TE OGH 2021/10/21 2Ob31/21d

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Veröffentlicht am 21.10.2021
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé, den Hofrat Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei D***** W*****, vertreten durch die gerichtliche Erwachsenenvertreterin M***** W*****, vertreten durch Dr. Fritz Vierthaler, Rechtsanwalt in Gmunden, gegen die beklagte Partei G*****, vertreten durch Dr. Peter Lindinger und Dr. Andreas Pramer, Rechtsanwälte in Linz, wegen 362.473,82 EUR sA, über den Rekurs der klagenden Partei (Rekursinteresse 353.070,90 EUR) gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 19. November 2020, GZ 3 R 116/20d-48, womit das Urteil des Landesgerichts Wels vom 24. Juli 2020, GZ 26 Cg 109/18k-44, teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss

wird aufgehoben und es

wird in der Sache selbst zu Recht erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts im angefochtenen Umfang einschließlich der Kostenentscheidung

wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 22.471,48 EUR (darin enthalten 1.217,95 EUR USt und 15.177 EUR Pauschalgebühr) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1]       Der Kläger wurde am 3. 9. 2003 bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt. Die Beklagte haftet als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners dem Kläger für sämtliche Schäden und Folgen aus diesem Unfall zu drei Vierteln, beschränkt mit der Haftpflichtversicherungssumme.

[2]       Auf die denselben Unfall und dieselben Parteien betreffende Vorentscheidung des Senats vom 16. 5. 2017, 2 Ob 110/16i, wird verwiesen. Das dieser Entscheidung zugrunde gelegene Verfahren, das ua den Ersatz von Pflegekosten bis zum Ende des Jahres 2011 zum Gegenstand hatte, ist mittlerweile rechtskräftig erledigt.

[3]       Der 1984 geborene Kläger erlitt bei dem Unfall schwere Schädelverletzungen. Er wird seit 2004 von seinen Eltern betreut. Seit 2006 ist er jede Woche von Montag bis Mittwoch von 8:30 Uhr bis 16:00 Uhr und am Donnerstag von 8:30 Uhr bis 13:00 Uhr in einer Pflegeeinrichtung untergebracht. Er wird an diesen Tagen um 8:00 Uhr mit dem Taxi von zu Hause abgeholt und auch wieder nach Hause gebracht. Bis Anfang 2010 war die Anwesenheit einer Betreuungsperson im Ausmaß von 24 Stunden pro Tag erforderlich. Seit Mitte des Jahres 2015 befindet sich der Kläger in der Pflegeeinrichtung in einer 1 : 1-Betreuung. Der konkrete Pflegebedarf liegt bei etwa sechs bis sieben Stunden pro Tag. In der Zeit, in der er sich nicht in der Pflegeeinrichtung befindet, wird die Pflege des Klägers von seinen Eltern geleistet.

[4]       Der Kläger war vor dem Unfall bereits aus der elterlichen Wohnung ausgezogen, in die er nach dem Unfall wieder aufgenommen wurde. Diese Wohnung entsprach jedoch nicht den Anforderungen einer behindertengerechten Betreuung. Der Kläger und seine Mutter erwarben daraufhin ein zweigeschossiges Haus, um diese Betreuung zu gewährleisten und Konflikte mit Anrainern und Nachbarn (aufgrund des durch den Kläger verursachten Lärmpegels) zu vermeiden. Im Erdgeschoß des Hauses befindet sich die Wohnung des Klägers, im Obergeschoß jene der Eltern.

[5]       Der Kläger kann sich inzwischen frei bewegen, ist aber nach wie vor sturzgefährdet und bereits öfter gestürzt. Sein epileptisches Anfallsleiden ist medikamentös eingestellt. Beim Kläger bestehen Verhaltensauffälligkeiten mit Aggressionsdurchbrüchen und eine Unfähigkeit zur eigenen Impulskontrolle. Er ist oft aus unerfindlichen Gründen gereizt und misslaunig und reagiert impulsiv. Aufgrund des Krankheitsbildes ist es prinzipiell möglich, dass Aggressionshandlungen vorkommen.

[6]            Der Kläger kann eingeschränkt lesen, sich aber nicht für einen länger währenden Zeitraum konzentrieren. Er kann sich nicht allein beschäftigen. Man kann ihn nicht einfach vor den Fernseher setzen; er würde dann ständig die Programme wechseln. Er ist nicht in der Lage, sich eine Sendung (länger) anzusehen. Er fordert Beziehung ein (Lesen, Spielen). Er kann in Begleitung spazieren gehen und einfache sportliche Übungen ausführen, was er auch ab und zu gemeinsam mit seinem Vater und einmal wöchentlich in der Pflegeeinrichtung tut.

[7]            Der Kläger kann sich nicht deutlich ausdrücken. Seine Sprache ist verwaschen und schwer verständlich. Er ist weitgehend orientiert, allerdings mit höhergradigen Einschränkungen der Gedächtnis- und Merkfähigkeit. Sein verbales Arbeitsgedächtnis ist sehr stark beeinträchtigt. Die verschiedenen Teilkomponenten der Aufmerksamkeit wie psychomotorische Geschwindigkeit, Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, selektive Aufmerksamkeit und geteilte Aufmerksamkeit sind ebenfalls sehr stark beeinträchtigt. Bei den exekutiven Funktionen manifestiert sich eine schwere Beeinträchtigung beim Planen und vorausschauenden Denken.

[8]            Der Kläger hat zudem einen vermehrten Harndrang. Dies äußert sich auch nachts, weshalb er, wenn er nicht durchschläft, häufig Unterstützung beim Toilettengang benötigt und die Aufsicht einer Betreuungsperson nachts generell erforderlich ist, um rasche Hilfestellungen zu gewährleisten. Bereits untertags muss er von den Pflegepersonen beim Trinken beaufsichtigt werden, da er ohne außenstehende Kontrolle immer weiter trinken würde. Diese Beaufsichtigung und vor allem Anleitungen durch Betreuungspersonen sind auch beim An- und Auskleiden, bei Toilettengängen, beim Essen sowie beim Musizieren oder Basteln erforderlich. Er isst selbständig und neigt dazu, hastig zu essen. Es ist notwendig, ihn bei den Mahlzeiten zu betreuen. Es besteht sonst das Risiko, dass er sich verschluckt.

[9]       Mobilitätshilfe im engeren Sinn ist fallweise nötig, zB dann, wenn der Kläger körperlich geschwächt ist, während der Nachtstunden oder nach einem epileptischen Anfall. Mobilitätshilfe im weiteren Sinn benötigt er für alle Bewegungen außerhalb des Hauses. Er verlässt das Haus nie ohne Begleitperson. Sein Betreuungs- und Pflegebedarf besteht für die tägliche Körperpflege, für die Ganzkörperpflege, die Verrichtung der Notdurft und Reinigung nach dem Stuhlgang, das An- und Auskleiden, die Zubereitung von Mahlzeiten, für die Einnahme der Mahlzeiten, für die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, für die Pflege der Leib- und Bettwäsche, Beheizung des Wohnraums einschließlich Herbeischaffung des Heizmaterials, für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Bedarfsgütern des täglichen Lebens und für die Einnahme der Medikamente. Ein Einsatz von technischen Hilfsmitteln ist aufgrund des Mangels an Handlungsplanung, die zur Verwendung solcher Mittel notwendig ist, nicht möglich und steigert das Risiko des Klägers für Selbstverletzungen oder Verursachungen von Schäden.

[10]     Eine Rufbereitschaft ist für die Betreuung des Klägers nicht ausreichend. Vielmehr ist die Anwesenheit einer Pflegeperson im Nahebereich des Klägers erforderlich, um Hilfestellungen leisten zu können. Er ist aufgrund seiner eingeschränkten Selbstkritik nicht in der Lage, selbst Problemstellungen und Defizite wahrzunehmen und selbständig Hilfe einzufordern. Es ist eine vorausschauende und nachgehende Betreuung erforderlich. Der in der Pflegeeinrichtung angewandte Betreuungsschlüssel ist auch auf die häusliche bzw familiäre Versorgung des Klägers umzulegen. Pflegeerleichternd ist der standardisierte und routinierte Lebensalltag des Klägers, der ihm Sicherheit vermittelt und eine gewisse Abschätzbarkeit seines Verhaltens ermöglicht.

[11]           Der Kläger begehrt von der Beklagten die Zahlung von 355.543,82 EUR an Pflegekosten für die Jahre 2012 bis 2017 sowie von 6.930 EUR an diversen sonstigen Spesen und Kosten. Er bedürfe 24 Stunden täglich der Pflege und Beaufsichtigung und es müsse auch während der Nachtstunden eine ständige Bereitschaft einer pflegenden Person für unvorhersehbar auftretende Betreuungs-notwendigkeiten gegeben sein. Er befinde sich jährlich 7.228 Stunden in elterlicher Pflege und Beaufsichtigung. Dies entspreche bei dem unstrittigen Stundenlohn von 14,37 EUR einem Jahrespflegeaufwand von 103.866,36 EUR und demgemäß für sechs Jahre von 623.198,16 EUR. Unter Berücksichtigung seines Mitverschuldens von einem Viertel ergebe sich ein von der Beklagten zu tragender Pflegeaufwand von 437.398,62 EUR. Nach Abzug des in den Jahren 2012 bis 2017 bezogenen Pflegegeldes von 87.004,80 EUR und einer von der Beklagten geleisteten Akontozahlung von 24.850 EUR verbleibe ein offener Pflegekostenanspruch von 355.543,82 EUR.

[12]     Die Beklagte wandte ein, der tatsächliche Pflegebedarf des Klägers betrage täglich fünf bis sieben Stunden, sodass sich unter Berücksichtigung der in der Betreuungseinrichtung erbrachten Betreuungsleistungen von wöchentlich 31 Stunden eine im Familienverband zu erbringende Pflegeleistung von maximal 30 Stunden pro Woche bzw 1.600 Stunden pro Jahr ergebe. Beim Stundensatz von 14,37 EUR errechne sich ein Pflegeaufwand von rund 23.000 EUR pro Jahr bzw 138.000 EUR für sechs Jahre. Unter Berücksichtigung des Mitverschuldens von einem Viertel bestehe ein Ersatzanspruch von 103.500 EUR, sodass der nach Abzug des Pflegegeldes von 87.004,80 EUR verbliebene Direktanspruch von 16.495,20 EUR durch die geleistete Akontozahlung jedenfalls abgedeckt sei.

[13]     Das Erstgericht gab der Klage im Betrag von 358.243,82 EUR sA statt und wies das Mehrbegehren von 4.230 EUR (dies unbekämpft) ab. Es traf die wiedergegebenen Feststellungen und führte in rechtlicher Hinsicht aus, die vom Kläger geltend gemachten Betreuungskosten seien berechtigt, weil der Kläger einer ständigen Pflege bzw Betreuung bedürfe. Neben dem konkreten Pflegebedarf von sechs bis sieben Stunden täglich müsse eine ständige Betreuungsmöglichkeit bzw mögliche Hilfestellung durch Betreuungspersonen gegeben sein. Ohne den Unfall würde der Kläger nicht mehr in der elterlichen Wohnung wohnen. Da der Kläger bei sämtlichen Handlungen zumindest beaufsichtigt werden müsse und auch bei einfachen Tätigkeiten einer Anleitung bedürfe, sei der in der Betreuungseinrichtung für notwendig erachtete und angewandte Betreuungsschlüssel von 1 : 1 auch für die Zeit anzuwenden, in der er sich in seiner Haushälfte befinde. Dies gelte tagsüber wie auch für die Nachtstunden aufgrund der nötigen Unterstützung bei den Toilettengängen. Bedingt durch die fehlende Fähigkeit des Klägers, Probleme selbständig zu lösen oder um Hilfe zu bitten, bedürfe es der ständigen Anwesenheit einer Betreuungsperson in seinem Nahebereich. Ohne die Betreuung durch seine Mutter müsste eine bezahlte Pflegekraft für 24 Stunden am Tag eingesetzt werden. Von den sonstigen Spesen und Kosten werde unter Berücksichtigung des Mitverschuldens ein Betrag von 2.700 EUR zuerkannt.

[14]     Das von der Beklagten angerufene Berufungsgericht hob im Umfang der Anfechtung (353.070,90 EUR sA sowie im Kostenpunkt) das Urteil des Erstgerichts auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. Es ließ den Rekurs an den Obersten Gerichtshof zu. Es vertrat die Ansicht, entgegen der Meinung des Erstgerichts führe der Umstand, dass der Kläger ohne den Unfall nicht mehr in der elterlichen Wohnung wohnte, sondern ein eigenständiges Leben führte, nicht dazu, dass Zeiten der „Ohnehin-Anwesenheit“ seiner Eltern in ihrer Wohnung (insbesondere während der Nacht und während der Hausarbeit) dennoch ersatzfähig seien. Dass die Eltern des Klägers aufgrund des Unfalls in ein behindertengerecht adaptiertes Haus übersiedelt seien oder übersiedeln hätten müssen, um die Betreuung des Klägers gewährleisten zu können, ändere nichts daran, dass Zeiten der „Ohnehin-Anwesenheit“ der Eltern des Klägers (insbesondere während der Nacht und während der Hausarbeit) in ihrem (neuen) Haus keinen Schaden darstellten. Von den Zeiten der bloßen Anwesenheit bzw Rufbereitschaft seien daher die Zeiten der „Ohnehin-Anwesenheit“ des pflegenden Angehörigen abzuziehen, um die zu ersetzende Pflege- bzw Anwesenheitszeit zu erhalten. Dies gelte auch dann, wenn sich „die Wohnung“ des Klägers im Erdgeschoß und jene der Eltern im Obergeschoß befinde, lebe doch der Kläger mit seinen Eltern jedenfalls „im selben Wohnverband“. Da Feststellungen zu den Zeiten der „Ohnehin-Anwesenheit“ der Eltern des Klägers fehlten, sei eine abschließende Beurteilung des Anspruchs auf Ersatz der Pflege- und Betreuungskosten nicht möglich, weshalb das Verfahren ergänzungsbedürftig sei.

[15]     Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil eine höchstgerichtliche Judikatur zu der Rechtsfrage der Berücksichtigung von Zeiten der „Ohnehin-Anwesenheit“ betreuender Familienangehöriger bei der Berechnung des Pflegeentgelts, wenn die Pflege und Betreuung in einem nach dem Unfall zur Gewährleistung der Betreuung des Verletzten erworbenen Haus mit zwei gesonderten Wohneinheiten, von denen eine der Verletzte, die andere die betreuenden Familienangehörigen bewohnten, erbracht werde, nicht existiere.

[16]           Gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts richtet sich der Rekurs des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils.

[17]           Die Beklagte beantragt in der Rekursbeantwortung, den Rekurs als unzulässig zurückzuweisen. In eventu möge der Oberste Gerichtshof in der Sache selbst dahingehend entscheiden, dass das Klagebegehren im angefochtenen Umfang abgewiesen werde; hilfsweise möge dem Rekurs nicht Folge gegeben werden.

Rechtliche Beurteilung

[18]           Der Rekurs ist zulässig, weil das Berufungsgericht von oberstgerichtlicher Rechtsprechung abgewichen ist; er ist im Sinn der Wiederherstellung des Urteils des Erstgerichts auch berechtigt.

[19]            Der Rekurswerber macht geltend, die Frage der nicht ersatzfähigen Sowieso-Anwesenheit eines pflegenden Angehörigen stelle sich nicht, weil sich die Betreuung des Klägers zu keiner Zeit auf bloße Anwesenheit und Rufbereitschaft beschränke. Der Kläger sei zum Unfallzeitpunkt bereits volljährig und selbsterhaltungsfähig und aus dem elterlichen Wohnungsverband ausgezogen gewesen. Die Wiederaufnahme in die Wohnung der Eltern sei ausschließlich der unfallskausalen Pflege geschuldet gewesen. Die Eltern würden daher ohne das Schadensereignis nicht beim Kläger wohnen und wären daher nicht „sowieso“ zu Hause oder in der Umgebung des Geschädigten gewesen. Überdies bestünden zwei getrennte Wohneinheiten, nämlich die Wohnung des Klägers und diejenige seiner pflegenden Eltern. Es lägen daher sämtliche vom Höchstgericht geforderten Kriterien für den Ersatz von Angehörigenpflegeleistungen vor. Da diese Pflegeleistungen (abgesehen von der Zeit der externen Betreuung des Klägers) 24 Stunden am Tag erbracht würden, bestehe das Klagebegehren zu Recht.

Hierzu wurde erwogen:

[20]            1. In der eingangs zitierten Vorentscheidung 2 Ob 110/16i, die den Zeitraum bis Ende des Jahres 2011 betraf, hat der Senat Folgendes ausgeführt (ErwGr II.2.2. aE):

„Zu den Zeiten tatsächlicher Pflegeleistungen kommt noch jene Zeit, in der zwar keine konkrete Pflege und Betreuung notwendig ist, aber dennoch eine Betreuungsperson anwesend sein muss, zB im Sinne einer Rufbereitschaft bzw um unvorhersehbar auftretende Betreuungsnotwendigkeiten übernehmen zu können. Auch solche Zeiten müssten bei Fremdpflege grundsätzlich abgegolten werden.

Handelt es sich bei der Betreuungsperson aber um einen im selben Wohnverband lebenden Angehörigen, so sind Zeiten, während derer die Pflegeperson jedenfalls in der selben Wohnung (und daher auch beim Verletzten) anwesend wäre (insbesondere während der Nacht und während der Hausarbeit), nicht zu ersetzen, weil sie keinen konkreten Schaden darstellen (RIS-Justiz RS0022789 [T3]; 2 Ob 49/98i ZVR 1998/128; 2 Ob 338/99s; 2 Ob 99/02a; 2 Ob 24/04z; 2 Ob 176/05d ZVR 2007/124 [Huber]; Veith, Pflege von Verletzten durch Familienangehörige: Ein Überblick über die einschlägige Rechtsprechung des OGH, ZVR 2014, 112 [113]). Damit sind jene Zeiträume gemeint, in denen sich die Pflegeperson in denselben Räumlichkeiten, also beim Verletzten, befindet, aber nicht wegen des Verletzten, sondern aus anderen Gründen, wie eben Hausarbeit oder Nachtruhe, wie jeder andere Benutzer einer Wohnung auch (2 Ob 137/09z = RIS-Justiz RS0022789 [T17]). Insoweit wird also die „reine Anwesenheit/Rufbereitschaft“ nicht abgegolten.“

[21]           Von diesen in ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vertretenen Grundsätzen ausgehend hielt es der Senat damals für geboten, präzise Feststellungen nachzuholen, die eine Beurteilung im Sinne dieser Rechtsprechung ermöglichten.

[22]           2. Der nunmehr festgestellte Sachverhalt ist jedoch anders gelagert als jener, der der Vorentscheidung zugrunde lag. Auch nach den damals relevanten Feststellungen war zwar bis Anfang 2010 die Anwesenheit einer Betreuungsperson über 24 Stunden erforderlich, seither aber nur mehr eine „entsprechende Bereitschaft, nicht unbedingt im selben Raum“. Diese Tatsachengrundlage hat sich mittlerweile aber (wieder) entscheidend geändert. Es steht nämlich fest, dass (auch in den „Indoor-Zeiten“) eine „reine Anwesenheit“ der Pflegeperson im Sinn einer bloßen „Rufbereitschaft“ für die Betreuung des Klägers nicht ausreicht, sondern dass er vielmehr die ständige Anwesenheit der Pflegeperson in seinem Nahebereich für Hilfestellungen benötigt.

[23]           Das vom Kläger und seinen Eltern gemeinsam bewohnte Haus verfügt über zwei Wohneinheiten, von denen eine (im Erdgeschoß) der Kläger und die andere (im Obergeschoß) seine Eltern bewohnen. Die Feststellungen zur Unfähigkeit des Klägers, Hilfe einzufordern, indizieren, dass einer der Elternteile (vorwiegend die Mutter) ständig, dh auch des Nachts, in der Wohneinheit des Klägers anwesend sein und zu seiner Betreuung zur Verfügung stehen muss. Dabei handelt es sich keineswegs um Zeiten, die der betroffene Elternteil „sowieso“ in dieser Wohnung zugebracht hätte, etwa um dort zu nächtigen oder Hausarbeiten zu verrichten, wie es die Rechtsprechung für die fehlende Ersatzfähigkeit dieser Zeiten fordert (RS0022789 [T3 und T6]).

[24]           Ist daher – zusammengefasst – bei Tag und bei Nacht die Anwesenheit einer Pflegeperson im Nahebereich des Klägers zu Betreuungszwecken erforderlich und die bloße Rufbereitschaft für die Betreuung des Klägers nicht ausreichend, so gibt es auch keine Zeit einer „Ohnehin-Anwesenheit“.

[25]           3. Da sich aufgrund dieser Erwägungen die Beurteilung durch das Erstgericht als zutreffend erweist, ist die vom Berufungsgericht angeordnete Verfahrensergänzung nicht notwendig. Es ist somit in der Sache dahin zu entscheiden, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

[26]            4. Die Kostenentscheidung gründet auf den §§ 41, 50 ZPO.

Textnummer

E133247

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00031.21D.1021.000

Im RIS seit

21.12.2021

Zuletzt aktualisiert am

21.12.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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