Entscheidungsdatum
22.11.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W154 2156309-1/18E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. KRACHER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX auch XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Tralalobe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.4.2017, Zl. 1073145005/150651837, nach einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.
II. In Erledigung der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 22.11.2022 erteilt.
IV. Der Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und diese ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 11.6.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen seiner Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, afghanischer Staatsangehöriger, ledig, Analphabet und schiitischer Moslem zu sein. Er stamme aus Kabul, zuletzt sei er Hilfsarbeiter gewesen.
Zu seinem Fluchtgrund brachte er vor, er habe eine Operation und könne nicht arbeiten. Die Arbeit in Afghanistan sei sehr schwer und wenn man eine Operation gehabt habe, bekomme man nur sehr schwer eine Arbeit. Sonst gebe es keine weiteren Fluchtgründe. Zu seiner Rückkehrbefürchtung erklärte er, jeden Tag sei dort Krieg, jeden Tag brächten sie einen um und er gehöre eines Tages auch dazu.
In weiterer Folge wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt oder belangte Behörde) ein Konvolut von Integrationsunterlagen (Kursbesuchsbestätigung bezüglich Pflichtschulabschluss, Schulnachricht, ÖSD Zertifikat A2, Deutschkursbesuchsbestätigungen bis zum Niveau B1, Kursbesuchsbestätigung bezüglich Basisbildung, diverse Referenzschreiben und Fotos) des Beschwerdeführers vorgelegt.
Am 14.4.2017 wurde der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen und gab dabei zunächst an, seine Muttersprache sei Dari, außerdem spreche er Deutsch. Er sei gesund und nehme keine Medikamente, wegen seiner Leistenbruchoperation vor ca. zweieinhalb bis drei Jahren könne er keine harte Arbeit ausführen. Diesbezüglich sei er auch in Österreich beim Arzt gewesen und legte er einen Befund vor.
Seine Tazkira habe er auf dem Weg verloren, er sei afghanischer Staatsangehöriger sowie schiitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Hazara an.
Geboren sei der Beschwerdeführer in einem näher genannten Dorf in Behsud, bis zu seinem elften oder zwölften Lebensjahr habe er in Behsud gelebt und in der dortigen Moschee den Koran gelernt. Als die Taliban seine Region angegriffen hätten, sei die Familie nach Bamyan und weiter nach Kabul Stadt gezogen, wo der Beschwerdeführer auch bis zu seiner Ausreise gelebt und gearbeitet habe, zunächst ca. eineinhalb Jahre in einem Restaurant, danach sieben bis acht Monate als Ladehelfer für LKWs und zuletzt sechs bis sieben Monate als Autolackierer. Nach seiner Operation habe er mit seiner Mutter Mandeln geschält. Wenn er gerade keine Arbeit gehabt habe, hätten die Leute auf Aufforderung des Mullhas hin gespendet.
In der Heimat befänden sich noch seine Mutter sowie ein jüngerer Bruder und eine jüngere Schwester, sie alle wohnten in Kabul.
Aufgefordert, genau zu schildern, warum der Beschwerdeführer aus Afghanistan ausgereist sei, brachte er im Wesentlichen vor, als die Taliban oder die Kutschi Behsud angegriffen hätten, sei sein Vater in Kabul gewesen, um Joghurt und andere Milchprodukte zu verkaufen. Die Taliban hätten sich in der Nähe ihres Ortes befunden weshalb seine Mutter gemeinsam mit dem Beschwerdeführer und seinen Geschwistern nach Behsud II geflüchtet seien. Die Taliban seien immer weiter vorgedrungen und die Ländereien der Familie vernichtet und die Tiere mitgenommen worden. Seine Familie sei dann gemeinsam mit den Nachbarn nach Bamyan geflüchtet und anschließend nach Kabul. Ihr ehemaliger Nachbar, der Mullah, sei einmal nach Kabul gekommen und habe seiner Mutter berichtet, dass der Vater des Beschwerdeführers in Behsud von den Taliban getötet worden wäre.
