboren, seine Muttersprache sei Paschtu, zudem spreche er Dari. Er gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an und bekenne sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Er habe mit seiner Familie (Mutter, Vater, Bruder, Schwester) in der Provinz Laghman gelebt, wo er neun Jahre lang eine Schule besucht, jedoch keine Berufsausbildung genossen habe. Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der BF an, Afghanistan aufgrund den Taliban verlassen zu haben. In seinem Heimatdorf sei jemand von den Amerikanern umgebracht worden, die Taliban hätten behauptet, dass dies der Vater des BF gewesen sei. Die Taliban hätten auch den BF mit dem Umbringen bedroht haben, der Onkel des BF habe sodann entschieden, dass der BF das Land verlassen müsse.
2. Ein in weiterer Folge in Auftrag gegebenes Gutachten zur Altersfeststellung kam zum Schluss, dass der BF am 29.12.2015 mindestens 14 Jahre alt ist.
3. Am 05.03.2018 fand die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) statt. Im Zuge dieser gab der BF an, dass er in Kabul geboren, im Alter von zwei Jahren jedoch mit seiner Familie in die Provinz Laghman verzogen sei. Seine Mutter lebe mit seinem Bruder und seiner Schwester nach wie vor in Laghman, sein Vater sei verstorben. Der Onkel mütterlicherseits, der ihm bei der Organisation der Flucht geholfen habe, unterstütze seine Mutter nun in Afghanistan. Vor dem Tod des Vaters sei es der Familie finanziell gut gegangen, sie hätten ein Grundstück, ein Geschäft und ein Haus besessen. In Laghman würden noch drei Onkel und drei Tanten mütterlicherseits leben, in der Provinz Khost weitere vier Onkel sowie drei Tanten väterlicherseits. Seine Tazkira habe er auf der Flucht verloren.
Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF an, dass in seinem Dorf Krieg zwischen den Taliban, der Polizei und den örtlichen Milizen herrsche. Bei einem Gefecht zwischen den genannten Verbänden sei ein Taliban-Anführer ums Leben gekommen. Anschließend hätten die Taliban das Haus der Familie des BF aufgesucht und dem Vater des BF vorgehalten, dass dieser ein Spion sei und den örtlichen Taliban-Anführer getötet habe. Die Taliban hätten den Vater des BF mitgenommen. Man habe den Vater des BF beschuldigt, ein Spion zu sein, da er aus der Provinz Khost komme. Der Dorfvorsteher, der aufgrund der Schreie der Mutter und der Schwester des BF ins Haus gekommen sei, habe verhindern können, dass die Taliban auch den BF mitnehmen. Der Dorfvorsteher habe aber gesagt, dass er ihm kein zweites Mal retten werde können, woraufhin der BF geflohen sei.
4. Im Rahmen der am 21.01.2019 stattgefundenen ergänzenden Einvernahme des BF wurde dieser abermals mit dem von ihm bereits erstatteten Fluchtvorbringen konfrontiert. Er gab hierzu zusammengefasst an, dass sein Vater im Oktober 2015 in Afghanistan getötet worden sei. Auch hätten Angehörige der Taliban den BF mitnehmen wollen, durch Einschreiten der Dorfältesten sei dies jedoch verhindert worden.
5. Eine am 01.02.2019 vom BF verfasste Stellungnahme betreffend dessen letztmalige Einvernahme vor dem BFA langte beim BFA am 13.02.2019 ein.
6. Das BFA wies mit dem gegenständlichen Bescheid vom 20.03.2019 den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und den Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) ab. Dem BF wurde gemäß
§ 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise des BF betrage gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
Begründend wurde ausgeführt, dass der BF nicht glaubwürdig sei und eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft machen habe können. Auch subsidiärer Schutz sei nicht zu gewähren gewesen, da dem BF eine Innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe. Es bestehe zudem kein schutzwürdiges Privatleben des BF das einen Verbleib in Österreich rechtfertigen würde.
7. Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht und vollinhaltlich die gegenständliche Beschwerde und machte die Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend. Das BFA habe es unterlassen, eine ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens des BF durchzuführen, zudem würden sich die herangezogenen Länderfeststellungen nur unzureichend mit dem konkreten Fluchtvorbringen des BF decken. Zudem läge dem anfechtungsgegenständlichen Bescheid eine mangelhafte Beweiswürdigung zugrunde.
8. Die gegenständliche Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 23.05.2019 vorgelegt.
9. Das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 29.06.2018 (inklusive Updates), die UNHCR Guidelines zu Afghanistan vom 30.08.2018 sowie der EASO-Bericht zu Sozioökonomischen Kennzahlen vom 20.04.2019 wurden durch das BVwG im Rahmen der Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme am 16.07.2019 in das Verfahren eingebracht.
10. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 16.10.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu durch, an der der BF und seine rechtliche Vertretung (RV) teilnahmen. Ein Vertreter des BFA nahm entschuldigt nicht an der gegenständlichen Verhandlung teil.
Der BF gab an, dass er den B1-Deutschkurs abgeschlossen habe und in zwei Monaten die Prüfung absolvieren wolle. Er sei mit seiner Freundin seit zwei Jahren zusammen und wolle sie in Zukunft heiraten. Außer seiner Freundin habe er noch weitere enge Bezugspersonen in Österreich: den Cousin mütterlicherseits sowie viele Freunde vom Fußballspielen. Er leide nach wie vor unter Schlafstörungen und müsse deswegen Medikamente nehmen.
Der BF legte eine Anzeigebestätigung bezüglich des Vorfalles, bei dem sein Vater entführt worden sei, vor. Sein Onkel habe diese Anzeige erstattet. Sein Onkel habe ihm zirka eineinhalb Jahre nach dem Ereignis erzählt, dass sein Vater gestorben sei. Seine Familie sei da schon in Teheran gewesen. Dorthin sei die Familie nämlich gezogen nach dem sie das Lebensmittelgeschäft in Laghman verkauft habe. Zu seinen anderen Verwandten in Laghman und Khost habe er keinen Kontakt mehr.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Der BF ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Er ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch Dari und Deutsch. Er ist ledig und kinderlos.
Der BF wurde in Kabul geboren, verzog jedoch mit zwei Jahren in die Provinz Laghman und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinen zwei Geschwistern auf. Der BF besuchte neun Jahre lang eine Grundschule, erlernte aber keinen Beruf, unterstützte seinen Vater jedoch nebenbei in dessen Geschäft. Er verfügt über mehrere Onkel und Tanten in den Provinzen Laghman und Khost.
Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
Der BF leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, aufgrund derer er Medikamente nimmt und in ärztlicher Behandlung ist. Der BF leidet jedoch an keinen schwerwiegenden psychischen oder physischen Erkrankungen.
1.2. Zu den Fluchtgründen:
Dem BF drohen bei einer Rückkehr weder physische noch psychische Bedrohungen von erheblicher Intensität durch die Taliban oder andere Personen.
Der BF ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Es liegt keine als westlich bezeichnete Lebenseinstellung beim BF vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden ist, und die ihn in Afghanistan Bedrohungen von erheblicher Intensität aussetzten würde.
Es ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass dem BF aufgrund einer Asylantragstellung oder aufgrund seines Auslandaufenthaltes Repressalien von erheblicher Intensität drohen.
Er wurde in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder aufgrund seiner Rasse, Nationalität, seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst Probleme. Er war nie politisch tätig und gehörte keiner politischen Partei an.
1.3. Zum (Privat)Leben des BF in Österreich:
Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Dezember 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist seit seinem Antrag auf internationalen Schutz am 08.12.2015 durchgehend in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz aufhältig.
Der BF verfügt über Deutschkenntnisse auf Niveau A2.
Der BF hat in Österreich Werte- und Integrationskurse besucht Es liegt ein Arbeitsvertrag vor, der im Falle der Erteilung einer Arbeitserlaubnis in Österreich wirksam wird. In seiner Freizeit spielt der BF Fußball in einem Verein.
Der BF bezieht Leistungen aus der Grundversorgung, er ist nicht selbsterhaltungsfähig.
Ein Cousin des BF mütterlicherseits lebt mit seiner Familie in Wien. Der BF ist ledig und kinderlos.
Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
1.4.1. Es ist dem BF eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Laghman aufgrund der dort herrschenden volatilen Sicherheitslage nicht möglich.
1.4.2. Auch ist dem BF eine Rückkehr in andere Landesteile Afghanistans, insbesondere in die Städte Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht möglich. Die Sicherheitslage ist angesichts der Machtergreifung der Taliban in allen Landesteilen Afghanistans als volatil zu bewerten.
Afghanistan ist derzeit von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen (Taliban) betroffen. Seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan drastisch verschlechtert. Im Falle einer Niederlassung des BF in den Städte Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif oder sonst irgendwo in Afghanistan droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden. Es kann nicht mit der notwendigen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan landesweit dem realen Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt ist.
1.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung vom 31.08.2021 (Stand: 11.06.2021)
- UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)
Auszug Länderinformationsblatt der Staatendokumentation:
„1.5.1. Aktuelle Entwicklungen in Afghanistan
Am 15. August übernahmen die Taliban kampflos die Hauptstadt Kabul, nachdem sie innerhalb von nur wenigen Tagen den Großteil des Landes, inklusive aller größeren Städte Afghanistans eingenommen und Präsident Ashraf Ghani Berichten zufolge das Land verlassen hatte.
Tausende AfghanInnen und ausländische Staatsangehörige versuchen, aus Kabul zu fliehen. Am Kabuler Flughafen sind Szenen von Chaos und Panik zu beobachten.
Am Morgen des 16. August 2021 schlossen die USA die Evakuierung ihrer Botschaft ab und holten ihre Flagge an ihren Botschaftsgebäuden ein.
Mehr als 60 Länder gaben eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie die sofortige Wiederherstellung der Sicherheit und der zivilen Ordnung fordern und die Taliban bitten, denjenigen, die das Land verlassen wollen, dies zu ermöglichen.
AktivistInnen äußern sich besorgt über die Lage der Frauen in Afghanistan, nachdem berichtet wurde, dass die Taliban in einigen Teilen des Landes bereits Änderungen in Bezug auf die Kleidung der Frauen und ihre Arbeitsmöglichkeiten durchsetzen.
Kurzinformation der Staatendokumentation mit Stand 02.08.2021
In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. Berichten zufolge liegt die Gebietskontrolle der Regierung auf dem niedrigsten Stand seit 2001 (UNHCR 20.7.2021)
Nach Angaben des Long War Journals (LWJ) kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte Afghanistan. Die Regierungstruppen kämpfen aktuell (Ende Juli / Anfang August 2021) gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gah und Kandahar, dessen Flughafen von den Taliban bombardiert wurde. Seit 1.8.2021 gibt es keine Flüge mehr zu und von dem Flughafen (AJ 1.8.2021). Von den 17 Distrikten Herats sind nur Guzara und die Stadt Herat unter Kontrolle der Regierung. Die übrigen Bezirke werden von den Taliban gehalten, die versuchen, in das Zentrum der Stadt vorzudringen (TN 31.7.2021; vgl. ANI 2.8.2021). Die afghanische Regierung entsendet mehr Truppen nach Herat, da die Kämpfe mit den Taliban zunehmen (ANI 2.8.2021; vgl. AJ 1.8.2021).
1.5.2. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch Tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).
Die Sicherheitslage im Jahr 2021
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021a; cf. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021). Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman (LWJ 20.5.2021) und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen "taktischen Rückzug" angetreten hatten (RFE/RL 12.5.2021b; vgl. TN 12.5.2021, AJ 12.5.2021). Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 2.6.2021).
Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021). Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen (LWJ 6.6.2021; vgl. RFE/RL 1.6.2021). Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021, LWJ 20.5.2021, VOA 7.6.2021).
Die Sicherheitslage im Jahr 2020
Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021).
Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) der Taliban eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020, USDOS 30.3.2021).
In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021; vgl. UNGASC 12.3.2021, AIHRC 28.1.2021).
Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat (UNGASC 12.3.2021; vgl. AAN 16.8.2020), scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020). Die Taliban hielten jedoch den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, einschließlich gefährdeter Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Autobahnen zu sichern und die Gewinne der Taliban rückgängig zu machen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar (UNGASC 12.3.2021).
Zivile Opfer
Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung (UNAMA 4.2021; vgl. UNSC 1.6.2021).
Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).
Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).
Obwohl ein Rückgang der durch regierungsfeindliche Elemente verletzten Zivilisten im Jahr 2020, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, festgestellt werden konnte, so gab es einen Anstieg zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch wahllos von Opfern aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021).
Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet (UNAMA 4.2021; vgl. BAMF 19.4.2021) .
Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die "Woche der Gewaltreduzierung" vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Khorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021a; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021a; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Khost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).
High-profile Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente werden landesweit fortgesetzt, insbesondere in der Stadt Kabul. Zwischen dem 13.11.2020 und dem 11.2.2021 wurden 35 Selbstmordattentate dokumentiert, im Vergleich zu 42 im vorherigen Berichtszeitraum. Darüber hinaus wurden 88 Anschläge mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen verübt, 43 davon in Kabul, darunter auch gegen prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Gezielte Attentate, oft ohne Bekennerschreiben, nahmen weiter zu (UNGASC 12.3.2021).
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).
Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 1.7.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).
Opiumproduktion und die Sicherheitslage
Afghanistan ist das Land, in dem weltweit das meiste Opium produziert wird. In den letzten fünf Jahren entfielen etwa 84 % der globalen Opiumproduktion auf Afghanistan. Im Jahr 2019 ging die Anbaufläche für Schlafmohn zurück, während der Ernteertrag in etwa dem des Jahres 2018 entsprach (UNODC 6.2020; vgl. ONDCP 7.2.2020). Der größte Teil des Schlafmohns in Afghanistan wird im Großraum Kandahar (d.h. Kandahar und Helmand) im Südwesten des Landes angebaut (AAN 25.6.2020). Opium ist eine Einnahmequelle für Aufständische sowie eine Quelle der Korruption innerhalb der afghanischen Regierung (WP 9.12.2019); der Opiumanbau gedeiht unter Bedingungen der Staatenlosigkeit und Gesetzlosigkeit wie in Afghanistan (Bradford 2019; vgl. ONDCP 7.2.2020).
1.5.3. Provinz Laghman
Letzte Änderung: 10.06.2021
Laghman liegt im Osten Afghanistans und grenzt im Norden an die Provinzen Panjshir und Nuristan, im Osten an Kunar, im Süden an Nangarhar und im Westen an Kabul und Kapisa (NPS Laghman o.D.). Die Provinzhauptstadt ist Mehtarlam (UNOCHA Laghman 4.2014; vgl. NPS Laghman o.D., OPr Laghman 1.2.2017). Die Provinz ist in folgende Distrikte unterteilt: Alingar, Alishing, Dawlat Shah, Mehtarlam, Qarghayi, und Bad Pash (auch Bad Pakh) (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Laghman 2019, UNOCHA Laghman 4.2014, NPS Laghman o.D., OPr Laghman 1.2.2017). Bad Pash ist ein temporärer Distrikt (NSIA 1.6.2020).
Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Laghman im Zeitraum 2020/21 auf 493.488 Personen (NSIA 1.6.2020). Die Bevölkerungsmehrheit in der Provinz stellen die Paschtunen (BMC 6.3.2020; vgl. PAJ Laghman o.D., NPS Laghman o.D.), weitere Bewohner gehören tadschikischen und paschaiischen Stämmen an (NPS Laghman o.D.). Die Provinz verfügt über ausreichend Wasser und ein großer Teil der Bewohner lebt von der Landwirtschaft (PAJ 14.7.2020).
Die Fernstraße Kabul-Jalalabad (ein Abschnitt der Asiatischen Fernstraße AH-1) führt durch den Distrikt Qarghayi, (MoPW 16.10.2015; vgl. UNOCHA Laghman 4.2014, PAJ 30.12.2019). Im Jahr 2019 wurden auf dieser Straße in der Provinz Laghman bei Verkehrsunfällen mindestens 45 Personen getötet und ca. 100 Personen verletzt (PAJ 30.12.2019). Es gibt Berichte, dass entlang der Fernstraße Kabul-Jalalabad Aufständische Konvois der Sicherheitskräfte attackieren (TN 7.7.2020). Im Distrikt Qarghayi zweigt eine Asphaltstraße in die Provinzhauptstadt Mehtarlam ab (UNOCHA Laghman 4.2014; vgl. YT 10.8.2019, YT 30.4.2019). Von Mehtarlam führt eine Straße weiter nach Nurgeram in Nuristan (UNOCHA Laghman 4.2014).
Hintergrundinformationen zu Konflikt und Akteuren
Die Taliban sind in Laghman aktiv (NYT 23.11.2020; vgl. Express 5.10.2020). Laghman galt, gemeinsam mit anderen Provinzen, als eine der Hochburgen des ISKP (AJ 10.6.2019; vgl. UNSC 1.2.2019). Der ISKP wurde nach Kämpfen mit den Taliban aus dem Osten der Provinz vertrieben (LI 22.1.2020) und er wurde nach den Militärschlägen im Winter 2019/Frühling 2020 für offiziell besiegt erklärt (taz 3.8.2020). Im März 2020 hat sich der ISKP in der Provinz Laghman ergeben, nachdem er von Regierungstruppen und den Taliban eingekesselt wurde (ST 23.3.2020). Dennoch gibt es weiterhin Berichte über eine Präsenz des ISKP in Laghman (Belliard 21.11.2020). Auch die pakistanische Terrorgruppe Lashkar-e Taiba (LeT) hat eine kleine Präsenz in Laghman (EFSAS 10.4.2020). Nach Schätzungen des Long War Journal befindet sich der Distrikt Dawlat Shah mit Stand Mai 2021 unter Talibankontrolle, während die anderen Distrikte umkämpft sind (LWJ o.D.).
Auf Regierungsseite befindet sich Laghman im Verantwortungsbereich des 201. Afghan National Army (ANA) Corps, das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - East (TAAC-E) untersteht, welche von US-amerikanischen und polnischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung
Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 267 zivile Opfer (62 Tote und 205 Verletzte) in der Provinz Laghman. Dies entspricht einem Rückgang von 5% gegenüber 2019. Die Hauptursachen für Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Selbstmordangriffen (UNAMA 2.2021a). Laghman hat einen hohen Wert bezüglich ziviler Opfer im Verhältnis zur Bevölkerung (LIFOS 7.4.2020).
Im August 2020 wird von vermehrten Beschwerden über Unsicherheit aus der Bevölkerung berichtet. Der Provinzgouverneur veröffentlichte auch eine Warnung vor illegalen Bewaffneten in der Hauptstadt Mehtarlam. Zur Verbesserung der Sicherheitslage sollten zwei Militärbataillone wieder nach Laghman zurückkehren (PAJ 16.8.2020). Im Oktober 2020 kamen bei einem Sprengstoffanschlag auf den Provinzgouverneur acht Menschen ums Leben, der Gouverneur blieb unverletzt (Express 5.10.2020; vgl. GW 5.10.2020). Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah (LWJ 20.5.2021; vgl. PAJ 20.5.2021, TN 20.5.2021).
In der Provinz werden Sicherheitsoperationen (KN 21.10.2020; GW 5.10.2020; CGVSRA 12.3.2020) und Luftschläge durch afghanische Sicherheitskräfte durchgeführt (BNA 26.4.2021; PAJ 7.9.2020; XI 24.12.2019). Angriffe durch Aufständische auf Sicherheitskräfte oder Behördenvertreter finden statt (DW 28.9.2020; TN 11.5.2020; GW 2.5.2020).
1.5.4. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019).
Für die meisten zivilen Opfer im Jahr 2020 waren weiterhin regierungsfeindliche Elemente verantwortlich, 62% wurden ihnen zugeschrieben. Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 schrieb UNAMA 5.459 zivile Opfer (1.885 Tote und 3.574 Verletzte) regierungsfeindlichen Elementen zu. Dies bedeutete einen Gesamtrückgang um 15% im Vergleich zu 2019. Die Zahl der von regierungsfeindlichen Elementen getöteten Zivilisten stieg jedoch um 13% (UNAMA 2.2021a)
1.5.5.Taliban
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020).
Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als "Islamisches Emirat Afghanistan", der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (BBC 15.4.2021).
1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 11.06.2021
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Afghanistan wurde 2017 erstmals zum Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen für den Zeitraum 1.1.2018 - 31.12.2020 gewählt (AA 16.7.2020). Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage. Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog (AA 16.7.2020; vgl. CoA 26.1.2004). Darüber hinaus hat Afghanistan die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge - zum Teil mit Vorbehalten - unterzeichnet und/oder ratifiziert. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (AA 16.7.2020).
Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein (USDOS 30.3.2021). In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt (FH 4.3.2020). Die Regierung versäumt es weiterhin, hochrangige Beamte strafrechtlich zu verfolgen, die für sexuelle Übergriffe, Folter und die Tötung von Zivilisten verantwortlich sind (HRW 13.1.2021). Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, die glaubwürdige Beschwerden überprüft und an die Generalstaatsanwaltschaft zur weiteren Untersuchung und Strafverfolgung weiterleitet. Innerhalb der Wolesi Jirga beschäftigen sich drei Arbeitsgruppen mit Menschenrechtsverletzungen: der Ausschuss für Geschlechterfragen, Zivilgesellschaft und Menschenrechte; das Komitee für Drogenbekämpfung, Rauschmittel und ethischen Missbrauch sowie der Justiz-, Verwaltungsreform- und Antikorruptionsausschuss (USDOS 30.3.2021).
Präsident Ghani hat am 12.5.2018 eine Verordnung unterzeichnet, wonach ein unabhängiger Ombudsmann für Angelegenheiten des Präsidenten eingerichtet werden soll (SIGAR 5.2018). AIHRC entwickelte in Kooperation mit den Ministerien für Verteidigung und Inneres ein Ombudsmannprogramm, durch welches Polizeigewalt gemeldet werden kann (USDOD 12.2018; vgl. UNAMA 4.2019). Die Einrichtung dieses Ombudsmannprogramms wurde für 31.12.2018 angekündigt (SIGAR 5.2018), aber bisher noch nicht finanziert und umgesetzt (USDOD 12.2018).
Menschenrechtsverteidiger werden immer wieder sowohl von staatlichen, als auch nicht-staatlichen Akteuren angegriffen; sie werden bedroht, eingeschüchtert, festgenommen und getötet. Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger zu schützen, waren zum einen inadäquat, zum anderen wurden Misshandlungen gegen selbige selten untersucht (AI 30.1.2020). Die weitverbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Straflosigkeit für Amtsträger, die Menschenrechte verletzen, stellen ernsthafte Probleme dar. Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten (USDOS 30.3.2021).
Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Rechenschaftspflicht (UNHRC 21.2.2018). Im Dezember 2018 würdigte UNAMA die Fortschritte Afghanistans auf dem Gebiet der Menschenrechte, insbesondere unter den Herausforderungen des laufenden bewaffneten Konfliktes und der fragilen Sicherheitslage. Die UN arbeitet weiterhin eng mit Afghanistan zusammen, um ein Justizsystem zu schaffen, das die Gesetzesreformen, die Verfassungsrechte der Frauen und die Unterbindung von Gewalt gegen Frauen voll umsetzen kann (UNAMA 10.12.2018).
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt und durch Einvernahme des BF in der mündlichen Verhandlung.
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des BF:
Die Feststellungen zur Identität des BF ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des BF, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, zu seinen Sprachkenntnissen, zu seinem Aufwachsen in Afghanistan, seiner Schulbildung und Berufserfahrung sowie seiner familiären Situation in Afghanistan gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen des BF zu zweifeln.
Die Feststellung zur Sozialisierung des BF nach den afghanischen Gepflogenheiten, ergibt sich daraus, dass er in Afghanistan mit seiner afghanischen Familie aufgewachsen ist, er dort in eine afghanische Schule gegangen ist und nebenbei im Geschäft seines Vaters gearbeitet hat.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen des BF bei der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung sowie auf einer vorgebrachten ärztlichen Bestätigung.
2.2. Zu den Feststellungen betreffend das Fluchtvorbringen:
2.2.1. Der BF begründete seinen Antrag auf internationalen Schutz im Wesentlichen damit, dass sein Vater von den Taliban beschuldigt worden sei, ein Spion zu sein und den Tod eines Taliban-Anführers zu verantworten habe. Da der BF der älteste Sohn des Vaters sei, hätten die Taliban auch ihn entführen wollen, was der einschreitende Dorfvorsitzende jedoch mit Verweis auf das junge Alter des BF verhindern habe können.
Das vom BF im Verfahren erstattete Fluchtvorbringen war jedoch aus mehreren Erwägungen nicht glaubhaft:
Zunächst ist festzuhalten, dass der BF zu keinem Verfahrenszeitpunkt plausibel darlegen konnte, warum sein Vater den Taliban zum Opfer gefallen sein sollte. Der BF gab an, dass die Herkunft seines Vaters aus Khost dafür ausschlaggebend gewesen sei und ihm daher unterstellt worden sei, ein Spion zu sein. Es ist für das erkennende Gericht jedoch kein schlüssiger Zusammenhang zwischen einer etwaigen Spionagetätigkeit des Vaters und dessen Herkunftsprovinz Khost ersichtlich, ein solcher ergibt sich nicht aus den Länderberichten. Der BF verabsäumte es darüber hinaus darzulegen, inwiefern dieser Umstand seinen Vater überhaupt verdächtig machen hätte sollen. Dies umso mehr vor dem Hintergrund, dass die Familie des BF und damit auch sein Vater bereits seit langer Zeit nicht mehr in der Provinz Khost gelebt haben.
Die Angaben zum behaupteten Tod seines Vaters und dessen Angriffsfläche für die Taliban sind aber auch abseits des vom BF angeführten Umstandes der Herkunftsprovinz des Vaters vage. So vermochte dieser nicht weiter darzulegen, weshalb sein Vater Angriffsfläche biete. Insbesondere durch den aufrechten Kontakt mit seinem Onkel, der ihn einerseits vom Tod des Vaters informiert habe, sowie andererseits dem BF eine Anzeigebestätigung zukommen habe lassen, hätte der zum Zeitpunkt des behaupteten fluchtauslösenden Ereignisses noch minderjährige BF Informationen hinsichtlich der genaueren Umstände erhalten können. Es ist nicht nachvollziehbar, warum der BF keine schlüssige Erklärung für die behauptete Ermordung seines Vaters hat. Ein Motiv, dass auf eine Beschuldigung des Vaters des BF schließen lässt, ist nicht ersichtlich.
Darüber hinaus ist das Vorbringen des BF zur vorgelegten Anzeigebestätigung (vgl. Verhandlungsprotokoll Seite 10 ff.) aus mehreren Erwägungen nicht nachvollziehbar: Einerseits ist auffallend, dass die Anzeigebestätigung – ebenso wie das Fluchtvorbringen des BF in der Einvernahme sowie in der mündlichen Verhandlung – damit eingeleitet wird, dass der Vater des BF in Kabul gewesen sei, um Schulden bei einem Kunden einzutreiben. Als er zurückgekehrt sei, habe gerade eine kriegerische Auseinandersetzung stattgefunden, im Zuge derer ein Taliban-Anführer getötet worden sei. Es ist festzuhalten, dass sowohl das Vorbringen des BF als auch die Anzeigebestätigung mit der Tatsache, dass der Vater in Kabul gewesen sei, eingeleitet werden, obwohl dieser Umstand keine Verbindung zu dem anschließenden Vorfall aufweist. Auch konnte der BF befragt zum Umstand, warum er die vorgelegte Anzeigebestätigung erst neun Monate vor der mündlichen Verhandlung erhalten habe, keine plausiblen Angaben machen. Er gab hierzu lediglich an, dass man (seine Familie) ihn habe verschonen wollen, er habe bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, dass ein Vater bereits gestorben sei. Zudem lässt sich aus der dem BVwG in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Anzeigebestätigung nicht der Tod des Vaters des BF ableiten, es wird lediglich auf die Fahrt des Vaters des BF nach Kabul und dessen Beziehung zu einem Schuldner verwiesen. Anzumerken ist zudem, dass die vorliegende Anzeigebestätigung in Handschrift ausgeführt ist, auch dieser Umstand lässt - im Zusammenhang mit den unglaubhaften Angaben des BF - erhebliche Zweifel an der Echtheit des vorgelegten Dokuments bestehen.
Die Aussagen des BF bezüglich des Zeitpunktes, in welchem er von dem Tod seines Vaters erfahren habe, sind darüber hinaus widersprüchlich. Einerseits sagte der BF, dass ihm sein Onkel „ca. eineinhalb Jahr[e] nach dem Ereignis“ (vgl. Verhandlungsprotokoll Seite 11) vom Tod seines Vaters erzählt habe. Geht man von dieser Angabe aus, wäre das im Frühjahr 2017 gewesen, da der BF im Dezember 2015 nach Österreich kam und Afghanistan laut seinen Angaben zirka 40 Tage davor verlassen habe. Dafür spricht auch seine Aussage im Zuge der Einvernahme vor dem BFA, in welcher er angab, dass sein Vater bereits verstorben sei (vgl. AS 115). Andererseits gab der BF in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG an, dass er erst durch die Anzeigeübermittlung vom Tod seines Vaters erfahren habe. Diese hat er jedoch erst neun Monate vor der mündlichen Verhandlung erhalten, also Anfang 2019, da die mündliche Verhandlung am 16.10.2019 stattfand. Zwischen den genannten Zeitpunkten liegen zwei Jahre. Die Aussagen des BF betreffend der Kenntniserlangung vom Tod seines Vaters sind daher klar widersprüchlich.
Auch sind die Ausführungen des BF betreffend die Ausreise seiner Familie nach Teheran widersprüchlich. So gab dieser in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG (VP S. 11) an, dass seine Familie zirka eineinhalb Jahre nach dem fluchtauslösenden Ereignis in den Iran verzogen sei. Das wäre bereits im Frühjahr 2017 gewesen. In den Einvernahmen vor dem BFA am 05.03.2018 und am 21.01.2019 erwähnte der BF jedoch zu keinem Zeitpunkt, dass seine Familie nicht mehr in Afghanistan aufhältig sei. In der ergänzenden Einvernahme vor dem BFA gab er überdies an, dass sich sein Onkel mütterlicherseits um den Lebensmittelladen kümmere und sich seine Familie durch diesen Laden sowie ein Grundstück, auf dem Weizen angebaut werde, finanzieren könne. In der Stellungnahme vom 01.02.2019 (beim BFA eingelangt am 13.02.2019) gab der BF überdies an, dass sich seine Familie noch in Laghman aufhalte, er aber keine Unterstützung von dieser erwarten könne. Es ist daher nicht glaubhaft, dass seine Familie tatsächlich in den Iran nach Teheran verzogen ist.
Zusammenfassend ist im Ergebnis festzuhalten, dass der BF eine gegen ihn gerichtete Bedrohung durch die Taliban nicht glaubhaft vorbringen konnte. Einerseits waren seine Angaben zum Tod des Vaters und seine Kenntniserlangung von diesem Umstand vage und widersprüchlich. Er vermochte es zu keinem Verfahrenszeitpunkt konkrete Angaben hierzu zu machen, er konnte nicht nachvollziehbar erklären, weshalb die behauptete Entführung und Ermordung seines Vaters durch die Taliban der Wirklichkeit entsprechen sollte, auch konnte er nicht glaubhaft dartun, weshalb sein Vater für die Taliban von Interesse gewesen sein sollte. Zudem waren die Angaben des BF, erst in Österreich vom Tod seines Vaters erfahren zu haben, nicht nur widersprüchlich, sondern auch nicht mit der allgemeinen Lebenserfahrung vereinbar. Es ist nicht plausibel, dass die Familie des BF diesem nichts vom Schicksal seines Vaters erzählt, ist dieses doch der Substantiierung seines Fluchtvorbringens dienlich. Auch ist es nicht plausibel, dass der BF erst im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG im Oktober 2019 einen „Anzeigebericht“ beibringt, der überdies keine Informationen zum Tod des Vaters enthält.
Es ist festzuhalten, dass der BF in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG auch keinen persönlich glaubwürdigen Eindruck hinterlassen konnte, wo er die Widersprüche des vorgebrachten Gedankenkonstruktes nicht aufzulösen vermochte.
2.2.2. Für eine mittlerweile eingetretene „Verwestlichung“ gibt es keine nachhaltigen Argumente. Der BF machte weder einen Abfall vom islamischen Glauben geltend, noch sprechen seine Lebensumstände dafür, dass er sich mittlerweile so sehr an die westliche Kultur angepasst hätte, dass ihm in Afghanistan deswegen Verfolgung drohen würde.
2.2.3. Es ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass dem BF aufgrund einer Asylantragstellung oder aufgrund seines Auslandsaufenthaltes Repressalien von erheblicher Intensität drohen.
2.2.4. Der BF hat nicht vorgebracht, in seinem Herkunftsstaat jemals inhaftiert worden zu sein oder mit den Behörden seines Herkunftsstaates aufgrund seiner Rasse, Nationalität, seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder sonstiger Gründe irgendwelche Probleme gehabt zu haben. Er war nie politisch tätig und gehörte keiner politischen Partei an.
2.3. Zu den Feststellungen zum (Privat)Leben des BF in Österreich
Dass sich der BF zumindest seit Dezember 2015 in Österreich aufhält, ergibt sich aus dem Akteninhalt, wonach er am 08.12.2015 nach illegaler, unrechtmäßiger Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Bezüglich seiner Deutschkenntnisse sowie der Teilnahme an verschiedenen Deutsch- und Integrationskursen legte er Bestätigungen vor. Ebenfalls legte der BF einen mit der Erteilung einer Arbeitserlaubnis bedingten Arbeitsvertrag vor. Die Feststellung betreffend die Mitgliedschaft des BF in einem Fußballverein gründet sich auf die diesbezüglich glaubhaften Aussagen des BF.
Die Tatsache, dass der BF Leistungen aus der Grundversorgung bezieht, ergibt sich aus einer aktuellen Abfrage des Betreuungsinformationssystems Grundversorgung.
Der gute Kontakt zu seinem in Wien lebenden Cousin ergibt sich aus seinen glaubhaften Aussagen vor Gericht.
Seine strafgerichtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus einem aktuellen Auszug aus dem Strafregister.
2.4. Zu den Feststellungen zu einer möglichen Rückkehr des BF nach Afghanistan:
2.4.1. Die Feststellungen hinsichtlich der Unmöglichkeit der Rückkehr des BF in seine Herkunftsprovinz Laghman ergeben sich aus den vorliegenden Länderberichten aus welchen hervorgeht, dass die Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz des BF zum Entscheidungszeitpunkt volatil ist.
2.4.2. Die Feststellungen hinsichtlich der Unmöglichkeit der Rückkehr in andere Landesteile ergeben sich aus den aktuellen Länderberichten der Staatendokumentation.
Die Feststellung zum innerstaatlichen bewaffneten Konflikt im Herkunftsstaat lässt sich im Wesentlichen dem Länderinformationsblatt entnehmen, insbesondere den Kapiteln Politische Lage und Sicherheitslage und findet auch Bestätigung in den UNHCR-Richtlinien. Die Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen und die nunmehrige Machtübernahme der Taliban über das ganze Staatsgebiet Afghanistans ergibt sich insbesondere aus den von der Staatendokumentation bereitgestellten sowie den aktuellen sicherheitsrelevanten Entwicklungen. Die Feststellung, wonach die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR ist, lässt sich der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 02.08.2021 zur Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan entnehmen. Die Feststellungen zur Sicherheitslage in den Großstädten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif beruhen im Wesentlichen auf dem Länderinformationsblatt, Kapitel Sicherheitslage und aktuellen in- und ausländischen Medienberichten, denen zu Folge diese – neben vielen anderen Städten – bereits unter der Kontrolle der Taliban stehen und insofern dem BF im Fall einer Niederlassung in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif die Gefahr droht, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden. Letztlich wurde diese Einschätzung der Lage auch durch die jüngste KI vom 03.08.2021 zum Länderinformationsblatt bzw. die UNHCR POSITION ON RETURNS TO AFGHANISTAN von August 2021 bestätigt.
Insgesamt steht dem BF damit aufgrund der prekären Sicherheitslage und des innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes keine innerstaatliche Schutzalternative in Afghanistan offen.. Die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer ist in Afghanistan derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche (KI vom 19.07.2021). Die Lage stellt sich in ganz Afghanistan als prekär dar. Vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen kann das erkennende Gericht nicht mit der notwendigen Sicherheit ausschließen, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan landesweit dem realen Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bis hin zu erheblichen Eingriffen in seine psychische oder physische Unversehrtheit ausgesetzt sein wird.
2.5. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell, insbesondere sind die aktuellen sicherheitsrelevanten Entwicklungen unter Punkt II.1.5. angeführt sodass auf die sich dynamisch verändernde Sicherheits- und Menschenrechtslage in Afghanistan möglichst zeitnah eingegangen werden kann.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides - Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten
3.1.1. § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
"Status des Asylberechtigten
(1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesond