TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/10 G314 2220322-1

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Veröffentlicht am 10.09.2021
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Entscheidungsdatum

10.09.2021

Norm

BFA-VG §18 Abs5
B-VG Art133 Abs4
FPG §66 Abs1
FPG §70 Abs3
NAG §51 Abs1
NAG §55 Abs3

Spruch


G314 2220322-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des rumänischen Staatsangehörigen XXXX, geboren am XXXX, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX.2019, Zl. XXXX, betreffend die Erlassung einer Ausweisung samt Durchsetzungsaufschub beschlossen (A) und zu Recht erkannt (B):

A)       Der Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wird als unzulässig zurückgewiesen.

B)       Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.

C)       Die Revision ist jeweils gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Verfahrensgang:

Dem Beschwerdeführer (BF) wurde am XXXX.2010 eine Anmeldebescheinigung als Arbeitnehmer ausgestellt.

Mit Schreiben vom XXXX.2019 informierte die Bezirkshauptmannschaft (BH) XXXX das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) darüber, dass der BF die Voraussetzungen für das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht mehr erfülle. Er sei in der Zeit vom XXXX.2009 bis XXXX.2014 lediglich vier Monate erwerbstätig gewesen und beziehe seither Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe und seit XXXX 2012 (mit einer kurzen Unterbrechung) Mindestsicherung. Die Unterhaltsmittel seien daher nicht als ausreichend anzusehen. Gemäß § 55 Abs 3 NAG sei eine mögliche Aufenthaltsbeendigung zu prüfen.

Am XXXX.2019 fand vor dem BFA eine Befragung des BF wegen der möglichen Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme statt.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde der BF gemäß § 66 Abs 1 FPG iVm § 55 Abs 3 NAG aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen (Spruchpunkt I.). Ihm wurde gemäß § 70 Abs 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat erteilt (Spruchpunkt II.). Die Ausweisung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der BF zwar seit 2009 durchgehend in Österreich gemeldet, aber nur ganz kurz einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sei. Er könne seinen Lebensunterhalt nur mit staatlichen Leistungen bestreiten und habe in naher Zukunft auch keine begründete Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Da die Voraussetzungen des § 51 Abs 1 und 2 NAG nicht erfüllt seien, könne der BF das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht in Anspruch nehmen. Der mit der Ausweisung verbundene Eingriff in sein Privat- und Familienleben sei verhältnismäßig, weil er keine familiären oder sozialen Bindungen in Österreich habe und nur schwach integriert sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde des BF mit den Anträgen auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Der BF strebt damit primär die ersatzlose Behebung des angefochtenen Bescheids an; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag gestellt. Er begründet die Beschwerde zusammengefasst damit, dass er seinen Lebensmittelpunkt seit XXXX.2009 in Österreich habe und ihm eine Anmeldebescheinigung als Arbeitnehmer ausgestellt worden sei. Er habe Integrationsschritte gesetzt, spreche gut Deutsch und sei in Österreich nie straffällig geworden. Er sei im Bundesgebiet insgesamt für 13 Monate einer Vollzeitbeschäftigung nachgegangen. Aufgrund seines Alters und seines Gesundheitszustands (er leide an Diabetes, habe sich 2018 einer Bypass-Operation unterziehen müssen; außerdem bestehe eine Wundheilungsstörung) sei die Suche nach einem Arbeitsplatz erschwert. Ab XXXX.2019 gehe er einer geringfügigen Beschäftigung nach.

Das BFA legte die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor, erstattete eine Stellungnahme und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

Feststellungen:

Der BF kam am XXXX in der rumänischen Stadt XXXX im Kreis XXXX zur Welt. Seine Muttersprache ist Rumänisch; er verfügt auch über (zumindest grundlegende) Deutschkenntnisse. Er ist geschieden und hat einen Sohn, der bei seiner Ex-Ehefrau in Rumänien lebt; zu beiden besteht kein Kontakt. Sein Vater ist bereits verstorben, zu seiner Mutter hat er keinen Kontakt.

Nachdem der BF seinen Arbeitsplatz in Rumänien verloren hatte, reiste er 2009 in das Bundesgebiet ein, wo er sich seither im Wesentlichen kontinuierlich aufhält. Seit XXXX.2009 bestehen durchgehend Hauptwohnsitzmeldungen an Adressen in XXXX. Am XXXX.2010 wurde ihm eine Anmeldebescheinigung als Arbeitnehmer ausgestellt.

Von XXXX.2009 bis XXXX.2010, am XXXX.2012 und von XXXX bis XXXX.2014 war der BF in Österreich als Arbeiter vollversichert erwerbstätig. Von XXXX bis XXXX.2019 war er geringfügig beschäftigt. Während der restlichen Zeit bezog er (mit Unterbrechungen) Arbeitslosen- oder Krankengeld bzw. Notstandshilfe. Zuletzt bezog er von XXXX.2021 bis XXXX.2021 Arbeitslosengeld, am XXXX.2021 Notstandshilfe und seit XXXX.2021 Krankengeld. Seit XXXX 2012 bezieht er auch Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung.

Der BF machte in Österreich 2010 eine Ausbildung zum Brandschutzwart und besuchte 2011 einen Deutschkurs. Er hat sonst keine wesentlichen sozialen, familiären, gesellschaftlichen oder beruflichen Bindungen und auch keine ihm nahestehenden Bezugspersonen im Inland. Er ist strafgerichtlich unbescholten und bei der Österreichischen Gesundheitskasse krankenversichert.

Der BF ist zuckerkrank und leidet daraus resultierend an tauben Beinen. Nach einer Bypass-Operation 2018 besteht eine Wundheilungsstörung.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei aus dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und des Gerichtsaktes des BVwG.

Die Feststellungen basieren insbesondere auf den Angaben des BF gegenüber dem BFA und den von ihm vorgelegten Urkunden sowie auf den Informationen aufgrund von Abfragen im Zentralen Melderegister (ZMR), Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR), Strafregister und beim Dachverband der Sozialversicherungsträger. Die angegebenen Aktenseiten (AS) entsprechen den Seitenzahlen der Verwaltungsakten.

Name, Staatsangehörigkeit und Geburtsort des BF werden anhand seines (dem BVwG in Kopie vorliegenden) Personalausweises (AS 59) festgestellt, der bis XXXX.2011 gültig war. Seine Einreise in das Bundesgebiet ergibt sich aus einer Zusammenschau seiner Angaben vor dem BFA und den durchgehenden Wohnsitzmeldungen laut ZMR.

Aufgrund der Herkunft des BF ist von Kenntnissen der rumänischen Sprache auf muttersprachlichem Niveau auszugehen. Da er einen Deutschkurs besucht hat und für die Einvernahme vor dem BFA kein Dolmetsch erforderlich war, ist davon auszugehen, dass gewisse Deutschkenntnisse bestehen. Ein konkretes Sprachniveau kann nicht festgestellt werden, zumal der BF laut dem angefochtenen Bescheid „gebrochen“, laut der Beschwerde „sehr gut“ Deutsch sprechen soll und kein Nachweis über eine positiv absolvierte Sprachprüfung vorliegt.

Die Konstatierungen zu den familiären Verhältnissen des BF werden anhand seiner glaubhaften Angaben vor dem BFA getroffen.

Die Ausstellung einer Anmeldebescheinigung am XXXX.2010 ergibt sich aus dem Schreiben der BH XXXX (AS 1); eine entsprechende Feststellung wird auch im angefochtenen Bescheid getroffen. Die Erwerbstätigkeit des BF in Österreich sowie der Bezug von Arbeitslosen- und Krankengeld sowie Notstandshilfe ergeben sich aus seinem Versicherungsdatenauszug. Der Bezug von Mindestsicherung ergibt sich aus dem Schreiben der BH XXXX und den angeschlossenen Kontoauszügen des Sozialhilfeverbands XXXX.

Die strafgerichtliche Unbescholtenheit des BF geht aus dem Strafregister hervor.

Der BF legte Zeugnisse über die Ausbildung zum Brandschutzwart und über einen Deutschkurs vor, ebenso ein Arbeitszeugnis vom XXXX.2010 und eine Einladung zu einer AMS-Informationsveranstaltung vom XXXX.2019. Es gibt keine Beweismittel für weitere Integrationsbemühungen, zumal er im Inland weder aktiv in einem Verein ist noch sich ehrenamtlich betätigt oder eine weitere Ausbildung macht.

Die gesundheitlichen Probleme des BF ergeben sich aus seinen Angaben vor dem BFA, wobei er laut Niederschrift entsprechende Atteste vorlegte. Obwohl sich diese nicht bei den vorgelegten Verwaltungsakten befinden, können entsprechende Feststellungen auf dieser Grundlage getroffen werden, zumal auch in der Beschwerde ein entsprechendes Vorbringen erstattet wurde.

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

Gemäß § 13 Abs 1 VwGVG haben Bescheidbeschwerden grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Gemäß § 18 Abs 4 BFA-VG darf einer Beschwerde gegen eine Ausweisung gemäß § 66 FPG die aufschiebende Wirkung nicht aberkannt werden.

Weder der Spruch noch die Begründung des angefochtenen Bescheids enthalten einen Hinweis auf eine allfällige Aberkennung der aufschiebenden Wirkung. Die entsprechende Passage in der Rechtsmittelbelehrung („Die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung, das heiß, der Bescheid kann trotz Erhebung einer Beschwerde vollstreckt werden. Das BVwG hat unter bestimmten Umständen von Amts wegen innerhalb von sieben Tagen nach Einlangen der Beschwerde bei ihm die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen … Bis zum Ablauf dieser Frist wird der Bescheid nicht vollstreckt.“) ist daher unrichtig, entfaltet aber keine normative Wirkung.

Da der Beschwerde des BF die aufschiebende Wirkung folgerichtig nicht aberkannt wurde, kann diese vom BVwG auch nicht zuerkannt werden. Der darauf gerichtete Antrag ist daher als unzulässig zurückzuweisen.

Zu Spruchteil B):

Als Staatsangehöriger Rumäniens ist der BF EWR-Bürger iSd § 2 Abs 4 Z 8 FPG.

§ 66 FPG („Ausweisung“) lautet:

„(1) EWR-Bürger, Schweizer Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige können ausgewiesen werden, wenn ihnen aus den Gründen des § 55 Abs 3 NAG das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr zukommt, es sei denn, sie sind zur Arbeitssuche eingereist und können nachweisen, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden; oder sie bereits das Daueraufenthaltsrecht (§§ 53a, 54a NAG) erworben haben; im letzteren Fall ist eine Ausweisung nur zulässig, wenn ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.

(2) Soll ein EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigter Drittstaatsangehöriger ausgewiesen werden, hat das Bundesamt insbesondere die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Bundesgebiet und das Ausmaß seiner Bindung zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

(3) Die Erlassung einer Ausweisung gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, die Ausweisung wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.“

Gemäß § 51 Abs 1 NAG sind EWR-Bürger auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind (Z 1); für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen (Z 2), oder als Hauptzweck ihres Aufenthalts eine Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung bei einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule oder Bildungseinrichtung absolvieren und die Voraussetzungen der Z 2 erfüllen (Z 3). Gemäß § 51 Abs 2 NAG bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft als Arbeitnehmer oder Selbständiger gemäß § 51 Abs 1 Z 1 dem EWR-Bürger, der diese Erwerbstätigkeit nicht mehr ausübt, erhalten, wenn er wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig ist (Z 1); sich als Arbeitnehmer bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice zur Verfügung stellt (Z 2); sich als Arbeitnehmer bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrages oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice zur Verfügung stellt, wobei in diesem Fall die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten erhalten bleibt (Z 3); oder eine Berufsausbildung beginnt, wobei die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft voraussetzt, dass zwischen dieser Ausbildung und der früheren beruflichen Tätigkeit ein Zusammenhang besteht, es sei denn, der Betroffene hat zuvor seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren (Z 4).

§ 55 NAG („Nichtbestehen, Fortbestand und Überprüfung des Aufenthaltsrechtes für mehr als drei Monate“) lautet:

„(1) EWR-Bürgern und ihren Angehörigen kommt das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52, 53 und 54 zu, solange die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

(2) Der Fortbestand der Voraussetzungen kann bei einer Meldung gemäß §§ 51 Abs 3 und 54 Abs 6 oder aus besonderem Anlass wie insbesondere Kenntnis der Behörde vom Tod des unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgers oder einer Scheidung überprüft werden.

(3) Besteht das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52 und 54 nicht, weil eine Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegt, die Nachweise nach § 53 Abs 2 oder § 54 Abs 2 nicht erbracht werden oder die Voraussetzungen für dieses Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr vorliegen, hat die Behörde den Betroffenen hievon schriftlich in Kenntnis zu setzen und ihm mitzuteilen, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung befasst wurde. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist unverzüglich, spätestens jedoch gleichzeitig mit der Mitteilung an den Antragsteller, zu befassen. Dies gilt nicht in einem Fall gemäß § 54 Abs 7. Während eines Verfahrens zur Aufenthaltsbeendigung ist der Ablauf der Frist gemäß § 8 VwGVG gehemmt.

(4) Unterbleibt eine Aufenthaltsbeendigung (§ 9 BFA-VG), hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dies der Behörde mitzuteilen. Sofern der Betroffene nicht bereits über eine gültige Dokumentation verfügt, hat die Behörde in diesem Fall die Dokumentation des Aufenthaltsrechts unverzüglich vorzunehmen oder dem Betroffenen einen Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn dies nach diesem Bundesgesetz vorgesehen ist.

(5) Unterbleibt eine Aufenthaltsbeendigung von Drittstaatsangehörigen, die Angehörige sind, aber die Voraussetzungen nicht mehr erfüllen, ist diesen Angehörigen ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" quotenfrei zu erteilen.

(6) Erwächst eine Aufenthaltsbeendigung in Rechtskraft, ist ein nach diesem Bundesgesetz anhängiges Verfahren einzustellen. Das Verfahren ist im Fall der Aufhebung einer Aufenthaltsbeendigung fortzusetzen, wenn nicht neuerlich eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gesetzt wird."

Gemäß § 9 BFA-VG ist eine Ausweisung gemäß § 66 FPG, die in das Privat- und Familienleben eines Fremden eingreift, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art 8 Abs 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß
§ 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen.

Der BF hält sich seit August 2009 – und damit mittlerweile seit mehr als zehn Jahren - kontinuierlich im Bundesgebiet auf. Die Erlassung einer Ausweisung gegen ihn setzt daher gemäß § 66 Abs 3 FPG voraus, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Diese Voraussetzung ist angesichts seiner strafgerichtlichen Unbescholtenheit nicht erfüllt, zumal keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er einmal mit der österreichischen Rechtsordnung in Konflikt geraten wäre.

Der für die Anwendung des § 66 Abs 3 FPG maßgebliche Aufenthaltszeitraum von zehn Jahren muss grundsätzlich ununterbrochen sein; er ist vom Zeitpunkt der Verfügung der Ausweisung an zurückzurechnen. Der dabei maßgebliche Zeitpunkt ist jener der Verfügung einer rechtskräftigen – und nicht schon der erstinstanzlichen – aufenthaltsbeendenden Maßnahme, zumal das BVwG die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung bestehende Sach- und Rechtslage zugrunde zu legen hat (siehe VwGH 18.01.2021, Ra 2020/21/0511). Der Umstand, dass sich der BF zur Zeit der Erlassung des angefochtenen Bescheids noch knapp unter zehn Jahren durchgehend im Inland aufgehalten hatte, steht daher der Anwendung des erhöhten Gefährdungsmaßstabs nach § 66 Abs 3 FPG nicht entgegen. Die Erlassung einer Ausweisung gegen den BF ist daher nicht zulässig.

Zu diesem Ergebnis führt auch die nach § 66 Abs 2 FPG und § 9 BFA-VG gebotene Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens des BF, zumal nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist und nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen werden. Diese Rechtsprechung ist auch auf Fälle zu übertragen, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag (vgl. VwGH 15.01.2020, Ra 2017/22/0047). Da hier in Anbetracht der vom BF zumindest zeitweise ausgeübten Erwerbstätigkeit, der in Österreich absolvierten Ausbildungen und des Erwerbs von Deutschkenntnissen gewisse integrationsbegründende Aspekte vorliegen, überwiegen angesichts des langen durchgehenden Inlandsaufenthalts die persönlichen Interessen des unbescholtenen BF an einem Verbleib die öffentlicher Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung, obwohl keine nachhaltige Integration am österreichischen Arbeitsmarkt gelungen ist und der BF seinen Aufenthalt überwiegend durch Leistungen der Sozialversicherung und durch Sozialhilfe finanziert.

Die mit dem angefochtenen Bescheid ausgesprochene Ausweisung ist daher nicht rechtskonform. Dies bedingt zugleich die Gegenstandslosigkeit des dem BF gewährten Durchsetzungsaufschubs. Beide Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids sind daher in Stattgebung der Beschwerde ersatzlos zu beheben.

Zum Entfall der mündlichen Verhandlung:

Da im vorliegenden Fall bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit der Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist, kann eine Beschwerdeverhandlung gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG entfallen, zumal der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint.

Zu Spruchteil C):

Die Revision ist wegen der Einzelfallbezogenheit dieser Entscheidung, die keine grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG begründet, nicht zuzulassen.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung Gefährdungsprognose Interessenabwägung Privat- und Familienleben Voraussetzungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:G314.2220322.1.00

Im RIS seit

17.12.2021

Zuletzt aktualisiert am

17.12.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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