Der Beschwerdeführer habe zunächst in Kabul ein bis eineinhalb Jahre in einem Restaurant als Wasserträger gearbeitet, später nach seiner Kündigung als Ladehilfe, bis er wegen eines Bruchs habe operiert werden müssen. Deswegen habe er drei bis vier Monate mit seiner Mutter für ein Geschäft zu Hause Mandeln geschält und anschließend wieder Arbeit gesucht. Nach einiger Zeit habe er bei einem Paschtunen zwei Stunden zu Fuß entfernt eine Anstellung zum Lackieren von Autos und für Reinigungstätigkeiten erhalten. Dieser habe ihn nur für die ersten eineinhalb Monate bezahlt und ihm danach nicht den gesamten Lohn gegeben. Als der Beschwerdeführer das Geld gefordert habe, hätte dieser Mann ihn verprügelt und gesagt, dass die Paschtunen den Hazara einen Platz in Afghanistan gegeben hätten und jetzt wolle er noch Geld haben. Der Beschwerdeführer habe überall geblutet, was man auch auf dem vorgelegten Foto sehen könne. Nachdem er hinausgeschmissen worden sei, sei der Beschwerdeführer blutüberströmt zur Polizei gegangen, welche gemeinsam mit ihm diesen Betrieb aufgesucht habe. Der Polizist sei dann alleine zum Chef gegangen, nach 10 bis 15 Minuten zurückgekehrt und hätte den Beschwerdeführer aufgefordert, die Geschichte zu vergessen. Nachdem dieser nach Hause zurückgekehrt sei, seien sie noch einmal zur Polizei gegangen, die nichts gemacht habe. Nach dem Abendessen hätte es geklopft und sein Arbeitgeber wäre bewaffnet mit einer Kalaschnikow vor der Tür gestanden, hätte den Beschwerdeführer gesucht und seine Mutter geschlagen. Da er den Beschwerdeführer nicht gefunden habe, habe er seine Mutter bedroht und gesagt, egal, wo der Beschwerdeführer sei, er werde ihn finden und töten. Am nächsten Tag sei der Beschwerdeführer auf Arbeitssuche gegangen, als diese Person wieder bei ihnen zu Hause gewesen sei und seiner Mutter gesagt habe, „wir“ hätten seine Namen beschmutzt und er könne jetzt nicht mehr in dieser Gegend arbeiten. Bis er den Beschwerdeführer töte, werde er keine Ruhe geben. Daraufhin habe seine Mutter mit einem Schlepper Kontakt aufgenommen. Dies seien alle Fluchtgründe, mehr könne er dazu nicht angeben.
Beim Besuch seines Arbeitgebers von dieser Autowerkstatt sei der Beschwerdeführer im Inneren des Hauses beim Essen gewesen, weswegen er den Vorfall nicht mit allen Details schildern könne. Der Beschwerdeführer habe sich dann im Bad versteckt, Genaueres könne er nicht angeben. Das Bad sei ganz hinten, man sehe es nicht genau, weshalb der Chef dort nicht nachgesehen hätte.
Die Aufnahmen von seinen Verletzungen habe der Beschwerdeführer in Österreich gemacht.
Dass er bei seiner Erstbefragung diese Vorfälle nicht erwähnt habe, begründete er damit, er hätte damit begonnen, aber man habe ihn gestoppt. Vorgehalten, dort stehe nur von seiner Operation und dass es sonst keine weiteren Gründe gebe, erwiderte er, er wäre sehr erschöpft gewesen und hätte nicht gewusst, was ein Interview sei.
In Österreich habe der Beschwerdeführer Kontakte zu 30 bis 40 Personen, sei in der Grundversorgung, habe einen Deutschkurs und einen Pflichtschulabschlusskurs besucht sowie ehrenamtlich gearbeitet.
Mit gegenständlichem Bescheid des Bundesamtes wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Unter Spruchpunkt III. wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Unter Spruchpunkt IV. wurde festgehalten, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
Dagegen wurde rechtzeitig Beschwerde in vollem Umfang erhoben.
Am 18.2.2020 wurde dem Bundesamt die Mitteilung eines Lehrverhältnisses des Beschwerdeführers in einem Hotelbetrieb übermittelt. Am 15.1.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein Konvolut von neuen Integrationsunterlagen des Beschwerdeführers (Lehrvertrag, Jahreszeugnisse der Landesberufsschule, Seminarbestätigungen, Lohnzettel, ÖIF Teilnahmebestätigung an einem Werte- und Orientierungskurs, ÖSD Zertifikat B1, Zeugnis über die Pflichtschulabschlussprüfung, Mitgliedschaftsbestätigung in einem Kampfsportverein) ein.
Am 18.3.2021 und am 29.7.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Dari und in Anwesenheit eines länderkundigen Sachverständigen für Afghanistan eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der das Bundesamt als Verfahrenspartei entschuldigt nicht teilnahm.
Dabei erklärte der Beschwerdeführer im Wesentlichen zunächst, in einem näher genannten Dorf in Behsud in der Provinz Maidan Wardak geboren zu sein und dort bis zu seinem elften oder zwölften Lebensjahr gelebt zu haben. Nachdem die Taliban Behsud angegriffen hätten, sei er gemeinsam mit seiner Mutter und den Geschwistern in den zweiten Bezirk geflohen. Die Taliban hätten ihre Grundstücke, das Haus und die Moschee in Brand gesetzt sowie ihre Tiere mitgenommen. Das genaue Datum könne der Beschwerdeführer nicht angeben, es müsste vor etwa zehn oder elf Jahren gewesen sein.
Der Beschwerdeführer gehöre der Volksguppe der Hazara an, sei schiitischer Moslem und habe keine Schulbildung erhalten. Als er klein gewesen sei, habe er in der Moschee Koranunterricht bekommen und vor allem sei ihm das Alphabet beigebracht worden. Einen Beruf habe er nicht erlernt. In Kabul habe er etwa viereinhalb bis fünf Jahre gelebt und zwar nachdem sie Behsud verlassen hätten.
In weiterer Folge wurde der Beschwerdeführer von der erkennenden Richterin und vom länderkundigen Sachverständigen konkret zu seinem Geburtsort und seiner Wohngegend in Kabul befragt.
In Afghanistan wäre sein Leben in Gefahr, weil er von seinem ehemaligen Arbeitgeber verfolgt werde. Zudem stehe er seit drei Jahren mit seiner Mutter im Konflikt. Die erste Person, die ihn Afghanistan finden werde, sei jene Person, bei der der Beschwerdeführer als Autolackierer gearbeitet habe. Dieser Mann habe ihn damals sehr heftig geschlagen, der Beschwerdeführer habe bereits beim Bundesamt diesbezüglich Fotos vorgelegt. Als er nach Hause gekommen sei und seine Mutter ihn in diesem Zustand gesehen habe, seien sie gemeinsam zu seiner Arbeitsstelle zurückgegangen, seine Mutter habe dort geweint und viele Fragen gestellt, warum sie den Beschwerdeführer geschlagen hätten und ihm sein Geld nicht auszahlten. Der Arbeitgeber sei damals nicht in der Werkstatt gewesen und es habe sich um eine sehr bekannte Persönlichkeit in dieser Gegend gehandelt. Nach diesem Vorfall habe er gesagt, dass „wir“ seine Ehre beschmutzt hätten und sei darauf aus gewesen, den Beschwerdeführer zu töten. Aus diesem Grund sei der Beschwerdeführer ausgereist.
