Entscheidungsdatum
23.09.2021Norm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13Spruch
W152 2169133-1/12E
W152 2169135-1/14E
W152 2169132-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Walter KOPP über die Beschwerden des 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , und 3. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Mongolei, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 10.08.2017, Zlen. 1099770309-152031002 (ad. 1), 1099770603-152031015 (ad 2.) und 1099770810-152031045 (ad 3.), nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 29.07.2021
A)
beschlossen:
I. Die Verfahren werden wegen Zurückziehung der Beschwerden gemäß § 13 Abs. 7 AVG idgF iVm §§ 28 Abs. 1 und 31 Abs. 1 VwGVG idgF hinsichtlich der jeweiligen Spruchpunkte I und II der angefochtenen Bescheide eingestellt.
zu Recht erkannt:
II. Den Beschwerden wird jeweils hinsichtlich der Spruchpunkte III der angefochtenen Bescheide stattgegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung jeweils gemäß
§ 52 FPG idgF iVm § 9 BFA-VG idgF auf Dauer unzulässig ist. XXXX und XXXX werden jeweils gemäß §§ 58 Abs. 2, 54 Abs. 1 Z 2 und 55 Abs. 2 AsylG 2005 idgF die Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ und XXXX gemäß §§ 58 Abs. 2, 54 Abs. 1 Z 1 und 55 Abs. 1 AsylG 2005 idgF iVm § 9 Abs. 4 letzter Satz IntG idgF iVm § 10 Abs. 2 Z 5 IntG idgF der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt.
III. Die jeweiligen Spruchpunkte IV der angefochtenen Bescheide werden gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG idgF ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist jeweils gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG idgF nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Beschwerdeführer reisten jeweils am 19.12.2015 in das Bundesgebiet ein und stellten jeweils am 20.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, wies dann mit den im Spruch genannten Bescheiden jeweils die Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des bzw. der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm
§ 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 wurden jeweils die Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des bzw. der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Mongolei abgewiesen (Spruchpunkt II), wobei weiters ausgesprochen wurde, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Antragsteller gemäß § 46 FPG in die Mongolei zulässig sei (Spruchpunkt III). Gemäß
§ 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise jeweils zwei Wochen (Spruchpunkt IV).
Gegen die zuletzt genannten Bescheide wurden fristgerecht Beschwerden erhoben.
Im Rahmen der vor dem Bundesverwaltungsgericht am 29.07.2021 vorgenommenen Verhandlung zog der Vertreter der Beschwerdeführer die Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte I und II der angefochtenen Bescheide zurück.
Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Feststellungen (Sachverhalt):
Die strafgerichtlich unbescholtenen Beschwerdeführer, Staatsangehörige der Mongolei, leben nunmehr seit 19.12.2015 – somit seit mehr als fünfeinhalb Jahren – ohne Unterbrechung im Bundesgebiet, wobei dem (legalen) Aufenthalt der Beschwerdeführer (nahezu) ausnahmslos die Verfahren hinsichtlich der jeweils am 20.12.2015 gestellten Anträge auf internationalen Schutz einschließlich Rückkehrentscheidungen zu Grunde lagen.
Der Erstbeschwerdeführer ist der Ehegatte der Zweitbeschwerdeführerin, wobei diese Ehe bereits in der Mongolei bestand. Die Drittbeschwerdeführerin ist ihre gemeinsame Tochter.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin verfügen nach Besuch von Deutschkursen jedenfalls über Deutschkenntnisse, die die Bewältigung des Alltagslebens ermöglichen. Die Drittbeschwerdeführerin verfügt aufgrund des Besuches der Handelsschule und Handelsakademie bereits über ausgezeichnete Deutschkenntnisse. Die Deutschkenntnisse der Beschwerdeführer wurden in der vor dem Bundesverwaltungsgericht vorgenommenen Verhandlung auch unter Beweis gestellt, wobei bei der Einvernahme der Drittbeschwerdeführerin auf die Beiziehung der Dolmetscherin zur Gänze verzichtet werden konnte.
So konnte die Drittbeschwerdeführerin – entscheidungswesentlich – bereits im Schuljahr 2017/18 als Schülerin der ersten Klasse (9. Schulstufe) der (Schulart) Handelsschule an der Bundeshandelsakademie und Bundeshandelsschule, XXXX , XXXX , im Pflichtgegenstand Deutsch eine Beurteilung mit „Gut“ erzielen, wobei im Übrigen die erste Klasse mit gutem Erfolg abgeschlossen wurde. Nunmehr besucht die Drittbeschwerdeführerin am oben genannten Standort die (Schulart) Handelsakademie, wobei sie im Schuljahr 2020/2021 den dritten Jahrgang abschloss und zum Aufsteigen in den vierten Jahrgang berechtigt ist.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin gehen einer Beschäftigung im Rahmen von Dienstleistungsschecks für XXXX , XXXX , XXXX , nach, wobei der Erstbeschwerdeführer im Februar 2021 € 200,--, im März 2021 € 50,--, im April 2021 € 150,--, im Mai 2021 € 100,--, im Juni 2021 € 50,-- und im Juli 2021 € 100,-- verdiente. Die Zweitbeschwerdeführerin brachte hiebei im November 2020 € 50,--, im Dezember 2020 € 100,--, im Jänner 2021 € 250,--, im Februar 2021 € 100,--, im März 2021 € 150,--, im April 2021 € 150,--, im Mai 2021 € 150,--, im Juni 2021 € 100,-- und im Juli 2021 € 100,-- ins Verdienen. Der Erstbeschwerdeführer verrichtete hiebei hauptsächlich Garten- und Stallarbeit und die Zweitbeschwerdeführerin übernahm in erster Linie Reinigungsarbeiten.
Für den Erstbeschwerdeführer liegen bereits mehrere (aufschiebend bedingte) Dienstverträge vor, wobei ein mit 19.07.2021 datierter Dienstvertrag der Baufirma XXXX , XXXX , XXXX , einen monatlichen Bruttolohn von € 2.210,51,-- (39 Stunden) für eine Tätigkeit als Bauhilfsarbeiter vorsieht. Ein mit 05.06.2021 datierter Dienstvertrag der XXXX GmbH, XXXX (Wirtshaus), XXXX , XXXX , weist einen monatlichen Bruttolohn von € 1.750,-- (40 Stunden) für eine Tätigkeit als Hilfskraft im Gastgewerbe auf. In beiden Fällen wäre schon allein dadurch die Existenz für den Erstbeschwerdeführer und auch seiner Familie gesichert. Aber auch für die Zweitbeschwerdeführerin liegt bereits ein (aufschiebend bedingter) Dienstvertrag vom 15.06.2021 des XXXX GmbH, XXXX , vor, der einen monatlichen Bruttolohn von € 895,-- (20 Stunden) für eine Tätigkeit als Reinigungskraft beinhaltet. Weiters liegt ein mit 15.07.2021 datierter Arbeitsvorvertrag der (bereits oben genannten) XXXX vor, der einen monatlichen Bruttolohn von € 772,23,-- (20 Stunden) für eine Tätigkeit als Landarbeiterin für Haus, Hof, Feld und Stall vorsieht.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben bereits aber auch gemeinnützige Tätigkeiten verrichtet, wobei beide Beschwerdeführer vom 12.08.2019 bis 25.11.2019 insgesamt jeweils 20 Stunden Freiwilligenarbeit im XXXX XXXX , XXXX , geleistet haben. Der Erstbeschwerdeführer verrichtet bereits seit Juli 2017 gemeinnützige Hilfstätigkeiten im Rahmen der Wirtschaftsbetriebe XXXX und zwar insbesondere im Bereich der Grünraumpflege im gesamten Stadtgebiet.
Die Beschwerdeführer haben in Österreich bereits einen Freundes- und Bekanntenkreis, der auch aus Österreichern besteht, gewonnen.
Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und durch die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 29.07.2021.
Die Feststellungen zu den Beschwerdeführern ergeben sich insbesondere aus ihren im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung erstatteten glaubwürdigen Vorbringen und den in den Verfahren vorgelegten Urkunden, wobei insbesondere der als Farbkopie im Verwaltungsakt einliegende mongolische Führerschein („Mongolian Professional Driver`s License“) des Erstbeschwerdeführers und der ebenfalls als Farbkopie im Verwaltungsakt einliegende mongolische Führerschein („Permis de Conduire“) der Zweitbeschwerdeführerin, die hg. (in Kopie) vorgelegten mongolischen Personalausweise („Citizen Identity Card of Mongolia“) des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin, ihre hg. (in Kopie) vorgelegte mongolische Heiratsurkunde einschließlich Übersetzung, die hg. (in Kopie) vorgelegte mongolische Geburtsurkunde der Drittbeschwerdeführerin, das entscheidungswesentliche – auch im Original vorgelegte – für die Drittbeschwerdeführerin ausgestellte Jahreszeugnis für das Schuljahr 2017/18 der Bundeshandelsakademie und Bundeshandelsschule, Schulart Handelsschule, XXXX , XXXX , das für die Drittbeschwerdeführerin ausgestellte Jahreszeugnis für das Schuljahr 2020/21 der Handelsakademie, dritter Jahrgang, am oben genannten Standort, die Nachweise über eingelöste Dienstleistungsschecks des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin (jeweils erstellt am 17.07.2021), die in den Feststellungen angeführten (aufschiebend bedingten) Dienstverträge des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin bzw. der Arbeitsvorvertrag der Zweitbeschwerdeführerin, die Bestätigung des Magistrates der Stadt XXXX vom 19.07.2017 über die gemeinnützige Hilfstätigkeit des Erstbeschwerdeführers, die Bestätigung des XXXX vom 21.06.2021 über die freiwillig geleistete Arbeit des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin und zahlreiche Empfehlungsschreiben für die Beschwerdeführer hervorzuheben sind.
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit der Beschwerdeführer ergibt sich aus den jeweiligen Einsichtnahmen in das Strafregister (SA).
Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz, BGBl. I Nr. 10/2013 (BVwGG), entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I 33/2013 idgF (VwGVG), geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, unberührt.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991, BGBl. 51/1991 (AVG), mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961 (BAO), des Agrarverfahrensgesetzes, BGBl. Nr. 173/1950 (AgrVG), und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984, BGBl. Nr. 29/1984 (DVG), und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.
Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.
Zu Spruchpunkt A):
I.)
Gemäß § 13 Abs. 7 AVG können Anbringen in jeder Lage des Verfahrens zurückgezogen werden.
In welchen Fällen das Verfahren einzustellen ist, regelt das VwGVG nicht. Die Einstellung steht am Ende jenes Verfahrens, in denen ein Erledigungsanspruch nach Beschwerdeeinbringung verloren geht, worunter auch der Fall der Zurückziehung der Beschwerde zu subsumieren ist (vgl. Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren, 2. Aufl. [2018] § 28 VwGVG, Anm. 5).
Ein beim Verwaltungsgericht anhängiges Beschwerdeverfahren ist mit Beschluss einzustellen, wenn die Beschwerde rechtswirksam zurückgezogen wird (z.B. VwGH 29.04.2015,
Fr 2014/20/0047).
Da der Vertreter der Beschwerdeführer die Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte I und II der angefochtenen Bescheide zurückgezogen hat, sind diese rechtskräftig geworden und die diesbezüglichen Verfahren gemäß § 13 Abs. 7 AVG iVm §§ 28 Abs. 1 und 31 Abs. 1 VwGVG mit Beschluss einzustellen.
II.)
§ 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG idgF lautet:
„(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.“
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem auch, dass das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer „Familie“ voraussetzt.
Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität erreichen. Als Kriterien hiefür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 31110/67, Yb 11, 494(518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde auch von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Art. 8 EMRK macht zwischen ehelicher und nichtehelicher Familie keinen Unterschied (EGMR 13.06.1979, 6833/74, Marckx gg Belgien, Z 31; EGMR 27.10.1994, 18535/91, Kroon und andere gg die Niederlande). Familienleben ist jedoch nicht auf Beziehungen beschränkt, die auf einer Ehe beruhen (EGMR 26.05.1994, 16.969/90, Keegan vs Irland, EGMR 13.07.2000, 25.735/94, Elsholz gg Deutschland) und umfasst daher auch eheähnliche Lebensgemeinschaften zwischen Mann und Frau.
Bei der Prüfung der Zulässigkeit von Ausweisungen und dem damit verbundenen Eingriff in das Privat- und Familienleben hat eine Einzelfallprüfung zu erfolgen, die sich nicht in der formelhaften Abwägung iSd Art. 8 EMRK erschöpfen darf, sondern auf die individuelle Lebenssituation des von der Ausweisung Betroffenen eingehen muss. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 29.09.2007, B328/07, dargelegt hat, lassen sich aus der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes eine Vielzahl von Kriterien ableiten, die bei der gebotenen Interessensabwägung zu beachten sind. Dazu zählen vor allem die Aufenthaltsdauer, die an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft ist (EGMR vom 31.01.2006, 50.435/99), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR vom 28.05.1985, 9214/80, 9473/81, 9474/81 ua.) und dessen Intensität (EGMR vom 02.08.2001, 54.273/00), der Grad der Integration, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schul- oder Berufsausbildung, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (EGMR vom 04.10.2001, 43.359/98 ua.), die Bindung zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und die Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR vom 24.11.1998, 40.447/98 ua.) und die Frage, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (EGMR vom 24.11.1998, 40.447/98 ua.).
Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (VwGH 26.02.2015, Ra 2015/22/0025; VwGH 19.11.2014, 2013/22/0270). Auch in Fällen, in den die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag, hat der VwGH eine entsprechende Berücksichtigung dieser langen Aufenthaltsdauer gefordert (VwGH 16.12.2014, 2012/22/0169; VwGH 09.09.2014, 2013/22/0247; VwGH 30.07.2014, 2013/22/0226). Im Fall, dass ein insgesamt mehr als zehnjähriger Inlandsaufenthalt für einige Monate unterbrochen war, legte der VwGH seine Judikatur zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehnjährigen Inlandaufenthalt des Fremden zugrunde (VwGH 26.03.2015, Ra 2014/22/0078 bis 0082).
Da die strafgerichtlich unbescholtenen Beschwerdeführer nunmehr bereits seit
19.12.2015 – somit seit mehr als fünfeinhalb Jahren – ohne Unterbrechung in Österreich leben, wobei dem (legalen) Aufenthalt der Beschwerdeführer (nahezu) ausnahmslos ihre Asylverfahren zu Grunde lagen, über Deutschkenntnisse verfügen, die die Bewältigung des Alltagslebens ermöglichen, wobei die Drittbeschwerdeführerin sogar über ausgezeichnete Deutschkenntnisse verfügt – so schloss sie bereits die 9. Schulstufe an der Handelsschule im Pflichtgegenstand Deutsch mit der Beurteilung „Gut“ ab – und nunmehr die Handelsakademie besucht, wobei sie im Schuljahr 2020/21 den dritten Jahrgang abschloss, der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin einer Beschäftigung im Rahmen von Dienstleistungsschecks nachgehen, für den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin bereits auch (aufschiebend bedingte) Dienstverträge vorliegen, die die Existenzsicherung der Beschwerdeführer gewährleisten, der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin aber auch gemeinnützige Tätigkeiten ausübten und die Beschwerdeführer in Österreich einen Freundes- und Bekanntenkreis, der auch aus Österreichern besteht, gewinnen konnten, wobei die Interessen der Beschwerdeführer insbesondere angesichts der bereits langen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet somit die öffentlichen Interessen überwiegen, würde eine Rückkehrentscheidung jeweils eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen. Daraus ergibt sich, dass die vorliegenden Umstände nicht bloß vorübergehende sind, weshalb die Rückkehrentscheidungen auf Dauer als unzulässig festzustellen sind.
Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 ist von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird.
Aus den Erläuterungen zur Regierungsvorlage zum FrÄG 2015 ergibt sich hiezu, dass damit zusätzlich klargestellt werden soll, dass auch das Bundesverwaltungsgericht – in jeder Verfahrenskonstellation – über einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 absprechen darf. Es handelt sich hiebei jedoch nicht um eine Einräumung einer amtswegigen Entscheidungszuständigkeit für das Bundesverwaltungsgericht, welche entsprechend dem Prüfungsbeschluss des VfGH vom 26. Juni 2014 (E 4/2014) als unzulässig zu betrachten wäre, da die Frage der Erteilung des Aufenthaltstitels diesfalls vom Prüfungsgegenstand einer angefochtenen Rückkehrentscheidung mitumfasst ist und daher in einem zu entscheiden ist.
Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 ASVG) erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist gemäß Abs. 2 eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.
Gemäß § 81 Abs. 36 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) gilt das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG als erfüllt, wenn Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 68/2017 vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 68/2017 erfüllt haben oder von der Erfüllung ausgenommen waren. Die §§ 7 bis 16 Integrationsgesetz, BGBl. Nr. 68/2017, mit Ausnahme von § 13 Abs. 2 traten mit 01.10.2017 in Kraft.
Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung war gemäß § 14a Abs. 4 NAG idF vor dem Bundesgesetz, BGBl. Nr. 68/2017, erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige einen Deutsch-Integrationskurs besucht und einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über den erfolgreichen Abschluss des Deutsch-Integrationskurses vorlegt (Z 1), einen allgemein anerkannten Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse gemäß § 14 Abs. 2 Z 1 NAG vorlegt (Z 2), über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 des Universitätsgesetzes 2002, BGBl. I 120, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht (Z 3) oder einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte“ gemäß § 41 Abs. 1 oder 2 NAG besitzt (Z 4).
Die Beschwerdeführer erfüllen somit jedenfalls die Voraussetzung des § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005.
Gemäß § 9 Abs. 4 letzter Satz IntG beinhaltet die Erfüllung des Moduls 2 (§ 10) das Modul 1.
Gemäß § 10 Abs. 2 Z 5 IntG ist das Modul 2 der Integrationsvereinbarung erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige u.a. das Unterrichtsfach „Deutsch“ auf dem Niveau der 9. Schulstufe positiv abgeschlossen hat.
Gemäß § 54 Abs. 1 AsylG 2005 werden Drittstaatsangehörigen folgende Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt:
1. „Aufenthaltsberechtigung plus", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG), BGBl. Nr. 218/1975 berechtigt;
2. „Aufenthaltsberechtigung", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt;
3. „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt.
Gemäß Abs. 2 leg. cit. sind diese Aufenthaltstitel für die Dauer von zwölf Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen.
Da der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin jeweils die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 erfüllen, jedoch jeweils nicht die Voraussetzungen zur Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm § 81 Abs. 36 NAG vorliegen, ist ihnen somit gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.
Da die Drittbeschwerdeführerin das Unterrichtsfach „Deutsch“ auf dem Niveau der 9. Schulstufe positiv abgeschlossen hat, erfüllt sie gemäß § 10 Abs. 2 Z 5 IntG das Modul 2 der Integrationsvereinbarung und somit iVm § 9 Abs. 4 letzter Satz IntG (auch) die Voraussetzung gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 zur Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“, weshalb ihr somit gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen ist.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat den Beschwerdeführern die Aufenthaltstitel gemäß § 58 AsylG 2005 auszufolgen. Die Aufenthaltstitel gelten gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 zwölf Monate lang, beginnend mit dem Ausstellungsdatum.
III.)
Im Hinblick auf Spruchpunkt A) II. der gegenständlichen Entscheidung waren die jeweiligen Spruchpunkte IV der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos zu beheben.
Zu Spruchpunkt B):
Gemäß § 25a Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985, BGBl. Nr. 1985/10 idgF (VwGG), hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung; die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Schließlich liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Hiebei wird einerseits auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf die Eindeutigkeit der Rechtslage und andererseits darauf verwiesen, dass der gegenständliche Fall ohnedies maßgeblich auf der Tatsachenebene zu beurteilen war.
Aufgrund der Deutschkenntnisse der Beschwerdeführer war die Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung iSd § 12 Abs. 1 BFA-VG idgF entbehrlich.
Schlagworte
Aufenthaltsberechtigung Aufenthaltstitel Familienverfahren Integration mangelnder Anknüpfungspunkt Spruchpunktbehebung Verfahrenseinstellung Voraussetzungen Wegfall der Gründe Zurückziehung der BeschwerdeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W152.2169133.1.00Im RIS seit
17.12.2021Zuletzt aktualisiert am
17.12.2021