Entscheidungsdatum
23.09.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
G305 2164369-2/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dr. Ernst MAIER, MAS als Einzelrichter über die Beschwerde des irakischen Staatsangehörigen XXXX, geboren am XXXX, vertreten durch Mag.a Sarah MOSCHITZ-KUMAR, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Schießstattgasse 30/1, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX.2018, Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17.09.2021 zu Recht erkannt:
A) Der Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wird als unzulässig zurückgewiesen.
B) Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. wird als unbegründet abgewiesen.
C) Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und Spruchpunkt IV. ersatzlos behoben.
D) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Erstverfahren:
1.1. Am XXXX.2015 stellte der zum Aufenthalt im Bundesgebiet nicht berechtigte Beschwerdeführer (BF), vor Organen der öffentlichen Sicherheitsbehörde erstmalig einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete er bei seiner Einvernahme damit, wegen seiner äußeren Erscheinung (er ziehe sich modern an und habe lange Haare) von unbekannten Milizen bedroht worden zu sein.
1.2. Am 26.01.2018 wurde der BF ab 08:00 Uhr durch Organe des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA oder belangte Behörde) einvernommen. Dabei gab er zusammengefasst an, er habe den Irak bereits von 2004 bis Juli 2013 verlassen und in Syrien als XXXX gearbeitet. Ob des dort beginnenden Krieges habe er sich zur Rückkehr in den Irak entschlossen. Zuletzt habe er den Irak verlassen, weil er XXXX sei, Alkohol trinke und eine Dreiviertelhose trage. Wegen seiner langen Haare sei er in XXXX von Milizen, namentlich Mitgliedern der ehemaligen Al Mahdi Armee und einem „Scheich Basem“, bedroht worden und habe man ihm verboten, Männern die Haare modern zu schneiden. Auch habe man ihm gedroht, weil er für ein Unternehmen gearbeitet habe, welches Alkohol verkauft habe.
1.3. Mit Bescheid der belangten Behörde vom vom XXXX.2017, Zl. XXXX wies das BFA den Antrag des BF vom XXXX.2015 hinsichtlich des Antrages auf Erteilung von internationalem Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.) und sprach aus, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt werde, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und festgestellt werde, dass die Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiter wurde ausgesprochen, dass die Frist für seine freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.). Die belangte Behörde begründete die Entscheidung im Kern damit, dass es dem BF nicht gelungen sei, eine asylrelevante Bedrohung glaubhaft zu machen.
1.4. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 27.02.2018, GZ: L513 2164369-1/4E, als unbegründet abgewiesen da nicht habe erkannt werden können, dass der BF einer individuellen Verfolgung ausgesetzt gewesen sei; auch habe es keine Hinweise auf eine Gruppenverfolgung gegeben. Die Tätigkeit als XXXX und seine westliche Orientierung würden im Rückkehrfall keine maßgebliche Gefährdung begründen. Auch habe nicht festgestellt werden können, dass der BF bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte. Er sei ein erwachsener, arbeitsfähiger gesunder Mann mit mehrjähriger Schulbildung; die Teilnahme am Erwerbsleben könne daher vorausgesetzt werden. Zudem könne ihm durch seinen Familienverband ausreichende wirtschaftliche und soziale Unterstützung zu Teil werden.
1.5. Die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis erhobene Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH) wurde durch diesen mit Beschluss vom XXXX, XXXX, abgelehnt, da diese keine hinreichende Aussicht auf Erfolg gehabt hätte oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten gewesen wäre. Das BVwG habe weder grundrechtswidrige Gesetzesauslegung vorgenommen, noch seien ihm grobe Verfahrensfehler unterlaufen.
Zweitverfahren:
2.1. Bereits am XXXX.2018, sohin während des Beschwerdeverfahrens vor dem VfGH, stellte der BF einen Folgentrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete er damit, dass sein Bruder im Irak von Milizen misshandelt worden sei, da dieser mit ihm (Anm.: dem BF) verwechselt worden sei. Man habe ihn selbst schlagen wollen und er habe daher Angst, nach XXXX zurückzukehren. Er habe Fotos, welche die Misshandlung seines Bruders belegen würden.
2.2. Am 27.09.2018 wurde der BF ab 08:45 Uhr durch Organe des BFA einvernommen. Hierbei gab er an, unter Asthmaanfällen zu leiden und deshalb während seiner Schubhaft stündlich einen Asthmaspray verwendet zu haben, obwohl nur eine zweimalige Einnahme täglich verschrieben worden sei. Anlässlich seiner Einvernahme legte der BF Fotos vor, welche die Misshandlung seines Bruders und damit auch die ihm selbst drohenden Gefahren bestätigen würden.
Zu seinen Fluchtgründen führte er aus, dass sein Leben im Irak nach wie vor in Gefahr sei und dass er für den Fall seiner Heimkehr getötet werden würde. Die Misshandlung seines Bruders würde dies verdeutlichen. Dieser sei einmal verfolgt worden und bei einer zweiten Gelegenheit habe man ihn (Anm.: den Bruder des BF) für vier Tage festgehalten und misshandelt. Man habe ihm gedroht, nicht ins Spital zu gehen und auch keine Anzeige zu erstatten. Hinter den Vorfällen stecke die Asa‘ib Ahl al-Haqq. Erst später, während der Einvernahme, gab der BF an, dass er hauptsächlich wegen seiner Tätigkeit in einer von Christen geführten Alkoholproduktionsfabrik bedroht worden sei.
2.3. Mit Bescheid der belangten Behörde vom vom XXXX.2018, Zl. XXXX wies das BFA den Folgeantrag des BF vom XXXX.2018 hinsichtlich des Antrages auf Erteilung von internationalem Schutz gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkt I.) und sprach aus, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt werde, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und festgestellt werde, dass die Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.). Weiter wurde ausgesprochen, dass eine Frist für seine freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1a FPG nicht bestehe (Spruchpunkt III.). Zusätzlich wurde gegen den BF gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG ein auf zwei Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV.). Die belangte Behörde begründete die Entscheidung im Kern damit, dass es dem BF wiederholt nicht gelungen sei, eine asylrelevante Bedrohung glaubhaft zu machen. Er habe keine gleichlautenden Angaben zu den Lebensumständen seines Bruders machen können und sei ob der vorgelegten Fotos nicht objektivierbar, woher die Verletzungen des Bruders herrühren würden. Ein glaubhafter geänderter Sachverhalt sei nicht dargestellt worden und habe sich im Hinblick auf das Erstverfahren des BF kein neuer Sachverhalt dargestellt, welcher nach Abschluss des vorherigen Asylverfahrens entstanden wäre. Da der BF seiner Ausreiseverpflichtung beharrlich nicht nachgekommen und auch eine Beugestrafe über den BF verhängt worden sei um ihn zur Erlangung eines Heimreisedokuments zu bewegen müsse davon ausgegangen werden, dass er sich in Zukunft nicht der österreichischen Rechtsordnung unterwerfen werde und die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährde. Er habe zudem einen unbegründeten und missbräuchlichen Asylantrag gestellt weshalb ein Einreiseverbot gegen ihn zu erlassen gewesen sei.
2.4. Zuletzt erhob der BF durch seine damalige Rechtsvertretung mit Schreiben vom 15.10.2018 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Die Beschwerde verband er einerseits mit der Anfechtungserklärung, den Bescheid vollumfänglich anfechten zu wollen, andererseits mit den Anträgen 1.) der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, 2.) eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen, 3.) den angefochtenen Bescheid hinsichtlich seines Spruchpunktes I. zu beheben und die Sache zur Durchführung eines materiellen Verfahrens zurückzuverweisen, 4.) Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids zu beheben bzw. in eventu dahingehend abzuändern, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt und ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt werde, 5.) den angefochtenen Bescheid zu beheben und die Rückkehrentscheidung sowie das Einreiseverbot aufzuheben, 6.) in eventu die Dauer des Einreiseverbotes zu reduzieren und 7.), in eventu den angefochtenen Bescheid zur Gänze zu beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Erlassung eines Bescheides an das Bundesamt zurückzuverweisen. In der Beschwerde brachte der Beschwerdeführer vor, dass die belangte Behörde ihre Feststellungen anhand einer unschlüssigen Beweiswürdigung getroffen habe und dass sie zu Unrecht davon ausgehe, dass es seit dem ersten Bescheid gegen den BF keine wesentlichen Änderungen gegeben habe. Zusätzlich sei das gegen den BF erlassene Einreiseverbot rechtswidrig, da sich die belangte Behörde diesbezüglich lediglich auf die Verwendung von Textbausteinen gestützt habe und eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt fehle.
2.5. Am 18.10.2018 legte die belangte Behörde die vorliegende Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor und beantragte zugleich, diese als unbegründet abzuweisen.
2.6. Mit Eingabe vom 03.09.2021 langte die Vollmachtsbekanntgabe der im Kopf genannten Rechtsvertreterin beim BVwG ein.
2.7. Mit Eingabe vom 15.09.2021 langten seitens des BFA die im Zuge der Niederschrift vom 27.09.2018 vorgelegten Fotografien des Bruders des BF beim BVwG ein.
2.8. Am 17.09.2021 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers durchgeführt. Bei dieser waren neben einer Dolmetscherin für die arabische Sprache die Rechtsvertreterin des BF und die Lebensgefährtin des BF, XXXX, anwesend; Vertreter der belangten Behörde erschienen nicht. XXXX wurde über einen von der Rechtsvertreterin des BF am Schluss der Verhandlung gestellten Antrag als Zeugin einvernommen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Identitätsfeststellungen
Der BF führt die im Urteilskopf angegebene Identität und wurde am XXXX in XXXX geboren; er ist irakischer Staatsangehöriger. Er gehört der Ethnie der Araber an und ist keiner konkreten Religionsgemeinschaft zugehörig, wobei seine im Irak lebenden Familienmitglieder allesamt Schiiten sind. Er verfügt höchstens über minimalste Deutschkenntnisse.
Seit dem XXXX.2015 hat er den Hauptwohnsitz im Bundesgebiet (seit dem XXXX.2020 an der Anschrift XXXX).
In Österreich und dem Rest Europas leben keine Verwandten des BF.
Er ist ledig und kinderlos; er führt seit knapp zwei Jahren eine Beziehung mit der irakischen Staatsangehörigen, XXXX, geboren am XXXX, wohnhaft in XXXX. Es besteht jedoch kein gemeinsamer Haushalt bzw. eine eheähnliche Lebensgemeinschaft. Sie verfügt nach ihren Angaben über einen Asylstatus im Bundesgebiet. Ein gemeinsamer Haushalt besteht nicht, ebensowenig eine gegenseitige Abhängigkeit persönlicher oder finanzieller Natur. XXXX lebt in einem gemeinsamen Haushalt mit ihren beiden Töchtern XXXX, geboren XXXX, und XXXX, geboren XXXX. Bei diesen Töchtern handelt es sich um Kinder aus einer früheren Beziehung der XXXX.
1.2. Zur Ausreise, Reise, Einreise des Beschwerdeführers in Österreich und seiner darauffolgenden Asylantragstellung:
Vor seiner Ausreise aus dem Irak lebte der BF in XXXX.
Zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt verließ er den Irak und stellte er am XXXX.2015 im Bundesgebiet erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz.
Eine von den öffentlichen Sicherheitsbehörden durchgeführte EURODAC-Abfrage verlief positiv und brachte zwei Treffer zu Griechenland.
1.3. Zur individuellen Situation des Beschwerdeführers im Heimatstaat:
In seiner Heimat besuchte der BF die Schule bis zu neunten Klasse Mittelschule; nachdem er diese beendet hatte, arbeitete er als XXXX in seinem eigenen Geschäft im XXXX Stadtteil XXXX. Von 1994 bis 1999 arbeitete er in einem Unternehmen, welches alkoholische Getränke herstellte; zudem konsumierte er Alkohol.
Die Eltern des BF sind in XXXX wohnhaft. Sie leben von der Pension des Vaters und dem Erlös des Geschäftsverkaufes des BF, seine Mutter ist schwer krank. Zwei Schwestern des BF leben in den Vereinigten Staaten von Amerika. Vier Brüder des BF leben in Damaskus/Syrien, der mutmaßlich misshandelte Bruder lebt in XXXX. Die vier Schwestern des BF sind allesamt verheiratet und leben diese mit ihren jeweiligen Ehemännern im ehemaligen Wohnbezirk des BF. Die Familienmitglieder des BF gehören der schiitisch-muslimischen Glaubensgemeinschaft an, die Ehegatten der Schwestern sind teils Sunniten, teils Schiiten. Die in Damaskus lebenden Brüder sind teilweise verheiratet mit sunnitischen Musliminnen.
Weitschichtige Verwandte des BF leben weiterhin im Irak.
Der BF steht in unregelmäßigem Kontakt mit seinen Eltern. Zu seinen anderen Verwandten besteht kein Kontakt.
1.4. Zu den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei:
Der BF gehörte in seiner Heimat keiner politischen Bewegung an und hatte er weder mit der Polizei, noch mit den Verwaltungsbehörden, noch mit den Gerichten des Herkunftsstaates ein Problem. Er wurde zu keinem Zeitpunkt von staatlichen Organen oder von einer bewaffneten Gruppierung wegen seines Religionsbekenntnisses verfolgt.
Er wurde weder von einer schiitischen Miliz oder öffentlichen Stellen wegen seiner (ehemaligen) beruflichen Tätigkeiten als XXXX oder als Mitarbeiter eines Alkoholproduzenten verfolgt. Anhaltspunkte, dass von einer schiitischen Miliz oder von staatlichen Behörden eine Bedrohung gegen den BF ausgegangen wäre bzw. eine solche gegenwärtig ausginge, bestehen nicht. Es kam nie zu einem Rekrutierungsversuch durch schiitische Milizen.
Den BF erwartet in seiner Heimat zu gegenwärtigen Zeitpunkt weder eine individuelle Gefährdung noch eine unmenschliche Behandlung, noch Folter oder Strafe; es fehlen Anhaltspunkte, dass er der Gefahr der Todesstrafe ausgesetzt sein könnte. Eine Rückkehr in den Irak, genauer in seine Heimatregion, ist - im Rahmen der dortigen Gegebenheiten - möglich.
Das Fluchtvorbringen des BF weicht von jenem, das vor dem Bundesverwaltungsgericht bereits mit hg Erkenntnis vom 27.02.2018, GZ: L513 2164369-1/4E, rechtskräftig erledigt wurde, nicht ab.
Hinzu kommt, dass sich der BF nach eigenen Angaben seit seiner im Jahr 2015 stattgehabten Einreise bis laufend im Bundesgebiet aufhält und seither nicht mehr in den Herkunftsstaat zurückgekehrt ist.
1.5. Zu etwaigen Integrationsschritten des BF im Bundesgebiet:
Der BF besucht keine weiterführenden Kurse oder Ausbildungen; Sprachkurse und Zertifikate wurden nicht abgelegt.
Eine gesellschaftliche und beruflich-soziale Verankerung im Bundesgebiet ist nicht gegeben.
Er ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Der BF ist jenseits eines seit seiner Kindheit bestehenden Asthmaleidens gesund und stand zuletzt von XXXX bis XXXX.2020 in einem vollversicherten Arbeitsverhältnis. Derzeit ist er nicht erwerbstätig; er bezieht jedoch keine staatlichen Leistungen aus der Grundversorgung.
1.6. Zur Lage im Irak wird festgestellt:
Nachdem es den irakischen Sicherheitskräften (ISF) gemeinsam mit schiitischen Milizen, den sogenannten Popular Mobilisation Forces (PMF), mit Unterstützung durch die alliierten ausländischen Militärkräfte im Laufe des Jahres 2016 gelungen war, die Einheiten der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) sowohl aus den von ihr besetzten Teilen der südwestlichen Provinz Al Anbar bzw. deren Metropolen Fallouja und Ramadi als auch aus den nördlich an Bagdad anschließenden Provinzen Diyala und Salah al Din zu verdrängen, beschränkte sich dessen Herrschaftsgebiet in der Folge auf den Sitz seiner irakischen Kommandozentrale bzw. seines „Kalifats“ in der Stadt Mossul, Provinz Ninava, sowie deren Umgebung bis hin zur irakisch-syrischen Grenze. Ab November 2016 wurden die Umgebung von Mossul sowie der Ostteil der Stadt bis zum Ufer des Tigris sukzessive wieder unter die Kontrolle staatlicher Sicherheitskräfte gebracht, im Westteil wurde der IS von den irakischen Sicherheitskräften und ihren Verbündeten, die aus dem Süden, Norden und Westen in das Zentrum der Stadt vordrangen, in der Altstadt von Mossul eingekesselt. Der sunnitische IS wiederum versuchte parallel zu diesen Geschehnissen durch vereinzelte Selbstmordanschläge in Bagdad und anderen Städten im Süd- sowie Zentralirak seine wenn auch mittlerweile stark eingeschränkte Fähigkeit, die allgemeine Sicherheitslage zu destabilisieren, zu demonstrieren. Anfang Juli 2017 erklärte der irakische Premier Abadi Mossul für vom IS befreit. In der Folge wurden auch frühere Bastionen des IS westlich von Mossul in Richtung der irakisch-syrischen Grenze wie die Stadt Tal Afar durch die Militärallianz vom IS zurückerobert. Zuletzt richteten sich die Operationen der Militärallianz gegen den IS auf letzte Überreste seines früheren Herrschaftsgebiets im äußersten Westen der Provinz Anbar sowie eine Enklave um Hawija südwestlich von Kirkuk.
Bagdad:
Bagdad liegt im Tigris-Tal im Zentrum des Irak und ist flächenmäßig das kleinste Gouvernement. Die Hauptstadt des Irak, Bagdad City, liegt im Gouvernement Bagdad. Die Stadt Bagdad besteht aus den Bezirken: Adhamiyah, Karkh, Karada, Khadimiyah, Mansour, Sadr City, Al Rashid, Rusafa und 9 Nissan („neues Bagdad“). Der Rest des Gouvernements Bagdad besteht aus den Bezirken Al Madain, Taji, Tarmiyah, Mahmudiyah und Abu Ghraib. Für 2019 betrug die geschätzte Bevölkerung des Gouvernements 8 340 711, wobei die Mehrheit Schiiten und Sunniten waren.
Das Gouvernement Bagdad steht im Allgemeinen unter der Kontrolle der irakischen Behörden; In der Praxis teilen sich die Behörden jedoch die Verteidigungs- und Strafverfolgungsrollen mit der schiitisch dominierten PMU, was zu einer „unvollständigen“ oder überlappenden Kontrolle mit diesen Milizen führt. Die PMU hat kein operatives Hauptquartier im Gouvernement Bagdad, in der Praxis gibt es jedoch „wesentliche Stützpunkte“ in den Gürteln von Bagdad. Vom Iran unterstützte Milizen unterhalten zumindest einige Truppen in überwiegend schiitischen Gebieten, insbesondere in Bagdad. Der ISIL ist auch noch im Gouvernement präsent und es wurde berichtet, dass er seine Unterstützungszone im nördlichen und südwestlichen Bagdad-Gürtel baut und ausbaut. Mehrere Quellen berichteten von einer erhöhten ISIL-Aktivität in Bagdad im Zeitraum 2019-2020. Es wurde auch berichtet, dass die ISF nur begrenzt in der Lage war, auf Sicherheitsvorfälle, Terroranschläge und kriminelle Aktivitäten zu reagieren. Zusätzlich zu den anderen Akteuren in der Region verfügen die USA über zwei Militärstützpunkte in Bagdad, eine davon innerhalb des Bagdad International Airport.
Eine der wichtigsten Sicherheitsentwicklungen im Irak in den Jahren 2019 und 2020 waren die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA. Nach den US-Angriffen und den Vergeltungsschlägen des Iran wurde Bagdad Zeuge von Massendemonstrationen gegen die USA. In mehreren Städten, insbesondere in Bagdad, wurde von Großdemonstrationen berichtet, bei denen Sicherheitskräfte Tränengaspatronen und scharfe Munition direkt auf Demonstranten abfeuerten und dabei teilweise zahlreiche Opfer forderten. Überreste des ISIL führten weiterhin häufige Angriffe gegen das irakische Volk und die Sicherheitskräfte in Bagdad durch. Für 2020 schien das Hauptaugenmerk des IS auf Zielen der Sicherheitskräfte und nicht auf Zivilisten zu liegen.
ACLED meldete im Referenzzeitraum insgesamt 393 Sicherheitsvorfälle (durchschnittlich 4,8 Sicherheitsvorfälle pro Woche) im Gouvernement Bagdad, von denen die meisten als Vorfälle von Gewalt/Explosionen aus der Ferne kodiert wurden. In allen Bezirken des Gouvernements kam es zu Sicherheitsvorfällen, wobei die größte Gesamtzahl in der Stadt Bagdad verzeichnet wurde. Die UNAMI verzeichnete 46 Vorfälle im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten, 42 davon im Jahr 2019 und 4 vom 1. Januar bis 31. Juli 2020 (durchschnittlich 0,6 Sicherheitsvorfälle pro Woche für den gesamten Bezugszeitraum).
Im Bezugszeitraum verzeichnete die UNAMI bei den oben genannten Vorfällen im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten insgesamt 58 zivile Opfer (40 Tote und 18 Verletzte). Genauer gesagt wurden im Jahr 2019 50 Opfer gemeldet und 8 Opfer vom 1. Januar bis 31. Juli 2020. Verglichen mit den offiziellen Zahlen für die Bevölkerung im Gouvernement entspricht dies 1 zivilen Opfer pro 100 000 Einwohner für den gesamten Bezugszeitraum.
Es wurde über die Entdeckung und Zerstörung von ISIL-Munitionslagern in verschiedenen Gebieten im Irak, einschließlich des Gouvernements Bagdad, berichtet. Es wurde auch über organisierte Kriminalität, Schießereien im Vorbeifahren, unkontrollierte Milizaktivitäten, Entführungen von Personen aus politischen oder finanziellen Gründen sowie Korruption berichtet. Die Schäden an der Infrastruktur entsprechen in allen Sektoren dem Landesdurchschnitt mit Ausnahme der Straßen, die offenbar die größten Schäden erlitten haben, insbesondere in den Bezirken Abu Ghraib und Mahmudiyah. Erhebliche Schäden an Wohngebäuden und Zerstörungen oder schlechte Funktionsfähigkeit von Strom- und Leitungswassernetzen wurden ebenfalls gemeldet.
Die Sicherheitslage im Großraum Bagdad war durch die genannten Ereignisse im Wesentlichen ebenfalls nicht unmittelbar beeinträchtigt. Es waren jedoch vereinzelte Anschläge bzw. Selbstmordattentate auf öffentliche Einrichtungen oder Plätze mit einer teils erheblichen Zahl an zivilen Opfern zu verzeichnen, die, ausgehend vom Bekenntnis des - als sunnitisch zu bezeichnenden - IS dazu, sich gegen staatliche Sicherheitsorgane oder gegen schiitische Wohnviertel und Städte richteten, um dort ein Klima der Angst sowie religiöse Ressentiments zu erzeugen und staatliche Sicherheitskräfte vor Ort zu binden. Hinweise auf eine etwaig religiös motivierte Bürgerkriegssituation finden sich in den Länderberichten nicht, ebenso auch nicht in Bezug auf die Säuberung von ethnischen oder religiösen Gruppierungen bewohnte Gebiete.
Die Lage im Irak ist seit der Tötung des iranischen Generals Qassem Soleimani durch einen Luftangriff der Vereinigten Staaten und einen Vergeltungsschlag des Irans gegen amerikanisch genutzte Militärstützpunkte sehr angespannt. Schiitische Milizen haben für die Tötung Soleimanis und eines hohen irakischen Milizenführers Vergeltung angekündigt, der bei dem amerikanischen Angriff ebenfalls ums Leben kam.
Betrachtet man die Indikatoren, so lässt sich feststellen, dass im Gouvernement Bagdad willkürliche Gewalt zwar stattfindet, jedoch nicht auf hohem Niveau, und dementsprechend ist ein höheres Niveau einzelner individueller Aspekte erforderlich, um stichhaltige Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein Zivilist einer realen Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne ausgesetzt wäre. Die EASO-Country Giudance: Iraq verdeutlicht, dass speziell Bagdad als Ziel einer möglichen Rückkehr in den Irak anzusehen ist.
Der BF war im Herkunftsstaat keiner asylrelevanten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt. Er hatte weder mit der Polizei, noch mit den Gerichten noch mit den Verwaltungsbehörden des Herkunftsstaates Probleme. Er war auch nie Adressat einer gegen ihnen gerichteten strafgerichtlichen Verfolgung. Auch liegt keine strafgerichtliche Verurteilung gegen ihn vor. Er war nie Mitglied einer im Herkunftsstaat tätigen bewaffneten Gruppierung (Al-Kaida, IS bzw. Milizen) bzw. wurde er von einer bewaffneten Gruppierung des Herkunftsstaates zu keinem Zeitpunkt angeworben, insbesondere für Kampfhandlungen. Insgesamt kam anlassbezogen nicht hervor, dass er im Herkunftsstaat einer asylrelevanten Bedrohung ausgesetzt gewesen wäre.
Quellen (Zugriff am 17.12.2021):
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges- amt- bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf
- ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (11.12.2019): ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, https://www.ecoi.net/en/document/2021156.html
- ACCORD-Anfragebeantwortung zur Sicherheitslage in Basra vom 10.06.2021 [a-11589-1], https://www.ecoi.net/de/dokument/2053521.html
- BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Irak: Von schiitischen Milizen dominierte Gebiete (Ergänzung zum Länderinformationsblatt), 04.01.2018 https://www.ecoi.net/en/file/local/1422124/5618_1516263925_irak-sm-von-schiitischen-milizen-dominierte-gebiete-2018-01-04-ke.doc
- Crisis Group (14.12.2018): Reviving UN Mediation on Iraq’s Disputed Internal Boundaries, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabian-peninsula/iraq/194-reviving-un-mediation-iraqs-disputed-internal-boundaries
- EASO – Security situation Iraq (Oktober 2020): https://www.ecoi.net/de/dokument/2043991.html
- EASO – Country Guidance: Iraq (Stand Jänner 2021): https://www.ecoi.net/de/dokument/2045437.html
- FPRI - Foreign Policy Research Institute (19.8.2019): The Future of the Iraqi Popular Mobilization Forces, https://www.fpri.org/article/2019/08/the-future-of-the-iraqi-popular-mobilization-forces/
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/
- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html
- Rudaw (31.5.2019): Iraqi Security Forces ignore ISIS attacks on Kakai farmlands, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/31052019
- Süß, Clara-Auguste (21.8.2017): Al-Hashd ash-Sha’bi: Die irakischen „Volksmobilisierungseinheiten“ (PMU/PMF), in BFA Staatendokumentation: Fact Finding Mission Report Syrien mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1410004/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf
- UK Home Office: Country Policy and Information Note Iraq: Sunni (Arab) Muslims, 06/2017 https://www.ecoi.net/en/file/local/1403272/1226_1499246656_iraq-sunni-arabs-cpin-v2-0-june-2017.pdf
- UNHCR – UN High Commissioner for Refugees: Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA); Ability of Persons Originating from (Previously or Currently) ISIS-Held or Conflict Areas to Legally Access and Remain in Proposed Areas of Relocation, 12.04.2017, https://www.ecoi.net/en/file/local/1397131/1930_1492501398_58ee2f5d4.pdf
- Wilson Center (27.4.2018): Part 2: Pro-Iran Militias in Iraq, https://www.wilsoncenter.org/article/part-2-pro-iran-militias-iraq
1.6.1. Sicherheitskräfte und Milizen
Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI).
Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle.
Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen. Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen und werden vorwiegend vom Iran unterstützt. PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS. Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei.
Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien. Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig. In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist.
Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt. Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus.
1.6.1.1. Asa‘ib Ahl al-Haqq
Die vom BF zuletzt genannte Asa‘ib Ahl al-Haqq (AAH; Liga der Rechtschaffenen oder Khaz‘ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz‘ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak. Sie ist eine Abspaltung von As-Sadrs Mahdi-Armee und im Gegensatz zu As-Sadr pro-iranisch. Asa‘ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern. Asa‘ib Ahl al-Haqq bildet die 41., 42. und 43. der PMF-Brigaden. Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata’ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierungskräfte, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Qais al Khaz‘ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF.
1.6.1.2. Rechtsstellung und Aktivitäten der PMF
Obwohl das Milizenbündnis der PMF unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Badr eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von Badr dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann. Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert.
Die PMF genießen auch breite Unterstützung in der irakischen Bevölkerung für ihre Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat nach dem teilweisen Zusammenbruch der irakischen Armee im Jahr 2014. Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen, wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht.
Einige PMF haben sich Einkommensquellen erschlossen, die sie nicht aufgeben wollen, darunter Raub, Erpressung und Altmetallbergung. Es wird angenommen, dass die PMF einen Teil der lokalen Wirtschaft in Ninewa kontrollieren, was von diesen zurückgewiesen wird. Im Norden und Westen des Irak haben Amtspersonen und Bürger über Schikanen durch PMF-Milizen und deren Eingreifen in die Stadtverwaltungen und das alltägliche Leben berichtet. Damit geht der Versuch einher, bisweilen unter Einsatz von Demütigungen und Prügel, Kontrolle über Bürgermeister, Distrikt-Vorsteher und andere Amtsträger. In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, klagen Einheimische, dass sich die PMF gesetzwidrig und unverhohlen parteiisch verhalten. In Mossul beispielsweise behaupteten mehrere Einwohner, dass die PMF weit davon entfernt seien, Schutz zu bieten, und durch Erpressung oder Plünderungen illegale Gewinne erzielten. PMF-Kämpfer haben im gesamten Nordirak Kontrollpunkte errichtet, um Zölle von Händlern einzuheben. Auch in Bagdad wird von solchen Praktiken berichtet. Darüber hinaus haben die PMF auch die Armee in einigen Gebieten verstimmt. Zusammenstöße zwischen den PMF und den regulären Sicherheitskräften sind häufig. Auch sind Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der PMF weitverbreitet. Die Rivalität unter den verschiedenen Milizen ist groß.
Neben der Finanzierung durch den irakischen sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem so hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sind und waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind.
Eine Rekrutierung in die PMF erfolgt ausschließlich auf freiwilliger Basis und aus wirtschaftlichen Gründen, Desertion aus den PMF kam zudem seltener vor als bei den irakischen Streitkräften.
Quellen (Zugriff am 17.12.2021):
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amtbericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-20 18-12-01-2019.pdf
- ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (11.12.2019): ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, https://www.ecoi.net/en/ document/2021156.html
- Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-m onitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html
- Al-Tamini - Aymenn Jawad Al-Tamimi (31.10.2017): Hashd Brigade Numbers Index, http://www.ay mennjawad.org/2017/10/hashd-brigade-numbers-index
- Clingendael - Netherlands Institute of International Relations (6.2018): Power in perspective:Four key insights into Iraq’s Al-Hashd al-Sha’abi, https://www.clingendael.org/sites/default/files/2018-0 6/PB_Power_in_perspective.pdf
- DIS/Landinfo - Danish Immigration Service; Norwegian Country of Origin Information Center (5.11.2018): Northern Iraq: Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq (KRI), https://www.ecoi.net/en/file/local/1450541/1226_1542182184_ iraq-report-security-idps-and-access-nov2018.pdf
- ICG - International Crisis Group (30.7.2018): Iraq’s Paramilitary Groups: The Challenge of Rebuilding a Functioning State, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabia n-peninsula/iraq/188-iraqs-paramilitary-groups-challenge-rebuilding-functioning-state
- FPRI - Foreign Policy Research Institute (19.8.2019): The Future of the Iraqi Popular Mobilization Forces, https://www.fpri.org/article/2019/08/the-future-of-the-iraqi-popular-mobilization-forces/
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/
- GS - Global Security (18.7.2019): Hashd al-Shaabi / Hashd Shaabi, Popular Mobilisation Units / People’s Mobilization Forces, https://www.globalsecurity.org/military/world/para/hashd-al-shaabi.h
- MEE - Middle East Eye (16.2.2020): Iran and Najaf struggle for control over Hashd al-Shaabi after Muhandis’s killing, https://www.middleeasteye.net/news/iran-and-najaf-struggle-control-over-hash d-al-shaabi-after-muhandis-killing
- MEMO - Middle East Monitor (21.1.2020): Iraq’s PMF appoints new deputy head as successor toAl-Muhandis, https://www.middleeastmonitor.com/20200221-iraqs-pmf-appoints-new-deputy-hea d-as-successor-to-al-muhandis/
- Posch, Walter (8.2017): Schiitische Milizen im Irak und in Syrien –Volksmobilisierungseinheiten und andere, per E-mail
- Reuters (29.8.2019): Baghdad’s crackdown on Iran-allied militias faces resistance, https://www.re uters.com/article/us-iraq-militias-usa/baghdads-crackdown-on-iran-allied-militias-faces-resistance -idUSKCN1VJ0GS
- Süß, Clara-Auguste (21.8.2017): Al-Hashd ash-Sha’bi: Die irakischen „Volksmobilisierungseinheiten“ (PMU/PMF), in BFA Staatendokumentation: Fact Finding Mission Report Syrien mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1410004/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf
- TDP - The Defense Post (3.7.2019): Mahdi orders full integration of Shia militias into Iraq’s armed forces, https://thedefensepost.com/2019/07/03/iraq-mahdi-orders-popular-mobilization-units-integ ration/
- USDOS - United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004254.html
- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html
- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html
- Wilson Center (27.4.2018): Part 2: Pro-Iran Militias in Iraq, https://www.wilsoncenter.org/article/p art-2-pro-iran-militias-iraq
1.6.2. Wehrdienst, Polizeidienst und Fernbleiben vom Polizeidienst:
Im Irak besteht keine Wehrpflicht. Männer zwischen 18 und 40 Jahren können sich freiwillig zum Militärdienst melden. Nach dem Sturz Saddam Husseins wurde die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft und ein Freiwilligen-Berufsheer eingeführt. Finanzielle Anreize machen die Arbeit beim Militär zu einer attraktiven Karriere.
Im Zuge des Zusammenbruchs der irakischen Streitkräfte im Jahr 2014 und des dreijährigen Kampfes gegen den IS schlossen sich viele Freiwillige den paramilitärischen Volksmobilisierungseinheiten (PMF) an, was zu einem Rekrutierungswettkampf zwischen dem irakischen Verteidigungsministerium und den Volksmobilisierungseinheiten führte.
Laut Kapitel 5 des irakischen Militärstrafgesetzes von 2007 ist Desertion in Gefechtssituationen mit bis zu sieben Jahren Haft strafbar. Das Überlaufen zum Feind ist mit dem Tode strafbar. Die Armee hat kaum die Kapazitäten, um gegen Desertion von niederen Rängen vorzugehen. Es sind keine konkreten Fälle bekannt, in denen es zur Verfolgung von Deserteuren gekommen wäre. Im Jahr 2014 entließ das Verteidigungsministerium Tausende Soldaten, die während der IS-Invasion im Nordirak ihre Posten verlassen haben und geflohen sind. Im November 2019 wurden, mit der behördlichen Anordnung alle entlassenen Soldaten wieder zu verpflichten, über 45.000 wieder in Dienst gestellt.
Grundsätzlich ist es möglich, den Polizeidienst – im Gegensatz zum Militärdienst welcher grundsätzlich eine zweijährige Dienstzeit vorsieht – jederzeit ohne Angabe von Gründen zu kündigen bzw. freiwillig aus diesem auszuscheiden.
In der EASO Country Guidance mit Stand Jänner 2021, welche nach wie vor auf „EASO - Targeting of individuals“ mit Stand März 2019 verweist, wird festgestellt, dass im Fall von Polizisten nicht von Desertion wie bei Armeeangehörigen zu sprechen ist, sondern von einem „crime of absence“, also der Abwesenheit vom Dienst. Abhängig von der Stellung des den Dienst verweigernden Polizisten reicht die Bestrafung von Reduzierung oder Streichung des Lohnes bis hin zu mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe für Personen, die während Zeiten von groben Störungen oder Ausnahmezuständen mehr als zehn Tage abwesend waren. Bei Desertion in das Ausland ist eine dreijährige Haftstrafe möglich. Ein in die Niederlande geflüchteter Offizier wurde nach seiner Rückkehr unehrenhaft aus dem Dienst entlassen, sämtliche durch den Polizeidienst erworbenen Rechte und Ansprüche wurden aberkannt. Eine weitere Verurteilung oder Freiheitsstrafe wurde nicht ausgesprochen.
In einem Bericht aus dem Jahr 2014 wird festgestellt, dass eine allgemeine Amnestie für Angehörige der internen Sicherheitskräfte ausgestellt wurde, die abwesend waren oder ohne Erlaubnis den Dienst quittierten. Im Mai 2015 wurde durch das Büro des irakischen Premierministers bekanntgegeben, dass „der Premierminister beschlossen hat, jegliche rechtlichen Schritte gegen Angehörige der Streitkräfte und der inneren Sicherheitskräfte endgültig einzustellen, einschließlich der folgenden Straftaten: Flucht, Fehlzeiten, Fehlverhalten und Selbstverletzung, um den Dienst loszuwerden, sowie Verbrechen gegen die Militärregime und die Angelegenheiten des Dienstes“ (EASO- Iraq – Targeting of individuals, Seite 71).
Quellen (Zugriff am 17.12.2021):
- ACCORD: https://www.ecoi.net/de/dokument/2023187.html
- ACCORD: Anfragebeantwortung zum Irak: Gesetzliche Bestimmungen, die für Desertion aus der Polizei eine Haftstrafe vorsehen; Festnahme bei der Einreise [a-10473]: https://www.ecoi.net/de/dokument/1431191.html
- EASO – Country Guidance: Iraq (Stand Jänner 20219): https://www.ecoi.net/de/dokument/2045437.html
1.6.3. Berufsgruppen:
Aus den Länderinformationen zum Herkunftsstaat der bfP geht hervor, dass Polizisten, Soldaten, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte und alle Mitglieder des Sicherheitsapparats besonders gefährdet seien.
Inhaber von Geschäften, in denen Alkohol verkauft wird - fast ausschließlich Angehörige von Minderheiten, vor allem Jesiden und Christen, Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten sowie medizinisches Personal seien ebenfalls immer wieder Ziel von Entführungen oder Anschlägen.
Der BF war einerseits als XXXX tätig, andererseits in den Jahren 1994 bis 1999 als Sicherheitsmitarbeiter in einem Unternehmen, welches Alkohol produzierte. Aus gegenwärtiger Sicht kann ausgeschlossen werden, dass aus einer dieser Tätigkeiten Gefahr für den BF droht.
Quellen (Zugriff am 17.12.2021):
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf
- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html
1.6.4. Medizinische Versorgung
Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können - für den Zugang zum Gesundheitswesen wird lediglich ein irakischer Ausweis benötigt - haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben maximal eine Stunde vom nächstgelegenen Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen (IOM 1.4.2019). Staatliche, wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden. Dort ist die Dichte an praktizierenden Ärzten, an privaten und staatlichen Kliniken um ein Vielfaches größer. Gleiches gilt für Apotheken und medizinische Labore. Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss zunächst eine Art Praxisgebühr bezahlt werden. Diese beläuft sich in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 IQD (Anm.: ca. 12-16 EUR). Für spezielle Untersuchungen und Laboranalysen sind zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Außerdem müssen Medikamente, die man direkt vom Arzt bekommt, gleich vor Ort bezahlt werden. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch nicht die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen. Darunter fallen etwa Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen (GIZ 12.2019).
Insgesamt bleibt die medizinische Versorgungssituation angespannt (AA 12.1.2019). Auf dem Land kann es bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben; allerdings gilt die Faustformel: Je kleiner und abgeschiedener das Dorf, umso schwieriger die medizinische Versorgung (GIZ 12.2019). In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser mit eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, doch haben viele aus Angst vor Entführung oder Repression das Land verlassen. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen (AA 12.1.2019). Spezialisierte Behandlungszentren für Personen mit psychosoziale Störungen existieren zwar, sind jedoch nicht ausreichend (UNAMI 12.2016). Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren (WHO o.D.).
Der BF ist gesund und liegen keinerlei medizinische Indikatoren vor, die einer Rückkehr in den Irak entgegenstehen. Das von ihm erwähnte Asthmaleiden besteht seit der Kindheit des BF und ist es bisher nicht von einer Schwere gewesen, die ihn (auch in seiner Heimat) an der Ausübung eines Berufes gehindert hätte.
Quellen (Zugriff am 17.12.2021):
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (12.2019): Alltag, https://www.liportal.de/irak/alltag/
- IOM - Internationale Organisation für Migration (1.4.2019): Länderinformationsblatt Irak (Country Fact Sheet 2018), https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698617/18363939/Irak_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101157&vernum=-2
- UNAMI - United Nations Assistance Mission to Iraq (12.2016): Report on the Rights of Persons with Disabilities in Iraq, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/UNAMI_OHCHR__Report_on_the_Rights_of_PWD_FINAL_2Jan2017.pdf
- WHO - World Health Organization (o.D.): Iraq: Primary Health Care, http://www.emro.who.int/irq/programmes/primary-health-care.html
1.6.5. Grundversorgung und Wirtschaft:
Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich.
Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die genannten Defizite werden durch die grassierende Korruption zusätzlich verstärkt. Nach Angaben des UN-Programms „Habitat“ leben 70 Prozent der Iraker in Städten, die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums.
In vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wiederhergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt.
1.6.5.1. Wirtschaftslage:
Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mosul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im Oktober 2018 für das Jahr 2019. Ob der Wiederaufbau zu einem nachhaltigen positiven Aufschwung beiträgt, hängt aus Sicht der Weltbank davon ab, ob das Land die Korruption in den Griff bekommt.
Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar. Rund 90 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor.
Noch im Jahr 2016 wuchs die irakische Wirtschaft laut Economist Intelligence Unit (EIU) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) um 11 Prozent. Im Folgejahr schrumpfte sie allerdings um 0,8 Prozent. Auch 2018 wird das Wachstum um die 1 Prozent betragen, während für 2019 wieder ein Aufschwung von 5 Prozent zu erwarten ist. Laut Weltbank wird erwartet, dass das gesamte BIP-Wachstum bis 2018 wieder auf positive 2,5 Prozent ansteigt. Die Wachstumsaussichten des Irak dürften sich dank der günstigeren Sicherheitslage und der allmählichen Belebung der Investitionen für den Wiederaufbau verbessern. Die positive Entwicklung des Ölpreises ist dafür auch ausschlaggebend. Somit scheint sich das Land nach langen Jahren bewaffneter Auseinandersetzungen wieder in Richtung einer gewissen Normalität zu bewegen. Dieser positiven Entwicklung stehen gleichwohl weiterhin Herausforderungen gegenüber.
So haben der Krieg gegen den IS und der langwierige Rückgang der Ölpreise seit 2014 zu einem Rückgang der Nicht-Öl-Wirtschaft um 21,6 Prozent geführt, sowie zu einer starken Verschlechterung der Finanz- und Leistungsbilanz des Landes. Der Krieg und die weit verbreitete Unsicherheit haben auch die Zerstörung von Infrastruktur und Anlageobjekten in den vom IS kontrollierten Gebieten verursacht, Ressourcen von produktiven Investitionen abgezweigt, den privaten Konsum und das Investitionsvertrauen stark beeinträchtigt und Armut, Vulnerabilität und Arbeitslosigkeit erhöht. Dabei stieg die Armutsquote [schon vor dem IS, Anm.] von 18,9 Prozent im Jahr 2012 auf geschätzte 22,5 Prozent im Jahr 2014.
Jüngste Arbeitsmarktstatistiken deuten auf eine weitere Verschlechterung der Armutssituation hin. Die Erwerbsquote von Jugendlichen (15 bis 24 Jahre) ist seit Beginn der Krise im Jahr 2014 deutlich gesunken, von 32,5 Prozent auf 27,4 Prozent. Die Arbeitslosigkeit nahm vor allem bei Personen aus den ärmsten Haushalten und Jugendlichen und Personen im erwerbsfähigen Alter (25 bis 49 Jahre) zu. Die Arbeitslosenquote ist in den von IS-bezogener Gewalt und Vertreibung am stärksten betroffenen Provinzen etwa doppelt so hoch wie im übrigen Land (21,1 Prozent gegenüber 11,2 Prozent), insbesondere bei Jugendlichen und Ungebildeten.
Der Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Jobangebote sind mit dem Schließen mehrerer Unternehmen zurückgegangen. Im öffentlichen Sektor sind ebenfalls viele Stellen gestrichen worden. Gute Berufschancen bietet jedoch derzeit das Militär. Das durchschnittliche monatliche Einkommen im Irak beträgt derzeit 350-1.500 USD, je nach Position und Ausbildung.
Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten.
1.6.5.2. Stromversorgung:
Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht. Sie deckt nur etwa 60 Prozent der Nachfrage ab, wobei etwa 20 Prozent der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit. Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Autonomen Region Kurdistan erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste.
1.6.5.3. Wasserversorgung:
Die Wasserversorgung wird von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist. Die Wasserknappheit dürfte sich kurz- bis mittelfristig noch verschärfen. Besonders betroffen sind die südlichen Provinzen, insbesondere Basra. Der Klimawandel ist dabei ein Faktor, aber auch große Staudammprojekte in der Türkei und im Iran, die sich auf den Wasserstand von Euphrat und Tigris auswirken und zur Verknappung des Wassers beitragen. Niedrige Wasserstände führen zu einem Anstieg des Salzgehalts, wodurch das bereits begrenzte Wasser für die landwirtschaftliche Nutzun