Zu dem Gewaltübergriff sei es deshalb gekommen, weil der Beschwerdeführer nach einem Monat kein Geld mehr erhalten und mit seinem Arbeitgeber ständig darüber gesprochen hätte. Die wirtschaftliche Situation sei sehr schlecht gewesen und es sei zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen. Dies habe dann zu dieser Gewalttat geführt und der Beschwerdeführer sei rausgeschmissen worden. Die Ehre des Arbeitgebers wäre deshalb beschmutzt worden, weil seine Mutter dort laut geworden sei und geweint habe und die Kleidung des Beschwerdeführers mit blutverschmiert gewesen wäre. Deswegen habe der Arbeitgeber behauptet, sein Ruf wäre beschädigt.
Es habe keinen konkreten Grund gegeben, den Beschwerdeführer nicht zu bezahlen.
Nachgefragt, ob es noch andere Fluchtgründe gebe, antwortete der Beschwerdeführer, es gebe in Afghanistan keine Sicherheit. Nochmals aufgefordert, die Frage zu seinen persönlichen Fluchtgründen konkret zu beantworten, antwortete der Beschwerdeführer ausdrücklich, bis auf die Geschichte mit seinem Arbeitgeber, der ihn mit dem Tod bedroht hätte, habe er keine weiteren Fluchtgründe.
Der Beschwerdeführer leide nicht an einer lebensbedrohlichen Erkrankung, seine Mutter, die Schwester und der Bruder lebten Kabul. Der Grund, warum er mit seiner Mutter im Streit sei, wäre seine Schwester, die als Zwölfjährige von der Mutter verheiratet worden sei. Sie sei in einer Familie gelandet, in der sie unterdrückt werde. Die Schwiegerfamilie gehöre zu einem Gruppenführer in Afghanistan, der der Schwiegervater der Schwester des Beschwerdeführers sei. Letzten Sommer habe der Beschwerdeführer seiner Schwester Geld geschickt, damit sie sich ein Handy kaufen könne. Dies sei auch ein Streitpunkt. Sie hätten die Schwester mit dem Handy und der Nummer des Beschwerdeführers erwischt, seinen Bruder geschlagen und ihm die Hand gebrochen. Für diese Probleme werde der Beschwerdeführer verantwortlich gemacht.
Den Beschwerdeführer wurde seitens der erkennenden Richterin eine Frist von einer Woche gegeben, um die aktuelle Adresse seiner Mutter, den genauen Namen des Ehemanns der Schwester und von dessen Brüdern sowie die genaue Adresse der Schwester und ihres Ehemannes dem Gericht mitzuteilen.
Die Beantwortung dieses Fragenkataloges langte beim Bundesverwaltungsgericht am 25.3.2021 ein.
Am 29.7.2021 wurde die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht fortgesetzt und der länderkundige Sachverständige erstattete zunächst aufgrund der Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren folgendes Gutachten im Hinblick auf dessen Herkunft und dessen Fluchtgründe:
„Zur Herkunft des BF:
Es ist nicht ausgeschlossen, dass der BF und seine Familie ursprünglich aus Behsud und aus
der Region, die er beim BFA und BVwG erwähnt hat, stammen könnte.
Ob der BF längerfristig in Behsud gelebt hat, bis zu seinem 12 Lebensjahr, wie er angegeben
hat, kann ich nicht feststellen, weil der BF betreffend seine Herkunft aus Behsud in seinen Angaben nicht spontan war.
Dafür hat der BF aber betreffend seinen Aufenthalt in Kabul in den Wohngebieten der Hazara im Westen Kabuls spontane Angaben gemacht. Auch seine Tätigkeit in Kabul in einer Werkstatt können den Tatsachen entsprechen, da die meisten jungen Hazara in Werkstätten arbeiten. Allerdings könnte ich diesbezüglich keine Spontanität und realistische Angaben betreffend seinen Arbeitsplatz entnehmen, auch wenn ich nicht ausschließe, dass der BF in einer Werkstatt in Kabul gearbeitet hat.
