Entscheidungsdatum
20.09.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W272 2243102-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Alois BRAUNSTEIN, MBA, als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Russische Föderation, vertreten durch BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl Salzburg vom 03.05.2021, ZI. XXXX , zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. – VI. wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG als unbegründet abgewiesen.
II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass er zu lauten hat:
„Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG 2005, wird gegen Sie ein auf die Dauer von 1 Jahr befristetes Einreiseverbot erlassen“.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 07.12.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz.
1.2. Bei der Erstbefragung am nächsten Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer befragt zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass er in der Russischen Föderation alleine gelebt habe. Seine Mutter arbeite im Kindergarten, sein Vater lebe irgendwo in Russland. Sonst habe er keine Verwandte im Dorf. Seine Schwestern seien verheiratet und würden nicht mehr dort leben. Sein Onkel und seine Tante leben in Österreich und sie haben gesagt, dass es gut wäre, wenn er bei ihnen in Österreich wäre. Bei der Rückkehr drohe ihm nichts, er möchte jedoch in Österreich bleiben und nicht mehr zurück. Bei sich hatte der Beschwerdeführer € 375,00. Der BF wurde im SOS Kinderdorf Salzburg untergebracht.
1.3. Der Kinder- und Jugendhilfeträger Salzburg als sein gesetzlicher Vertreter hat die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH zur Vertretung des BF bevollmächtigt.
1.3. Der Beschwerdeführer wurde am 20.04.2021 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt) niederschriftlich einvernommen. Die Beschwerdeführer gab dabei an, dass es er körperlich und geistig gesund sei. Er spreche Tschetschenisch als Muttersprache und seine Russischkenntnisse seien nicht so gut. In der Schule habe er zwar Russische gelernt, aber habe es nicht gesprochen. Er habe 9 Jahre die Hauptschule und zwei Jahre ein Wirtschaftscollege besucht, dieses aber nicht abgeschlossen. In der Russischen Föderation seien seine Schwestern, welche verheiratet seien, seine Mutter und sein Vater. Weitere zwei Onkel seien irgendwo in Russland. Er habe noch Kontakt mit seinen Schwestern und Eltern. Es gehe ihnen gut. Er habe in Russland alleine gelebt und sein Vater sei circa einmal in der Woche vorbeigekommen. Sein Vater habe nicht gewollt, dass er bei seiner Mutter wohne. Als Fluchtgrund gab er im Wesentlichen an, dass er alleine gewohnt habe und es schwer für ihn gewesen sei, er habe Probleme mit der Einsamkeit gehabt. Der zweite Grund seiner Ausreise sei, dass er bald 18 Jahre alt werde und dann in die Armee eingezogen werde. Man werde ihn bestimmt wohin schicken zu kämpfen. Er wolle jedoch friedlich leben und habe Angst von älteren Soldaten schikaniert zu werden. Er wolle nicht kämpfen. Sein Vater sei sehr böse gewesen, als dieser erfahren habe, dass er Russland verlassen habe. Zu seiner Familie habe er ein gutes Verhältnis gehabt, sein Vater sei dagegen gewesen, dass er seine Mutter sehe und sie treffe, wenn er dies trotzdem gemacht habe, sei er davon nicht begeistert gewesen. In Russland gebe es keinen Wehrersatzdienst. Ansonsten gab es keine Übergriffe gegen ihn, einen Einberufungsbefehl gebe es noch nicht.
Ansonsten habe er in Russland ein wenig beim Nachbarn gearbeitet. Schon bei der Scheidung seiner Eltern habe er daran gedacht Russland zu verlassen, etwas später habe er endgültig die Entscheidung getroffen, dies sei vor einem Jahr gewesen. Er habe über die Politik in Russland nie gesprochen, wenn man das tue, könne man Probleme bekommen. Zurzeit lebe er im Lager für Minderjähre, wolle jedoch zu seinem Onkel und habe einen Obsorgeantrag gestellt. Sein Onkel komme am Wochenende vorbei, um ihn zu besuchen. Er würde von seinem Onkel auch finanziell unterstützt werden. Er lebe von der Grundversorgung und lerne Deutsch. Er gehe Fußballspielen. Bei Rückkehr in seine Heimat würde sich nichts ändern, auch in Bezug auf die Armee nicht. In Österreich möchte er die Schule besuchen und danach eine Ausbildung machen und arbeiten. Den Dolmetsch habe er einwandfrei verstanden und sonst habe er keine Fluchtgründe. Seine Mutter sei von seinem Vater geschlagen worden und wenn er sich eingesetzt habe für sie, sei er auch geschlagen worden. Den Grund der Scheidung kenne er nicht.
1.4. Mit Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 30.04.2021, 41 Ps 53/21w-9 wurde den Eltern XXXX und XXXX die Obsorge über den BF vorläufig entzogen und auf den Onkel XXXX vorläufig übertragen. Die Obsorge wurde vorläufig übertragen, da den Eltern erst der Antrag zugestellt werden muss.
1.5. Das Bundesamt wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 03.05.2021 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich des Status der subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Unter einem erteilte es ihr keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ eine Rückkehrentscheidung gegen ihn (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Es räumte ihm eine Frist zur freiwilligen Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ein (Spruchpunkt VI.). Unter Spruchpunkt VII. wurde gegen den BF ein auf die Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 Fremdenpolizeigesetz erlassen.
Das Bundesamt führte begründend aus, dass eine gegen den Beschwerdeführer gerichtete Verfolgung in seinem Heimatstaat nicht feststellbar sei. Der Beschwerdeführer habe keine glaubhaften Verfolgungsgründe dargelegt. Bezüglich der Gewalttätigkeit des Vaters, habe der BF dies er auf Nachfrage dargelegt und habe sich diese auf den Zeitraum während der Scheidung bezogen, welche bereits zumindest ein Jahr vergangen ist, weitere Übergriffe wurden nicht dargelegt, sodass hier von keiner Bedrohung durch den Vater auszugehen ist. Dass die Behörden bei Minderjährigen nicht schutzfähig wären, sei aus den Unterlagen der Länderinformation nicht hervorgekommen. Auch die Gefahr einer Ableistung des Wehrdienstes sei unsubtantiiert vorgebracht worden. So sei aus den Länderinformationsblatte ersichtlich, dass nur ein Drittel der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden würden, sohin die Wahrscheinlichkeit gering, dass der BF eingezogen wird. Es gebe keine Rekrutierungsprobleme in der Russischen Föderation. Aus Tschetschenien werde nur rund ein paar hundert Rekruten einberufen. Auch sei aus der eingebrachten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation ersichtlich, dass es zu keinen Zwangsrekrutierungen für den Syrien oder Ukrainekrieg gebe, sodass auch hier die Argumentation des BF in die Leere gehe. Eine Wehrdienstverweigerung ohne Grund sei auch in Österreich strafbar. Auch seien in den letzten Jahren ausschließlich Geldstrafen verhängt worden und keine Haftstrafen. So sei insgesamt die Wahrscheinlichkeit nicht gegeben – auch auf die Steigerung zur Erstbefragung wurde hingewiesen – dass der BF gegen seinen Willen zur Armee eingezogen werden. Im Falle der Rückkehr könne sich der BF könne sich der BF wieder im Haus niederlassen, sein Vater habe dies auch gewünscht. Der BF könne einer Arbeit nachgehen und würde auch von den sozialen Unterstützungen des Staates profitieren, sodass er nicht in Gefahr läuft in eine aussichtlose Notlage zu geraten. So sei auch die Aufnahme in ein Kinderheim möglich. Es bestehe auch die Möglichkeit sich außerhalb Tschetscheniens sich niederzulassen. Aufgrund der Nichtwohnsitznahme beim Onkel und der Tante kann nicht von einem Familienleben iS des Art 8 EMRK ausgegangen werde. Der BF verfügt über keinerlei Barmittel, lebt von der Grundversorgung und stellte rechtsmissbräuchlich einen Antrag auf internationalen Schutz. Der BF konnte daher niemals vermuten, dass sein Asylantrag positiv beschieden wird. Es ist davon auszugehen, dass der BF auch weiterhin rechtsmissbräuchlich Anträge stellen wird. Daher war einerseits die Rückkehrentscheidung zu erlassen und ein Einreiseverbot in der Höhe von drei Jahren zu erlassen
1.6. Am 18.05.2021 wurde der BF aus der Grundversorgung entlassen und bezog Unterkunft bei seinem Onkel.
1.7. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den obsorgeberechtigten Onkel XXXX , mit Schriftsatz vom 27.05.2021 (eingebracht am 31.05.2021) fristgerecht vollumfänglich Beschwerde ein. Darin brachte er im Wesentlichen vor, dass für den BF als Kind die Kinderrechtskonvention (KRK) gelte und die Behörde es unterlassen habe in Bezug auf alles Spruchpunkte, diese Konvention zu berücksichtigen. Es sei das Wohl des Kindes zu berücksichtigen, welches bei der Gefahr durch die Gewaltanwendung des Vaters gegen ihn, nicht ausreichend gewürdigt wurde. Der BF laufe Gefahr durch seine Abneigung gegen die Wehrpflicht und daher der unterstellten politischen Gesinnung durch die Behörden verfolgt zu werden. Unter den Blickwinkel des jugendlichen Alters seien auch keine Steigerungen des Fluchtvorbringens hervorgekommen, zumal sich die Erstbefragung auch nicht auf den Fluchtgrund bezogen und zu beziehen hat. Der BF sei noch minderjährig und die Haftbedingungen in den Gefängnissen von Tschetschenien unmenschlich. Auch das Einreisverbot sei zu beheben, zumal auch mit der Rückkehrentscheidung nicht das Kindeswohl berücksichtigt wurde. Der BF wohne bei seinem Onkel, dieser sei obsorgeberechtigt und daher sei auch ein Familienverband gegeben. Daher bestehe eine außerordentlich gute Integration des BF und Verbundenheit zu Österreich. Bestritten wird auch die Umgehung des NAG durch die Asylantragstellung. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde beantragt.
Mitvorgelegt wurde:
? Beschluss des Bezirksgerichtes Salzburg, 41 Ps 53/21w-9
? Meldebestätigung mit Wohnort Abtenau, Markt 165 Top 9
? Einstellungszusage in ein unbefristetes Dienstverhältnis durch die Fa. XXXX vom 22.05.2021
1.8. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 01.06.2021 die Beschwerde samt zugehörigem Verwaltungsakt vor.
1.9. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl informiert mit Schreiben vom 21.06.2021, das Bundesverwaltungsgericht, dass der BF mit 15.06.2021 in die Grundversorgung aufgenommen wurde.
1.10. Das Bezirksgericht Salzburg teilte mit Schreiben vom 05.08.2021, 41 Ps 53/21w-17, mit, dass der Beschluss vom 30.04.2021 aufrecht ist, aber seit 24.07.2021 obsolet, da der BF volljährig ist.
1.11. Mit Schreiben vom 09.09.2021 erfolgte durch die BBU GmbH die Vorlage einer Vollmacht zur Vertretung durch den BF, ein Zeugenantrag und eine Stellungnahme zur Verhandlung am 14.09.2021. Zusammengefasst wurde vorgebracht, dass der BF aufgrund der Bedrohung durch seinen Vater von privater Seite einer Verfolgung ausgesetzt sei, diese könne nach ständiger Rechtsprechung des VwGH auch asylrelevanten Charakter im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK sein. Weiters stehe dem BF keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, da die Wehrdienstverweigerung, dazu führe, dass der BF von den russischen Behörden im gesamten Staatsgebiet der Verfolgung ausgesetzt sei. Der BF könne auch auf sich alleine gestellt keine Existenz aufbauen, da er aufgrund der Verärgerung seines Vaters nicht in das Elternhaus zurückkehren könne. In Österreich verfüge der BF über eine liebevolle Familie, zu welchen er ein inniges Verhältnis habe, dies zeige auch die beiliegenden Unterstützungserklärungen der Familie des Onkels. Bezüglich des Einreiseverbots werde darauf verwiesen, dass der BF bei Einreise über Geld verfügte und sein Onkel ihn finanziell unterstütze, zudem hätte der BF jederzeit Anspruch auf Grundversorgung und daher keinesfalls mittellos.
1.12 Am 14.09.2021 erfolgte eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Vorgelegt wurde:
? Bestätigung über den laufenden Kursbesuch bei der Vorbereitung auf den externen Pflichtschulabschluss
? Empfehlungsschreiben der Tante des BF
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister, der GVS und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:
1.1.1. Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Er ist volljährig, Staatsangehörige der Russischen Föderation, Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Er ist ledig und hat keine Kinder. Er spricht Russisch auf Schulniveau und Tschetschenisch auf muttersprachlichen Niveau, sowie ein wenig Deutsch.
1.1.2. Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in der Russischen Föderation, im Gebiet XXXX , Ort XXXX geboren und lebte dort bis zur Ausreise im Jahr 2020 mit seinem Vater im Privathaus. Er besuchte dort die 8 Jahre die Hauptschule und danach 2 Jahre ein Wirtschaftscollege in Grozny. Sein Vater kam für den Lebensunterhalt auf und war bis auf einen Tag in der Woche im restlichem Gebiet von Russland wohnhaft bzw. ging er einer Arbeit nach. Der Beschwerdeführer war aushilfsweise im Bereich der Verlegung von Gasleitungen berufstätig, jedoch nicht dauernd angestellt.
Der Beschwerdeführer hat von Österreich aus mit seiner Mutter 2 – 3-mal wöchentlich Kontakt und mit seiner Schwester und einem Freund einmal wöchentlich über Whats-App Kontakt. Mit seinem Vater hat er einmal in zwei Wochen Kontakt.
1.1.3. Der Beschwerdeführer hat insgesamt zwei Schwestern namens XXXX . Beide sind verheiratet und leben in derselben Ortschaft, wie der BF. Seine Eltern sind seit 2016 geschieden und seine Mutter lebt in einem Vorort von Grozny. Seine Großmutter lebt ebenfalls in Grozny. Seine Mutter arbeitet in einem Kindergarten. Sein Vater will nicht, dass der BF bei seiner Mutter lebt. Der BF hatte nur wenig Kontakt mit seiner Mutter.
1.1.4. Der Beschwerdeführer leidet an keiner schwerwiegenden oder lebensbedrohenden Krankheit.
1.2. Zur Situation des Beschwerdeführers in Österreich:
1.2.1. Der Beschwerdeführer stellte nach seiner Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 07.12.2020 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesamt wies den Antrag auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 03.05.2021 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation ab. Unter einem erteilte es keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation zulässig ist. Weiter erließ die Behörde ein auf drei Jahre befristetes Einreiseverbot. Der BF war bei Einreise minderjährig und wurde vom Land Salzburg als Träger der Kinder- und Jugendhilfe vertreten. Mit Beschluss des Bezirksgerichtes Salzburg, 41 Ps 53/21w-9, wurde den Eltern des BF die Obsorge vorläufig entzogen und dem Onkel XXXX vorläufig übertragen. Die Beschwerde gegen den gegenständlichen Bescheid wurde durch den Onkel eingebracht. Mit Volljährigkeit des BF erübrigte sich die Obsorgeübertragung und der BF bevollmächtigte die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen zur Vertretung im gegenständlichen Verfahren. Seit Zulassung dieses Verfahrens verfügt er über ein vorläufiges Aufenthaltsrecht im Rahmen des Asylverfahrens. Er verfügte nie über ein Aufenthaltsrecht außerhalb des Asylverfahrens.
1.2.2. Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig und in Österreich strafrechtlich unbescholten. Er lebt zurzeit bei seinem Onkel mütterlicherseits in Abtenau. Mit ihnen leben noch seine Tante und dessen Kinder. Der BF besucht zurzeit einen Vorbereitungskurs (Deutschkurs). Er hat wenige österreichische Freunde, spielt gerne Fußball und besucht den Kampfsportclub seines Onkels. Der BF hat eine Zusage für eine Arbeitsanstellung. Der Onkel unterstützt den BF mit Nahrungsmittel, Unterkunft, Bekleidung und Geldmitteln bei Bedarf. Der BF bezieht mit Ausnahme der Krankenversicherung keine Leistungen aus der Grundversorgung. Der BF verfügt über ca. € 200,00 an Barmittel. Der BF ist nicht in der Lage sich selbst zu erhalten und hat auch keinen Rechtsanspruch auf Unterhaltsleistungen. Es besteht eine geringe Gefahr, dass der BF versuchen wird die Unterhaltsmitteln aus illegalen Quellen zu beschaffen bzw. eine finanzielle Belastung für die Gebietskörperschaft – wie auch derzeit aufgrund der Krankenversicherung – zu sein.
1.2.3. Der Beschwerdeführer ist kein begünstigter Drittstaatsangehöriger und es kommt ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Sein Aufenthalt im Bundesgebiet war nie geduldet. Er war weder Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen noch sonst Opfer von Gewalt.
1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
1.3.1. Der Beschwerdeführer war und ist keiner konkreten und individuell gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch seinen Vater ausgesetzt. Der Beschwerdeführer ist in seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft, war dort nie inhaftiert, war kein Mitglied einer politischen Partei oder sonstigen Gruppierung, er hat sich nicht politisch oder journalistisch betätigt und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Herkunftsland. Der Beschwerdeführer hat die Russische Föderation weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität, noch wegen Lebensgefahr verlassen. Er reiste nach Österreich, um hier mit der Familie seines Onkels mütterlicherseits zu leben.
Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation droht dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch russische Behörden, durch seine Familie oder durch andere Personen.
1.3.2. Dem Beschwerdeführer droht in der Russischen Föderation keine Gefahr durch eine mögliche Heranziehung zum Wehrdienst. Ihm droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation auch keine Verfolgung wegen seiner Volksgruppen- und/oder Religionszugehörigkeit.
1.3.3. Ferner droht dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation wegen seines Antrags auf internationalen Schutz in Österreich und/oder wegen seines fast einjährigen Aufenthalts außerhalb der Russische Föderation weder Verfolgung noch sonst psychische oder physische Gewalt.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat:
1.4.1. Der Beschwerdeführer kann nach Tschetschenien oder auch an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens zB nach Saratov, Moskau, Omsk, Stawropol oder Wladiwostok zurückkehren.
Der Beschwerdeführer könnte im Falle seiner Rückkehr wieder ihm Haus seines Vaters wohnen, wie er es vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation tat.
1.4.2. Er verfügt über ein familiäres Netz in seinem Heimatstaat, das ihn früher bereits unterstützt hat, ist arbeitsfähig und gesund. Er lebte sein gesamtes Leben vor der Einreise nach Österreich in der Russischen Föderation und spricht perfekt Tschetschenisch und Russisch auf Schulniveau. Er schloss in seinem Herkunftsstaat eine 8-jährige Grundschule ab und absolvierte ein zweijähriges Wirtschaftscollege. Er verfügt mit der Arbeit bei seinem Nachbarn, Erfahrung als Hilfsarbeiter. Der Beschwerdeführer kann nach der Rückkehr seinen Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit sichern und wird in keine existenzgefährdende Notlage geraten bzw. es wird ihm nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen. Er läuft nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten. Überdies kann er auf das staatliche Sozialsystem oder auf die Unterstützung seines Onkels aus Österreich zurückgreifen.
Der Beschwerdeführer ist mit den russischen und tschetschenischen Gepflogenheiten vertraut und wurde mit diesen sozialisiert. Er lebt auch in Österreich weiterhin mit Verwandten aus Tschetschenien.
1.4.3. Im Falle der Abschiebung in den Herkunftsstaat ist der Beschwerdeführer nicht in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.
Der Beschwerdeführer leidet an keiner lebensbedrohenden physischen oder psychischen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankung und es besteht bei der Überstellung keine Gefahr, dass er in einen lebensbedrohenden Zustand gerät oder sich sein Zustand lebensgefährlich verschlechtert.
Er gehört auch keiner COVID-19-Risikogruppe an.
1.5. Die allgemeine Lage in der Russischen Föderation stellt sich im Übrigen wie folgt dar:
Länderinformation der Staatendokumentation zur Russischen Föderation aus dem COI-CMS (Country of Origin Information-Content Management System) vom 10.06.2021-Version 3:
1.5.1. Politische Lage
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 1.2021c; vgl. CIA 5.2.2021). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017). Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017, AA 21.10.2020c). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 1.2021a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.3.2020). Die Wahlbeteiligung lag der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 3.3.2021). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018). Wahlbetrug ist weit verbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BTI 2020). Präsident Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden (GIZ 1.2021a). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin, für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren (GIZ 1.2021a; vgl. FH 3.3.2021), dies gilt aber nicht für weitere Präsidenten (FH 3.3.2021). Die Volksabstimmung über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem sie aufgrund der Corona-Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der sogenannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 1.2021a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).
Der Föderationsrat ist als 'obere Parlamentskammer' das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten (GIZ 1.2021a): Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2021c). Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 1.2021a).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, welche die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern und die Partei der Volksfreiheit (PARNAS), eine demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 1.2021a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016, FH 3.3.2021). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die nächste Duma-Wahl steht im Herbst 2021 an (Standard.at 1.1.2021).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 1.2021a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 1.2021a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten Parteien waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer 'smarten Abstimmung' aufgerufen. Die Bürgersollten Jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
Neben den bis Juli 2021 verlängerten wirtschaftlichen Sanktionen wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes (Presse.com 10.12.2020) haben sich die EU-Außenminister wegen der Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny auf neue Russland-Sanktionen geeinigt. Die Strafmaßnahmen umfassen Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gegen Verantwortliche für die Inhaftierung Nawalnys (Cicero 22.2.2021).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.10.2020c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710, Zugriff 16.2.2021
? BTI - Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report, Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf, Zugriff 17.2.2021
? CIA – Central Intelligence Agency [USA] (5.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/russia/, Zugriff 16.2.2021
? Cicero (22.2.2021): EU bringt wegen Nawalny neue Russland-Sanktionen auf den Weg, https://www.cicero.de/aussenpolitik/vermoegenssperren-einreiseverbote-eu-alexej-nawalny-russland-sanktionen, Zugriff 24.2.2021
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Tschetschenien
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramsan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – die Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat ein Teil von ihnenTschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, beim anderen Teil handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2020). In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, FH 3.3.2021). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Ramsan Kadyrow wurde bei den Wahlen vom 18. September 2016 laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 6.2020). In Tschetschenien regiert Kadyrow unangefochten autoritär. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 3.3.2021; vgl. AA 2.2.2021). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 3.3.2021). Während der mittlerweile über zehn Jahre andauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramsan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute ’föderale Machtvertikale’ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum ’inneren Ausland’ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018). Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).
1.5.2. Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 7.4.2021a; vgl. GIZ 1.2021d, EDA 7.4.2021). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 7.4.2021a; vgl. EDA 7.4.2021). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 7.4.2021).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern (SWP 4.2017). Seitdem war der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken sollte (SWP 4.2017; vgl. Deutschlandfunk 29.9.2020). Der Einsatz in Syrien ist der größte und längste Auslandseinsatz des russischen Militärs seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zunächst sollten nur die Luftstreitkräfte die syrische Armee unterstützen. Bodentruppen wurden erst später und in geringerem Maße mobilisiert - in Form von Spezialeinheiten und schließlich am Ende des Feldzugs als Militärpolizei. Es gab auch Berichte über den Einsatz privater paramilitärischer Strukturen (DW 29.9.2020). Hier ist vor allem die 'Gruppe Wagner' zu nennen. Es handelt sich hierbei um einen privaten russischen Sicherheitsdienstleister, der nicht nur in Syrien, sondern auch in der Ukraine und in Afrika im Einsatz ist. Mithilfe solcher privaten Sicherheitsdienstleister lässt sich die Zahl von Verlusten des regulären russischen Militärs gering halten (BPB 8.2.2021), und der teure Einsatz sorgt dadurch in der russischen Bevölkerung kaum für Unmut (DW 29.9.2020).
In den letzten Jahren rückte eine weitere Tätergruppe in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpften, wurde auf einige Tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017). Erst im Oktober 2020 wurden bei Spezialoperationen zentralasiatische Dschihadisten in Südrussland getötet und weitere in Moskau und St. Petersburg festgenommen (SN 15.10.2020).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (7.4.2021a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederationsicherheit/201536#content_0 , Zugriff 7.4.2021
? BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (8.2.2021): Analyse: Söldner im Dienst autoritärer Staaten: Russland und China im Vergleich, https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/327198/soeldner-im-dienst-autoritaerer-staaten, Zugriff 8.4.2021
? Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 7.4.2021
? Deutschlandfunk (29.9.2020): An Russland kommt im Nahen Osten niemand mehr vorbei, https://www.deutschlandfunk.de/fuenf-jahre-russischer-militaereinsatz-in-syrien-an.724.de.html?dram:article_id=484951, Zugriff 8.4.2021
? DW - Deutsche Welle (29.9.2020): Russland im Syrien-Krieg: Gekommen, um zu bleiben, https://www.dw.com/de/russland-im-syrien-krieg-gekommen-um-zu-bleiben/a-55096554, Zugriff 8.4.2021
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? GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 7.4.2021
? SN - Salzburger Nachrichten (15.10.2020): Terrorzelle in Russland ausgeschaltet, https://www.sn.at/politik/weltpolitik/terrorzelle-in-russland-ausgeschaltet-94250941, Zugriff 8.4.2021
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 7.4.2021
Nordkaukasus
Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich das nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff 'low level insurgency' umschrieben (SWP 4.2017).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgen nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sogenannten IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. 2018 wurde laut dem Inlandsgeheimdienst FSB die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen mehr als halbiert. Auch 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Jedoch stellt ein Sicherheitsrisiko für Russland die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020).
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpften Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der 'Tschetschenisierung' wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für eine nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB Moskau 6.2020). Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 13.1.2020).
[Anmerkung Staatendokumentation:] Bitte vergleichen Sie hierzu auch alle Kapitel zur Allgemeinen Menschenrechtslage (einschließlich der Kapitel zu Tschetschenien, Dagestan und Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein).
Im Jahr 2020 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im gesamten Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] bei 56 Personen, davon wurden 45 getötet und 11 verwundet. 42 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Tschetschenien sind im Jahr 2020 insgesamt 18 Personen getötet und zwei verwundet worden. 15 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Dagestan sind im Jahr 2020 insgesamt neun Personen getötet und eine verwundet worden. Alle Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, die verwundete Person ist den Exekutivkräften zuzurechnen. Drei Getötete gab es in Kabardino-Balkarien und einen Getöteten in Inguschetien (Caucasian Knot 2.7.2020a, Caucasian Knot 2.7.2020b, Caucasian Knot 27.10.2020, Caucasian Knot 24.12.2020, Caucasian Knot 20.2.2021).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 8.4.2021
? ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (19.6.2019): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan, Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/#Toc489358424, Zugriff 9.4.2021
? Caucasian Knot (2.7.2020a): In January 2020, there were no victims of armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51356/, Zugriff 8.4.2021
? Caucasian Knot (2.7.2020b): In February and March 2020, four people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51357/, Zugriff 8.4.2021
? Caucasian Knot (27.10.2020): In Quarter 2 of 2020, 11 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/52582/, Zugriff 8.4.2021
? Caucasian Knot (24.12.2020): 15 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus in Q3 2020, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53177/, Zugriff 8.4.2021
? Caucasian Knot (20.2.2021): In Quarter 4 of 2020, 26 persons fell victim to armed conflict in North Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53738/, Zugriff 8.4.2021
? Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 9.4.2021
? ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf, Zugriff 8.4.2021
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 9.4.2021
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 8.4.2021
1.5.3. Rechtsschutz / Justizwesen
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte für Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsperson, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 6.2020). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 3.3.2021). Auch Korruption ist im Justizsystem ein Problem (EASO 3.2017, BTI 2020)
Das russische Justizsystem ist institutionell abhängig von den Untersuchungsbeamten, die häufig die Urteile bestimmen. Politisch wichtige Fälle werden vom Kreml überwacht, und Richter haben nicht genug Autonomie, um den Ausgang zu bestimmen (ÖB Moskau 6.2020). Die Personalkommission des Präsidenten und die Vorsitzenden des Gerichts kontrollieren die Ernennung und Wiederernennung der Richter des Landes, die eher aus dem Justizsystem befördert werden, als unabhängige Erfahrungen als Anwälte zu sammeln. Änderungen der Verfassung, die im Jahr 2020 verabschiedet wurden, geben dem Präsidenten die Befugnis, mit Unterstützung des Föderationsrates, Richter am Verfassungsgericht und am Obersten Gerichtshof zu entfernen, was die ohnehin mangelnde Unabhängigkeit der Justiz weiter schädigt (FH 3.3.2021).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen von Ende 2018, rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen, und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen. Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 6.2020).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das zur Untergrabung der Souveränität Russlands missbraucht werde (ÖB Moskau 6.2020). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, USDOS 11.3.2020). Im Juli 2020 wurde diese Rechtsposition auch in der Verfassung verankert und dem russischen Verfassungsgerichtshof das Recht eingeräumt, Urteile zwischenstaatlicher Organe nicht umzusetzen, wenn diese in ihrer Auslegung der Bestimmungen zwischenstaatlicher Verträge nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Die Venedig-Kommission des Europarates gab eine Stellungnahme zu den damaligen Entwürfen für Verfassungsänderungen ab. Die Kommission bekräftigte ihre Ansicht, dass die Befugnis des Verfassungsgerichts, ein Urteil des EGMR für nicht vollstreckbar zu erklären, den Verpflichtungen Russlands aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widerspricht (HRW 13.1.2021). Mit Ende 2019 waren beim EGMR 15.050 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2019 wurde die Russische Föderation in 186 Fällen wegen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und wegen unmenschlic