TE Vwgh Erkenntnis 1996/10/24 95/20/0574

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Veröffentlicht am 24.10.1996
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 1991 §1 Z1;
AsylG 1991 §20 Abs1;
AsylG 1991 §20 Abs2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Händschke, Dr. Baur, Dr. Bachler und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hemetsberger, über die Beschwerde der S in G, vertreten durch Dr. W, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 7. August 1995, Zl. 4.344.185/18-III/13/95, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin ist türkische Staatsangehörige und reiste am 3. März 1994 in das Bundesgebiet ein. Sie stellte am 9. März 1994 den Antrag, ihr Asyl zu gewähren. Anläßlich ihrer noch am selben Tag erfolgten niederschriftlichen Befragung durch das Bundesasylamt gab sie an:

"Ich habe die Türkei deshalb verlassen, da ich der kurdischen Minderheit angehöre und ich als Angehörige dieser Minderheit laufend belästigt und bedroht wurde. Da ich diesen Zustand nicht mehr ausgehalten habe, erstens von den türk. Behörden und Soldaten beschuldigt zu werden, für die "PKK" zu arbeiten und zweitens von der "PKK" beschuldigt zu werden, für die türk. Regierung zu arbeiten.

Frage: Waren Sie bis zu Ihrer Ausreise konkreten Verfolgungen aus politischen, religiösen, rassischen oder anderen Gründen ausgesetzt?

Antwort: Ich war keinen der vorangeführten Verfolgungen bis zu meiner Ausreise ausgesetzt, lediglich der Umstand, daß ich von der "PKK" aufgefordert wurde, für diese zu arbeiten und ich dies nicht wollte und andererseits von den türk. Behörden laufend beschuldigt wurde, für die "PKK" zu arbeiten, hat mich zur Flucht bewogen.

Frage: Weshalb sind Sie nicht in Istanbul geblieben?

Antwort: Da mein Bruder dies nicht wollte und mir meine Eltern davon abgeraten haben, bin ich nicht in Istanbul geblieben.

Frage: Weshalb sind Sie nicht in Rumänien oder Ungarn geblieben?

Antwort: Daß ich in Rumänien oder Ungarn gewesen, weiß ich

gar nicht.

Frage: Was wollen Sie in Österreich?

Antwort: Was ich in Österreich machen will, kann ich dzt. nicht angeben.

Frage: Waren Sie in der Türkei bis zu Ihrer Ausreise in Haft oder wurden Sie jemals mißhandelt?

Antwort: Nein, ich war bis zu meiner Ausreise niemals in Haft, auch wurde ich niemals mißhandelt.

Frage: Haben Sie noch weitere Fluchtgründe vorzubringen?

Antwort: Nein, die vorangeführten Gründe sind die meiner Flucht."

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom selben Tag (9. März 1994) wurde der Asylantrag der Beschwerdeführerin im wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, sie habe asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft machen können.

In der gegen diesen Bescheid gerichteten Berufung rügte die - nunmehr vertretene - Beschwerdeführerin eine offenkundige Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz und erstattete ein umfangreiches Sachvorbringen über von ihr selbst erlittene Folter und Mißhandlungen unter dem Beifügen, sie leide seither u. a. an chronischen starken Kopf- und Rückenschmerzen sowie an Schlaflosigkeit, ihre Erinnerungen seien zeitweise "wie ausgelöscht". Nur kurz vor dem Einschlafen erlebe sie die Ereignisse von neuem. Es falle ihr nunmehr leichter, die erlittenen Mißhandlungen schriftlich mitzuteilen. Sie leide an "typischen posttraumatischen Symptomen", wie man sie auch von anderen Opfern von Gewalt und Folter kenne. Zum Beweis dafür verwies sie auf ein einzuholendes medizinisches bzw. psychologisches Gutachten eines Spezialisten für Folteropfer sowie auf eine näher bezeichnete UNHCR-Publikation. In einer Berufungsergänzung vom 27. März 1994 verwies die Beschwerdeführerin auf die allgemeine Verfolgungssituation der Kurden in der Türkei unter Anschluß diverser Zeitungsartikel samt Übersetzung sowie Kopie einer Stellungnahme des UNHCR zum Verfolgungsschutz für nichteuropäische Flüchtlinge in Ungarn vom 25. März 1994.

Mit Bescheid vom 6. April 1994 wies die belangte Behörde diese Berufung gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab. Sie begründete dies lediglich mit dem Vorliegen des Asylausschließungsgrundes des § 2 Abs. 2 Z. 3 AsylG 1991, weil die Beschwerdeführerin bereits in Bulgarien, Griechenland oder der russischen Föderation Verfolgungssicherheit erlangt habe.

Auf Grund der gegen diesen Bescheid gerichteten Verfassungsgerichtshofbeschwerde hob der Verfassungsgerichtshof mit seinem Erkenntnis vom 14. Dezember 1994, B 836/94-16, den bekämpften Bescheid der belangten Behörde auf, sodaß das Berufungsverfahren wiederum bei der belangten Behörde anhängig wurde.

Mit Manuduktionsschreiben vom 12. April 1995 ermöglichte die belangte Behörde der Beschwerdeführerin im Sinne des aufhebenden Verfassungsgerichtshofserkenntnis nunmehr "einfache" Verfahrensmängel des Verfahrens erster Instanz und sich allenfalls daraus ergebende Änderungen des Sachverhaltes geltend zu machen.

In ihrer daraufhin erstatteten Berufungsergänzung vom 1. Mai 1995 verwies die Beschwerdeführerin zunächst ausdrücklich auf ihr Vorbringen in der Berufung und der Berufungsergänzung vom März 1994, bekräftigte insbesondere ihre Angaben über ihren Gesundheitszustand anläßlich ihrer Erstvernehmung und schloß dem einen "klinischen Befundbericht" der Universitätsklinik für Psychiatrie des Allgemeinen Krankenhauses in Wien vom 30. März 1994 an, dem folgendes zu entnehmen ist:

"Psychopathologischer Status:

Es handelt sich um eine achtzehnjährige Patientin, die deutlich vorgealtert ist. Die Patientin ist bewußtseinsklar, allerseits orientiert, der ductus ist verlangsamt, die Sprache ist leise, wenig Modulation, wenig Mimik. Das Denkziel wird meistens erreicht. Die Patientin hat deutliche Schwierigkeiten, genaue zeitliche Angaben zu machen und das Geschehene in der chronologischen Reihenfolge zu schildern. Sie leidet an "flash backs", hat in der Nacht massiv Alpträume, wo sie wiederholt die Szene des Nacktseins wieder in Erinnerung hat. Sie leidet unter massiven Schlafstörungen bei einer Schlafdauer von ein bis zwei Stunden mit wiederholten Unterbrechungen, nächtlichen Schweißausbrüchen, Erstickungsanfällen, Angstanfällen und amnestischen Episoden. Die Stimmung ist depressiv, der Antrieb reduziert, im Affekt korrespondierend, die Befindlichkeit negativ getönt. Die Patientin äußert auch Selbstmordgedanken und klagt über ständig stechend-pochende Kopfschmerzen.

Diagnose:

    Posttraumatische Belastungsstörung (........)

    Generalisierte Angststörung (........)

    Zusammenfassung:

Die Patientin leidet an allen Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung, inklusive "flash backs", die zum Teil durch laute Schritte am Gang des Gefangenenhauses (Anmerkung: Die Beschwerdeführerin befand sich im Zeitpunkt der Untersuchung in Schubhaft) oder Geräusche vom Schlüsselbund ausgelöst werden.

Die Kopfschmerzen könnten auch eine Folge der Kontusionen, die sie wiederholt erlitt, sein.

Die Patientin leidet an einer dissoziativen Störung, die für Folterüberlebende und Vergewaltigungsopfer typisch ist, und unter auch amnestischen Episoden.

Fragliche epileptische Anfälle müßten durch Vorstellung an der psychiatrischen Ambulanz (u.a. Dr. F) mittels eines EEGs und einer psychiatrischen Begutachtung ausgeschlossen werden.

Aufgrund der Angstanfälle, der wiederholten nächtlichen Alpträume und der chronischen Schlafstörung, sowie der jetzigen Verhaftung und der Angst vor Abschub in die Türkei (was eine erneute Verhaftung mit Mißhandlungen nach sich ziehen würde, was die Situation der Patientin ausweglos erscheinen läßt), muß eine Selbstmordgefährdung der Patientin festgestellt werden; daher ist die Überstellung in ein psychiatrisches Krankenhaus zur Beobachtung und medikamentösen Einstellung und psychotherapeutischer Betreuung der Betroffenen erforderlich.

Die dissoziative Störung und die psychogene Amnesie erklären die widersprüchlichen Angaben der Patientin im Interview während des Verfahrens in erster Instanz. Darüber hinaus ist zu bedenken, daß es im Kulturkreis der Patientin nicht üblich ist, über erlittenen sexuellen Mißbrauch und Demütigung zu sprechen."

Im übrigen erachtete der Gutachter die Beschwerdeführerin als nicht haftfähig.

Mit dem nunmehr angefochtenen (Ersatz-)Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung der Beschwerdeführerin (neuerlich) gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab. Sie erachtete keinen der Fälle des § 20 Abs. 2 AsylG 1991 als gegeben und gelangte - ausgehend von den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens erster Instanz im Sinne des § 20 Abs. 1 leg. cit. - zu dem Ergebnis, die Beschwerdeführerin habe keine sie selbst betreffende Verfolgung aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe glaubhaft machen können. Zu dem zuvor wörtlich wiedergegebenen Befundbericht führte die belangte Behörde aus, dieser sei als "Bescheinigungsmittel" im Sinn des § 20 Abs. 2 AsylG 1991 untauglich, da er Vorgänge bescheinigen solle, die die Beschwerdeführerin im Verfahren erster Instanz gar nicht vorgebracht habe. Die behaupteten Mißhandlungen bzw. der darin relevierte Sachverhalt, der den Zeitraum vor der Ausreise aus der Türkei betreffe, sei ja schon im Verfahren erster Instanz bekannt gewesen. Somit sei auch kein neuer Sachverhalt zutage gekommen, der ihr erst nach der Entscheidung der Behörde erster Instanz zur Kenntnis gelangt sei. Im übrigen hielt die belangte Behörde der Beschwerdeführerin auch das Vorliegen einer "inländischen Fluchtalternative" entgegen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungerichtshof erwogen hat:

Zutreffend rügt die Beschwerdeführerin eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens, die darin gelegen sei, daß die belangte Behörde das von ihr im Berufungsverfahren vorgelegte Gutachten (gemeint: den "Befundbericht" vom 30. März 1994) nicht bei Beurteilung des Vorliegens von Ermittlungsfehlern im Verfahren erster Instanz berücksichtigt habe. In diesem Zusammenhang fällt auf, daß die belangte Behörde inhaltlich lediglich auf jenen Teil des "Befundberichtes" Bezug nimmt, der sich aus den anamnestischen Angaben der Beschwerdeführerin bei der Befundaufnahme ergibt, mit keinem Wort jedoch auf das Ergebnis der medizinischen Begutachtung, nämlich die festgestellten psychischen Störungen der Beschwerdeführerin, eingegangen ist, obwohl sich daraus bereits eine Unvollkommenheit der niederschriftlichen Angaben der Beschwerdeführerin ergeben hätte können. Daß die Urkunde selbst im Verfahren erster Instanz noch nicht zur Verfügung stand, geht bereits aus dem Datum ihrer Erstellung hervor. Auch wenn man der Ansicht der belangten Behörde folgte, das von der Beschwerdeführerin in der Berufung vorgelegte medizinische Gutachten sei kein "Bescheinigungsmittel" im Sinne des zweiten Falles des § 20 Abs. 2 AsylG 1991, nämlich zur Dartuung erstatteten Sachvorbringens, ist damit noch nicht gesagt, daß nicht die Vorlage von Bescheinigungsmitteln auch zur Dartuung einer Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz im Sinne des ersten Falles des Abs. 2 des § 20 leg. cit. zulässig ist. Dies trifft hier zu, da die Vorlage des "Befundberichtes" vom 30. März 1994 lediglich der Dartuung der von der Beschwerdeführerin in der Berufung behaupteten Unvollständigkeit ihrer Einvernahme aufgrund einer - durch das vorgelegte Gutachten bescheinigten - gänzlichen oder teilweisen Vernehmungsunfähigkeit diente. Es konnte daher inhaltlich auch noch nicht erschöpfend beurteilt werden, ob die Beschwerdeführerin geeignete Fluchtgründe nicht hätte glaubhaft machen können.

Indem die belangte Behörde dies verkennend die aufgezeigte Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens erster Instanz im Sinne des § 20 Abs. 2 AsylG 1991 nicht aufgriff, belastete sie den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG aufzuheben war.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung

BGBl. Nr. 416/1994.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1996:1995200574.X00

Im RIS seit

20.11.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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