Die jungen Hazara sind fleißig und können mit wenig Kapital für sich eine Werkstatt gründen oder bei jemanden in ihrem Bezirk eine Arbeit finden, ohne gezwungen zu sein, bei einem „bösen Paschtunen“ zu arbeiten, der in ständig betrügt und seinen Lohn nicht zahlt.
Betreffend seine Verfolgung durch den Meister der Werkstatt, „den Paschtunen“:
Es kann vorkommen, dass eine Frau in diesem Fall die Mutter des BF, zur Werkstatt geht und vor der Werkstatt protestiert, warum der Meister ihres Sohnes, des BF, seinen Lohn nicht auszahlt. Es kommt öfters vor, dass die Familienmitglieder, Vater, Brüder oder Mutter, eines betrogenen Jungen zu den Arbeitgebern des Sohnes/Bruders gehen und ihn fragen bzw. auffordern, den Lohn des Sohnes, den der Meister zurückgehalten hat, zu zahlen. Weiters fragt die Mutter des Lehrlings oder Arbeiter den Meister, warum er den Sohn misshandelt hätte.
Gegenüber einer Frau ist der Arbeitgeber in so einem Fall bemüht, die Frau zu beruhigen und möglicherweise den Lohn des Sohnes, den er zurückbehalten hat, der Frau auszubezahlen. Tatsächlich hat eine solche Person, die Löhne der Kinder einer Frau zurückbehält, kein gutes Benehmen als Chef, sondern dies zeigt, dass der Chef der Werkstatt ein Bösewicht ist und betrügerisch mit seinen Mitarbeitern umgeht. Solche Chefs gibt es in Afghanistan.
Aus dieser Situation, dass angeblich die Mutter des BF zum Chef gegangen und von ihm das Geld des Sohnes verlangt hat, erwächst keine Feindschaft zwischen dem Meister und dem BF. Da die Mutter des BF angeblich von seinem Einkommen abhängig war, zeigen die Leute, auch der Werkmeister, Verständnis und versucht, sich mit ihr zu arrangieren, um sie zufrieden nach Hause zu schicken. Aus dieser Begegnung der Mutter des BF kann der paschtunische Meister keine Feindschaft, die nach den Erzählungen des BF einer Todfeindschaft gleichkommt, ableiten. Es gibt fast jeden Tag hunderte Fälle, dass Kinder und Jugendliche von den Arbeitgebern nicht bezahlt werden, und erst durch Intervention der Familie das Geld an die Familie der jungen Leute ausbezahlt wird.
Ein Chef einer Werkstatt ist keine große Persönlichkeit, wie ein Kommandant oder Stammeschef der davon eine Feindschaft ableitet und sich in seiner Ehre gekränkt fühlt.
Die Meister der Werkstätte sind von Anfang an arme Menschen gewesen und haben, wie der BF, in einer Werkstatt gelernt und gearbeitet. Daher entsteht für den Meister keine Ehrverletzung bzw. kein Schaden für seine Werkstatt durch eine Frau, die zu ihm kommt und das Geld ihres Sohnes verlangt.“
Der Beschwerdeführer bekam die Gelegenheit, sich dazu zu äußern und erwiderte, es stimme, dass er die Fragen über Behsud nicht spontan beantwortet habe, dies liege aber daran, dass er, wenn er über Behsud spreche, auch an seinen dort ermordeten Vater denke und es ihm sehr schlecht gehe.
Bezüglich seines Chefs führte er aus, dass dieser nicht dort gewesen sei, als „wir“ die Werkstatt aufgesucht hätten. Seine Mutter habe protestiert und geschrien, die Leute hätten sich versammelt. Dann seien „wir“ zur Polizei gegangen und in deren Begleitung zur Werkstatt zurückgekehrt. Sein Arbeitgeber sei zwar kein Kommandant gewesen, habe aber für die deutschen, iranischen und amerikanischen Botschaften gearbeitet und wegen des schlechten Rufes keine Aufträge mehr von ihnen bekommen. Der Beschwerdeführer habe seinen Bruder zur Werkstatt geschickt, der ihm erzählt habe, dass diese dort nicht mehr existiere und in eine andere Gegend umgezogen sei.
Zum weiteren Fluchtvorbringen bezüglich der Schwester des Beschwerdeführers erläuterte der länderkundige Sachverständige im Wesentlichen Folgendes:
„Nachdem die Mutter und weitere Familienangehörige in Afghanistan leben, bezweifle ich die Existenz eines solchen Problems betreffend seine Schwester – wie der BF es geschildert hat. Wenn jemand von Afghanistan bis nach Österreich wegen Todesgefahr flüchtet, dann wird auch die Familie, die er genannt hat, nicht mehr in dieser Form im angestammten Heimatort wie Kabul oder Behsud präsent sein, wenn es sich um Todesdrohung bzw. Todfeindschaft handelt – wie der BF es geschildert hat. Betreffend die Anwesenheit der Familie in Afghanistan hat der BF eine Stellungnahme geschickt, aus der hervorgeht, dass die Familie in Afghanistan lebt.“
Und weiters:
„Ich bezweifle, dass ein solcher Vorfall zustande gekommen sein kann. Der BF hat diese Geschichte im Ausland gehört. Ich möchte aber nicht verschweigen, dass es auch in seiner Familie, wie ich bereits vorhin gesagt habe, Gewalt in der Familie seines Schwagers gegeben haben kann. Dass daraus eine Todfeindschaft zwischen dem BF und dem Schwager entstanden ist, bezweifle ich. Mindestens 50 Prozent der Frauen werden von ihren Männern geschlagen und in Afghanistan wird dann der Spruch verwendet und auch praktiziert, dass es die Sache der Familie ist und die Frau dem Mann seiner Familie gehört und sich keiner in die Sache einzumischen hat. Aus diesem Grunde gehören die Witwen nach dem Tod ihrer Männer der Familie des verstorbenen Mannes, als eine Art „ewige Sklavin“.
Ich möchte noch hinzufügen, wenn die Männer ihre Mütter oder Schwester aus der Gewalt eines gewalttätigen Ehemannes befreien wollen, bzw. darunter leiden, dass ihre Schwester gequält und gefangen gehalten wird, dann werden sie alles versuchen, die Schwester zu retten. Ich wiederhole, dass die Mutter und Teile der Familie des BF nach wie vor in Afghanistan leben. Wenn die Schwester tatsächlich in solchen Umständen lebt, kann die Mutter zur Behörde gehen und weiterhin versuchen, die Schwester zu befreien bzw. wie der BF geschildet hat, kann die Schwester aus dem Haus flüchten und in das Frauenhaus gehen, weil sie schon die Frauenhaft kennt.“
Es gebe zwar solche Konflikte in Afghanistan, der Sachverständige könne daraus jedoch keine Verfolgungsgefahr für den Beschwerdeführer erkennen.
Zu seiner Integration in Österreich legte der Beschwerdeführer neue Unterlagen vor und gab auf Deutsch an, eine Lehre als Koch/Kellner in der Gastronomie zu machen, sein Lehrverhältnis dauere noch bis zum Juni 2022. Zudem habe er diverse Deutschkurse besucht, bei B2 fehle ihm nur die Prüfung. Auch habe er den Vorbereitungskurs für die Pflichtschule absolviert und dafür mit seiner hier anwesenden Vertrauensperson gelernt. Die Prüfung habe er geschafft und sich dann für eine Ausbildung bzw. Lehre als Koch/Kellner entschlossen. Er lebe in einer Wohngemeinschaft und zahle Miete. In einer Partnerschaft befinde er sich nicht, habe aber eine Ersatzfamilie gefunden. Außerdem habe er österreichische Freunde, sei Mitglied in einem Sportverein und habe auch schon Podestplätze bei Meisterschaften belegt. Zu Weihnachten helfe er beim Punschverkauf. Seitens der erkennenden Richterin wurde angemerkt, dass der Beschwerdeführer über ausgezeichnete Deutschkenntnisse verfügt.
Vorgelegt wurden ein Zwischenzeugnis seines Arbeitgebers, aus dem hervorgeht, dass der Beschwerdeführer nach Lehrabschluss weiter beschäftigt werden könnte, weiters die Bestätigung des Sportvereins, die letzten drei Lohnzettel, vier Empfehlungsschreiben, diverse Fotos von der Arbeitsstätte, vom Sportverein sowie mit Freunden und Familienangehörigen der österreichischen Familie.
Ausgehändigt wurde das Länderinformationsblatt zu Afghanistan und dem Beschwerdeführer die Möglichkeit eingeräumt, sich innerhalb einer Frist von zwei Wochen schriftlich dazu zu äußern.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara sowie dem schiitischen Glauben an. Seine Muttersprache ist Dari, zudem verfügt er über ausgezeichnete Deutschkenntnisse. Er ist ledig und kinderlos.
Der Beschwerdeführer wurde in Behsud in der Provinz Maidan Wardak geboren, wo er auch zunächst mit seinen Eltern und Geschwistern aufwuchs und die Koranschule besuchte. Anschließend lebte er mehrere Jahre mit seiner Mutter und den Geschwistern in Kabul, wo er diverse Arbeiten verrichtete.
Der Beschwerdeführer ist volljährig, jung, grundsätzlich gesund und arbeitsfähig. In Österreich holte er den Pflichtschulabschluss nach und absolviert eine Lehre als Koch/Kellner in einem Hotelbetrieb. Das Lehrverhältnis dauert bis Juni 2022. Der Beschwerdeführer war auch ehrenamtlich tätig, besuchte den Werte- und Orientierungskurs, ist Mitglied in einem Sportverein und konnte zahlreiche Unterstützungsschreiben vorlegen.
Er ist strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer wird in Afghanistan nicht von seinem ehemaligen Arbeitgeber wegen behaupteter Ehrverletzung verfolgt.
Er wird auch nicht von der Familie seines Schwagers bedroht, weil er sich von Österreich aus um seine Schwester kümmert bzw. ihr Geld für ein Handy geschickt hat.
Der Beschwerdeführer war in Afghanistan wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara und wegen seiner Religionszugehörigkeit zu den Schiiten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.
Weitere konkrete persönliche Bedrohungen des Beschwerdeführers wurden nicht substantiiert vorgebracht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keine gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder durch Private vor dem Hintergrund seiner ethnischen Zugehörigkeit, seiner Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung zu erwarten hätte.
Dem Beschwerdeführer würde jedoch bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort derzeit herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der zum Entscheidungszeitpunkt instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.
Dem Beschwerdeführer ist es dementsprechend auch nicht möglich und auch nicht zumutbar, sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Mazar-e Sharif, Herat und Kabul - wo er mehrere Jahre lebte und arbeitete - nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden. In der Folge ist es ihm auch nicht möglich, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. nicht, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem derzeit ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).
1.4. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat
Aktuelle Lage in Afghanistan Stand 16.9.2021:
Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Version 5 vom 16.9.2021, wiedergegeben:
COVID-19
Letzte Änderung: 16.09.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
Quellen:
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AAN - Afghanistan Analysts Network (1.10.2020): Covid-19 in Afghanistan (7): The effects of the pandemic on the private lives and safety of women at home, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/economy-development-environment/covid-19-in-afghanistan-7-the-effects-of-the-pandemic-on-the-private-lives-and-safety-of-women-at-home/, Zugriff 8.9.2021
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ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation (25.5.2021): Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Gewalt gegen Kinder und etwaige Veränderungen durch die Covid-19-Pandemie; Zugang zu Bildungseinrichtungen im Zusammenhang mit Pandemie, insb. in Kabul und Mazar-e-Sharif, https://www.ecoi.net/en/document/2052138.html, Zugriff 8.9.2021
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Politische Lage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnah