TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/29 G314 2197183-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.09.2021
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Entscheidungsdatum

29.09.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


G314 2197183-1/24E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des irakischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , vertreten durch die BBU GmbH und den Verein ZEIGE (ZVR-Zahl 815939884), gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX .2018, Zl. XXXX , betreffend internationalen Schutz samt Nebenentscheidungen nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 19.04.2021 zu Recht:

A)        Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)       Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF) beantragte am XXXX .2018 in Österreich internationalen Schutz.

Am folgenden Tag wurde seine Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes durchgeführt. Dabei gab er an, er sei Kurde aus XXXX . Am XXXX .2017 hätten irakische Soldaten XXXX erobert und alle Kurden getötet. Der BF und seine Familie seien in Lebensgefahr gewesen und geflüchtet. Die Parteimitgliedschaft seines Vaters habe vieles zusätzlich erschwert. Bei einer Rückkehr in seine Heimat befürchte er, umgebracht zu werden. Die Frage nach Hinweisen auf eine ihm bei seiner Rückkehr drohende unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe oder die Todesstrafe verneinte er ebenso wie die Frage nach allfälligen ihm im Irak drohenden Sanktionen.

Am XXXX .2018 wurde das Asylverfahren des BF zugelassen und ihm eine Aufenthaltsberechtigungskarte gemäß § 51 AsylG ausgestellt.

Bei der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 05.04.2018 gab der BF an, dass sein Vater Funktionär der XXXX sei. Am XXXX .2017 hätten schiitische Milizen XXXX angegriffen, erobert und der kurdischen Verwaltung eine Niederlage zugefügt. Daraufhin sei der BF mit seiner Familie zunächst nach XXXX geflohen und dann in die Türkei ausgereist. Am 20.10.2017 sei sein Vater von der Partei darüber informiert worden, dass er in der Türkei abwarten solle, bis sich die Lage wieder entspanne. Dem Vater des BF sei dann telefonisch empfohlen worden, nicht mehr in den Irak zurückzukehren, weil die Namen der Familienmitglieder auf einer Liste der schiitischen Milizen stehen würden und niemand von der XXXX wage, nach XXXX zurückzukehren. Ein Verbleib in XXXX sei nicht möglich gewesen, weil die Behörden in Bagdad es im Rahmen von Verhandlungen mit den kurdischen Behörden zur Bedingung gemacht hätten, dass Personen von einer Liste mit Peschmerga und XXXX (darunter mit dem Vater des BF und seiner ganzen Familie) nach Bagdad ausgeliefert werden. Es habe zwar letztlich keine solche Auslieferung gegeben, aber freiwillige Rückkehrer seien festgenommen und hingerichtet worden. Der BF sei selbst nicht politisch tätig; er sei auch nie persönlich verfolgt oder bedroht worden. Er sei dann als einziger seiner Familie aus der Türkei nach Europa gereist, weil er nicht verheiratet sei und der Schlepper nur Platz für eine Person gehabt habe.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 AsylG (Spruchpunkt I.) als auch des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs 1 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ihm wurde kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG erließ das BFA gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG wurde eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt VI.).

Der Bescheid wird im Wesentlichen damit begründet, dass der BF im Irak nicht wegen der Parteizugehörigkeit seines Vaters verfolgt werde. Er habe dessen politische Funktion nicht nachgewiesen. Eine „Liste auszuliefernder Personen“ sei nicht bekannt; trotz politischer Spannungen und Verhandlungen habe es keine Auslieferung von Politikern an die irakische Regierung gegeben. Nahe Verwandte des BF hielten sich nach wie vor ohne Probleme in XXXX und XXXX auf. Ihm sei zwar die Rückkehr nach XXXX aufgrund der volatilen Sicherheitslage dort nicht zumutbar; er könne sich aber in einer anderen Region, z.B. in der über den internationalen Flughafen in Erbil erreichbaren Autonomen Region Kurdistan, niederlassen. In dieser Region sei die Sicherheitslage stabil und ein angemessenes Maß an staatlichem Schutz vorhanden. Die in XXXX und XXXX lebenden Angehörigen des BF könnten ihn nach seiner Rückkehr unterstützen; ebenso sei finanzielle Hilfe durch seine in der Türkei aufhältigen Eltern möglich. Gründe für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 AsylG lägen nicht vor. Der BF habe keine Familienangehörigen in Österreich; ein schützenswertes Privatleben liege im Hinblick auf seinen kurzen Aufenthalt nicht vor, zumal keine außerordentliche Integration habe festgestellt werden können. Gründe, die die Abschiebung in den Irak unzulässig machen würden, würden nicht vorliegen. Mangels besonderer Umstände betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Entscheidung.

Der BF erhob eine Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte dieses Bescheids, mit der er primär die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten, in eventu eines subsidiär Schutzberechtigten, anstrebt. Hilfsweise werden außerdem die Aufhebung der Rückkehrentscheidung sowie die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 AsylG beantragt und ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die Beschwerde wird zusammengefasst damit begründet, dass der BF den Irak aus wohlbegründeter Furcht vor politischer Verfolgung verlassen habe. Er werde von schiitischen Milizen verfolgt, weil sein Vater XXXX Funktionär sei (was für die irakische Zentralregierung leicht ersichtlich sei) und auch dem BF diese politische Einstellung unterstellt werde. Die Einstellung der XXXX stimme nicht mit der vorherrschenden politischen Überzeugung im Irak überein. Im Irak sei das Leben des BF in Gefahr. Die Eroberung von XXXX durch irakische Sicherheitskräfte am XXXX .2017 werde durch Medienberichte und das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (LIB) belegt. Die Eltern und Geschwister des BF würden nicht (wie vom BFA angenommen) in XXXX leben, sondern in der Türkei. Dem BF hätte zumindest subsidiärer Schutz gewährt werden müssen, zumal die Sicherheitslage in XXXX volatil und eine Rückkehr dorthin nicht zumutbar sei. Laut dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (United Nations High Commissioner for Refugees - UNHCR) würden im Irak interne Flucht- und Neuansiedelungsalternativen aufgrund von ernsthaften Risiken, Zugangsbeschränkungen und fehlenden Möglichkeiten zur Sicherung des Lebensunterhalts häufig nicht bestehen. Das BFA habe die Prinzipien der amtswegigen Erforschung des relevanten Sachverhalts und der Wahrung des Parteiengehörs missachtet. Mit der Beschwerde legte der BF Urkunden und Fotos zum Nachweis der politischen Tätigkeit seines Vaters vor.

Das BFA legte dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde samt den Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragte, diese als unbegründet abzuweisen.

Am 25.06.2018, am 10.08.2018, am 18.10.2018 und am 29.04.2019 übermittelte der BF dem BVwG ergänzende Integrationsunterlagen.

Bei der Beschwerdeverhandlung vor dem BvwG am 19.04.2021 wurden der BF und eine von ihm stellig gemachte Zeugin vernommen; das BFA hatte auf eine Verhandlungsteilnahme verzichtet.

Am 05.05.2021 und am 10.05.2021 erstattete der BF auftragsgemäß Stellungnahmen zur aktuellen Situation in seiner Heimatregion und legte Medienberichte und Fotos vor.

Feststellungen

Der BF heißt XXXX , er ist irakischer Staatsangehöriger und wurde am XXXX in der nordirakischen Stadt XXXX , der Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements, geboren, wo er bis kurz vor seiner Ausreise zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern lebte. Er gehört zur Volksgruppe der Kurden und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache, die er in Wort und Schrift beherrscht, ist Kurdisch. Daneben verfügt er auch über Kenntnisse der arabischen, englischen, spanischen und deutschen Sprache.

Der BF besuchte in XXXX von 2003 bis 2015 die Schule (Grundschule, Hauptschule und höhere technische Schule). Danach studierte er dort bis Oktober 2017 Elektrotechnik. Er war bisher (abgesehen von Aushilfstätigkeiten im Geschäft seines Bruders in XXXX ) nicht berufstätig; im Irak kam sein Vater für seinen Lebensunterhalt auf. Dieser war bis Oktober 2017 hauptberuflich Funktionär der XXXX in XXXX und verdiente als solcher ca. 1,500.000 irakische Dinar pro Monat.

Im Oktober 2017 kam es in XXXX nach dem kontroversen kurdischen Unabhängigkeitsreferendum vom September 2017 zu einem Militäreinsatz. Am XXXX .2017 wurde der Großteil der sogenannten „umstrittenen Gebiete“, die sowohl von der irakischen Zentralregierung als auch von der Regionalregierung der Autonomen Region Kurdistan beansprucht werden und zu denen unter anderem auch XXXX gehört, von den irakischen Streitkräften und ihnen nahestehenden Einheiten aus kurdischer Kontrolle zurückerobert. Im Rahmen dieses lokal begrenzten Militäreinsatzes kam es zu willkürlichen Angriffen, zur Plünderung und Zerstörung von privaten Häusern und Geschäften sowie von politischen Parteibüros durch einzelne Sicherheitsakteure. Der BF verließ daraufhin gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern XXXX . Sie begaben sich zunächst nach XXXX zu einem Onkel des BF, der dort nach wie vor unbehelligt lebt. Nach einigen Tagen reiste die Familie weiter in die Türkei, wo sich die Eltern und die Geschwister des BF nach wie vor aufhalten. Im Jänner 2018 organisierte der Vater des BF dessen schlepperunterstützte Weiterreise nach Europa. Der BF verließ die Türkei am 11.01.2018 und reiste einige Tage später in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am XXXX .2018 internationalen Schutz beantragte.

Der BF hat in Österreich keine Familienangehörigen. Neben seinen Eltern und Geschwistern in der Türkei und seinem Onkel in XXXX hat er einen Onkel, der in Deutschland lebt, und entferntere Verwandte, die in XXXX leben. Zu seinen Familienmitgliedern in der Türkei hat der BF gelegentlich Kontakt, sehr selten auch zu seinem Onkel in XXXX .

Der BF ist ledig und kinderlos. Seit etwa einem Jahr ist er mit einer Österreicherin liiert, ohne dass ein gemeinsamer Haushalt besteht.

Der BF ist strafgerichtlich unbescholten. Er hat (abgesehen von Migräne, die einmal monatlich mit Injektionen behandelt wird) keine gesundheitlichen Probleme und ist arbeitsfähig. Er bezieht seit Jänner 2018 Leistungen der staatlichen Grundversorgung und lebt in einem Grundversorgungsquartier in XXXX . Er ist nicht erwerbstätig, aber als Asylwerber krankenversichert. Ihm wurde in Österreich nie eine (über das Aufenthaltsrecht als Asylwerber hinausgehende) Aufenthaltsberechtigung erteilt.

Der BF hat in Österreich mehrere Deutschkurse besucht und Deutschprüfungen bestanden, zuletzt am XXXX .2020 eine Integrationsprüfung (Sprachniveau B1). Ab XXXX .2019 besuchte er einen Pflichtschulabschlusslehrgang und erreichte am XXXX .2021 den Pflichtschulabschluss. Er ist in XXXX und Umgebung gut integriert und mit mehreren dort lebenden Personen befreundet. Wenn ihm ein entsprechender Aufenthaltstitel erteilt wird, hat er einen Arbeitsplatz in einem Elektrotechnikunternehmen in Aussicht. Er hilft in seinem Quartier mit, betätigt sich ehrenamtlich als Dolmetscher, leistet Nachbarschaftshilfe und ist bei einem Sportverein und einem Musikverein aktiv.

Seit der Vater des BF in der Türkei ist, ist er nicht mehr politisch aktiv. Der BF war selbst nie politisch aktiv und im Irak nie persönlich von irgendwelchen gegen ihn gerichteten Verfolgungshandlungen betroffen. Er hat bei einer Rückkehr in den Irak dort nicht mit Repressalien aufgrund der politischen Einstellung seines Vaters zu rechnen. Es ist nicht zu erwarten, dass dem BF im Irak aufgrund der früheren politischen Tätigkeit seines Vaters eine oppositionelle Gesinnung oder ein politischer Widerstand gegen die bestehende staatliche Ordnung unterstellt werden würde. Nach der Rückkehr nach XXXX kann er sich dort eine Existenz aufbauen und seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit – etwa in seinem Ausbildungsberuf als Elektrotechniker – sichern, wobei vor allem in der Anfangszeit eine finanzielle Unterstützung durch seine in der Türkei verbliebenen Eltern und seinen in XXXX lebenden Onkel in XXXX möglich ist.

Zur allgemeinen Lage im Irak:

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert; es wurde ein neues politisches System eingeführt. Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat mit der Hauptstadt Bagdad, der administrativ in mehrere Gouvernements unterteilt ist (LIB Staatendokumantation). Amtssprachen sind Arabisch und Kurdisch (siehe etwa https://de.wikipedia.org/wiki/Irak, Zugriff am 22.09.2021).

Die Autonome Region Kurdistan mit der Hauptstadt Erbil liegt im Nordirak und besteht aus den Gouvernements Erbil, Dohuk und Sulaymaniyah sowie dem 2014 durch Ministerratsbeschluss aus Sulaymaniyah herausgelösten Gouvernement Halabja (wobei dieser Beschluss noch nicht in die Praxis umgesetzt wurde). Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und hat ein eigenes Parlament sowie eigene Militäreinheiten, die Peschmerga. Die Autonome Region Kurdistan ist seit Jahrzehnten zwischen den beiden größten kurdischen Parteien geteilt, der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Die KDP hat ihr Machtzentrum in Erbil, die PUK ihres in Sulaymaniyah. Beide verfügen über eine bedeutende Anzahl von Sitzen im irakischen Parlament in Bagdad und gewannen auch die meisten Sitze bei den Wahlen in der Autonomen Region Kurdistan im September 2018 (LIB Staatendokumentation). Die KDP ist die stärkste Partei im kurdischen Regionalparlament (siehe etwa https://de.wikipedia.org/wiki/Parlament_Kurdistans, Zugriff am 22.09.2021) und mit 25 (von 329) Sitzen eine der größeren Oppositionsparteien im Parlament in Bagdad (siehe en.wikipedia.org/wiki/Council_of_Representatives_of_Iraq, Zugriff am 22.09.2021).

Nach der Durchführung des Unabhängigkeitsreferendums im September 2017 verschlechterte sich das Verhältnis zwischen der irakischen Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung zunächst deutlich. Der Konflikt hat sich aber im Lauf des Jahres 2018 wieder beruhigt und es finden regelmäßig Gespräche zwischen den beiden Seiten statt. Grundlegende Fragen wie Öleinnahmen, Haushaltsfragen und die Zukunft der umstrittenen Gebiete sind jedoch zwischen Bagdad und der Autonomen Region Kurdistan weiter ungelöst (LIB Staatendokumentation).

Im Irak finden mehrere sich überschneidende innerstaatliche bewaffnete Konflikte statt, allen voran der Konflikt zwischen der irakischen Regierung und der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS). Die irakische Regierung wird dabei von verschiedenen Akteuren, darunter der Peschmerga und verschiedenen Milizen, unterstützt. Teile des Irak sind auch von einem internationalen bewaffneten Konflikt mit der Türkei betroffen, da sich der Konflikt in der Türkei zwischen der Türkei und der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) auf das nordirakische Territorium ausgeweitet hat (EASO – European Asylum Support Office: Country Guidance: Iraq; Guidance note and common analysis, Juni 2019, Seite 98).

Die Sicherheitslage im Irak hat sich, seitdem die territoriale Kontrolle des IS Ende 2017 gebrochen wurde, verbessert. Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete. IS-Kämpfer sind jedoch weiterhin in manchen Gebieten aktiv; die Sicherheitslage ist veränderlich. Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen, handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren (LIB Staatendokumentation).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten. Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern. Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen, aber es gibt Berichte, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (LIB Staatendokumentation).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar. Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 03.01.2020 wurden im Jänner 2020 mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (LIB Staatendokumentation).

In Erbil bzw. Sulaymaniyah und unmittelbarer Umgebung erscheint die Sicherheitssituation vergleichsweise besser als in anderen Teilen des Irak. Allerdings kommt es auch hier immer wieder zu militärischen Zusammenstößen, in die auch kurdische Streitkräfte (Peschmerga) verwickelt sind, weshalb sich die Lage jederzeit ändern kann. Insbesondere Einrichtungen der kurdischen Regionalregierung und politischer Parteien sowie militärische und polizeiliche Einrichtungen können immer wieder Ziele terroristischer Attacken sein (LIB Staatendokumentation).

Seit dem Abbruch des Friedensprozesses zwischen der Türkei und der PKK im Jahr 2015 kommt es regelmäßig zu türkischen Militäroperationen und Bombardements gegen Stellungen von PKK-Kämpfern in Qandil und in den irakischen Grenzgebieten. Im Kreuzfeuer solcher Angriffe werden immer wieder kurdische Dörfer evakuiert, da manchmal auch Zivilisten und deren Eigentum von den Kämpfen bedroht und bei türkischen Luftangriffen getroffen wurden (LIB Staatendokumentation).

Seit dem 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen. Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung, aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak. Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des ethnisch-konfessionellen Systems (Muhasasa), nach dem sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak – Schiiten, Sunniten und Kurden – die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (der Präsident ist gewöhnlich ein Kurde, der Premierminister ein Schiit und der Parlamentspräsident ein Sunnit) teilen (LIB Staatendokumentation).

Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Milizen der Volksverteidigungskräfte (Popular Mobilization Forces, kurz PMF; arabisch Al-Hashd Al-Sha’abi), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40 (überwiegend schiitischen) Milizgruppen zusammensetzt, und die Peschmerga der Autonomen Region Kurdistan (LIB Staatendokumentation).

Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peschmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Sie sind noch nicht befähigt, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Reform des Sicherheitssektors wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt.

Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums. Nach Angaben internationaler Menschenrechtsorganisationen findet Missbrauch vor allem während der Verhöre inhaftierter Personen im Rahmen der Untersuchungshaft statt. Probleme innerhalb der Provinzpolizei des Landes, einschließlich Korruption, bleiben weiterhin bestehen. Armee und Bundespolizei rekrutieren und entsenden bundesweit Soldaten und Polizisten. Dies führt zu Beschwerden lokaler Gemeinden bezüglich Diskriminierung aufgrund ethno-konfessioneller Unterschiede durch Mitglieder von Armee und Polizei. Die Sicherheitskräfte unternehmen nur begrenzt Anstrengungen, um gesellschaftliche Gewalt zu verhindern oder darauf zu reagieren.

Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle. Die PMF sollen aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten die Fähigkeit haben, jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Autonomen Region Kurdistan zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen dort vor. Nach dem Oktober 2017 gab es jedoch Berichte über Verstöße von PMF-Angehörigen gegen die kurdischen Einwohner in Kirkuk und Tuz Khurmatu, wobei es sich bei den Angegriffenen zumeist um Mitglieder der politischen Partei KDP und der Asayish (Sicherheits- und Nachrichtendienst der Autonomen Region Kurdistan) gehandelt haben soll (LIB Staatendokumentation).

Die kurdischen Sicherheitskräfte (Peschmerga) unterstehen formal der kurdischen Regionalregierung und sind bislang nicht in den Sicherheitsapparat der Zentralregierung eingegliedert. Sie bilden allerdings keine homogene Einheit, sondern unterstehen faktisch, voneinander getrennt, den beiden großen Parteien KDP und PUK in ihren jeweiligen Einflussgebieten. Die Peschmerga sind eine komplexe und vielschichtige Kraft, ihre Loyalität ist geteilt zwischen dem irakischen Staat, der Autonomen Region Kurdistan, verschiedenen politischen Parteien und mächtigen Persönlichkeiten. Zu verschiedenen Zeitpunkten, manchmal auch gleichzeitig, können die Peschmerga als nationale Sicherheitskräfte, regionale Sicherheitskräfte, Partei-Kräfte und persönliche Sicherheitskräfte bezeichnet werden.

Im Kampf gegen den IS hatten die Peschmerga über die ursprünglichen Grenzen der Autonomen Region Kurdistan von 2003 hinaus Gebiete befreit. Aus diesen umstrittenen Gebieten hat die irakische Armee die Peschmerga nach Abhaltung des Unabhängigkeitsreferendums im September 2017 größtenteils zurückgedrängt. In weiten Teilen haben sich die Peschmerga kampflos zurückgezogen, es gab jedoch auch teils schwere bewaffnete Auseinandersetzungen mit Opfern auf beiden Seiten.

Die Sicherheitsdienste der Autonomen Region Kurdistan halten in den von ihnen kontrollierten Gebieten bisweilen Verdächtige fest. Die schlecht definierten administrativen Grenzen zwischen den kurdischen Gouvernements sowie dem (nicht-kurdischen) Rest des Landes führen zu anhaltender Verwirrung über die Zuständigkeit der Sicherheitskräfte und der Gerichte (LIB Staatendokumentation).

Ab 2014 brachte die Terrororganisation IS große Teile des Nordirak unter ihre Kontrolle. In der Folge gelang es irakischen Streitkräften gemeinsam mit Milizen der PMF, den IS wieder zurückzudrängen. Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den IS. Seitdem die territoriale Kontrolle des IS gebrochen wurde, hat sich die Sicherheitslage im Irak verbessert und das Gewaltniveau signifikant reduziert. Der IS hat sich seither in eine Aufstandsbewegung gewandelt und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück. Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen, eine Mobilisierung von Schläferzellen sowie einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes. Der IS führt kleinere bewaffnete Operationen, Attentate, Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen durch und stellt trotz seines Gebietsverlusts weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten dar. Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din. Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken. Er ist nach wie vor dabei, sich zu reorganisieren und versucht, seine Kader und Führung zu erhalten.

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungsziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter, dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern und Schusswaffen sowie mittels gezielter Morde und Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen. Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert. Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (LIB Staatendokumentation).

Trotz territorialer Verluste und verringerter Leistungsfähigkeit agiert der IS Berichten zufolge mit beträchtlicher Bewegungsfreiheit in entlegenen Wüstengebieten und ländlichen Gegenden in den Gouvernements Al-Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din, wo die irakischen Streitkräfte außerhalb der Ballungsräume nur begrenzt präsent sind. Der IS ist nach wie vor in der Lage, Blitzangriffe zu starten, wie gezielte Tötungen unter anderem lokaler Führungspersonen, Entführungen sowie Angriffe mit IEDs (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, Seite 19 ff). In ehemals vom IS besetzten Gebieten, insbesondere außerhalb der Ballungszentren, geht der Konflikt zwischen den irakischen Streitkräften und den mit ihnen verbunden Kräften einerseits und dem IS andererseits trotz des Endes der großen Militäreinsätze Ende 2017 weiter. Obwohl der IS keine wirksame Kontrolle mehr über Gebiete ausübt, konnte die Regierung bisher keine wirksame staatliche Kontrolle außerhalb von Ballungsräumen in den Gouvernements Al-Anbar, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din etablieren, weshalb der IS in diesen Gebieten nach wie vor aktiv ist (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, Seite 131 ff).

Die administrative Zuordnung der sogenannten „umstrittenen Gebiete“, die zwischen der Autonomen Region Kurdistan und dem übrigen Staatsgebiet liegen und zu denen neben Gebieten in den Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din und Diyala insbesondere das gesamte Gouvernement Kirkuk gehört, ist zwischen der irakischen Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung strittig. Die Bevölkerung der umstrittenen Gebiete ist heterogen und umfasst neben Kurden und Arabern auch eine Vielzahl unterschiedlicher ethnischer und religiöser Minderheiten, wie Turkmenen, Jesiden, Schabak, Chaldäer, Assyrer und andere. Zwischen 2003 und 2017 übte die kurdische Regionalregierung de facto die Kontrolle über Teile der umstrittenen Gebiete aus. Kurdische Peschmerga eroberten Teile der umstrittenen Gebiete vom IS zurück und verteidigten sie oder stießen in das durch den Zerfall der irakischen Armee 2014 entstandene Vakuum vor.

Im September 2017 rief die kurdische Regionalregierung ein von der irakischen Zentralregierung und der internationalen Gemeinschaft kritisiertes Unabhängigkeitsreferendum in der Autonomen Region Kurdistan und in den umstrittenen Gebieten aus, bei dem die Mehrheit der Kurden für die Unabhängigkeit stimmte. Die Zentralregierung reagierte darauf am 16.10.2017 mit einem Militäreinsatz, bei dem Kirkuk und der Großteil der anderen umstrittenen Gebiete aus den Händen der kurdischen Parteien zurückerobert wurden. Die irakischen Streitkräfte rückten von Kirkuk aus rasch durch andere umstrittene Gebiete vor. In den meisten Fällen vollzog sich der Rückzug der Peschmerga in Abstimmung mit ihnen. In Tuz Churmatu (Gouvernement Salah ad-Din) und in Altin Köprü (Gouvernement Kirkuk) kam es jedoch zu bedeutenden Auseinandersetzungen zwischen Peschmerga und irakischen Streitkräften. Im Rahmen dieser Militäreinsätze gab es immer wieder Berichte über willkürliche Angriffe, Plünderung und Zerstörung privater Häuser und Geschäfte sowie von Büros politischer Parteien durch einzelne Sicherheitsakteure, vorrangig in den kurdischen Vierteln der Stadt Kirkuk und Tuz Churmatus. Über 180.000 Zivilpersonen, hauptsächlich Kurden, wurden laut Berichten als Folge der Militäreinsätze aus den umstrittenen Gebieten vertrieben. Die Mehrheit kehrte jedoch kurz danach in ihre Heimat zurück (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, Seite 13 ff).

In den umstrittenen Gebieten kommt es zu erheblichen Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten. Der IS verfügt nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen durchzuführen. Die Sicherheitsaufgaben in den umstrittenen Gebieten werden zwischen der Bundespolizei und den PMF geteilt. Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (LIB Staatendokumentation).

Das Gouvernement Kirkuk liegt im Norden des Irak und umfasst die Bezirke Kirkuk (mit der gleichnamigen Hauptstadt), Dibis, al-Hawija sowie Daquq. Für 2019 wurde die Bevölkerung auf 1.639.953 Einwohner geschätzt. Kirkuk hat eine vielfältige und gemischte Bevölkerung, die eine Reihe ethnischer und religiöser Gruppen umfasst, darunter (sunnitische) Araber, Kurden, Turkmenen und eine kleine Gemeinschaft chaldo-assyrische Christen. Die vorherrschende religiöse Gruppe sind sunnitische Muslime. Reichliche Ölreserven machen Kirkuk zu einer Provinz von strategischer Bedeutung, aber auch zu einer Quelle von Spannungen und einem lange währenden Territorialstreit zwischen der irakischen Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung. Zwischen 2014 und 2017 wurden verschiedene Teile der Provinz vom IS und von kurdischen Peschmerga kontrolliert. Irakische Sicherheitskräfte haben im Oktober 2017 nach der Entscheidung, ein kurdisches Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten, den Großteil der Provinz zurückerobert. Der IS hält kein Territorium mehr, ist in der Provinz aber vor allem in den Distrikten al-Hawija und Daquq aktiv. Ab Juni 2020 soll eine Vielzahl von Sicherheitsakteuren in der Provinz operieren, darunter die irakische Armee, der Anti-Terror-Dienst, eine Reihe von Milizen, die Bundes- und die lokale Polizei sowie verschiedene Geheimdienste. Jeder Akteur hat seinen eigenen Auftrag, seine eigene Struktur und seine eigene politische Heimat. Die hohe Zahl der Sicherheitsakteuren untergräbt möglicherweise eher die Stabilität im Gouvernement anstatt sie zu festigen (EASO – European Asylum Support Office: Country Guidance: Iraq; Guidance note and common analysis, Juni 2019, Seite 113 ff). Die irakische Bundespolizei ist ein wichtiger Sicherheitsakteur im Gouvernement. Anti-Terroreinheiten wurden in Kirkuk 2017 zur Bekämpfung des IS eingesetzt und übernahmen nach der Verdrängung der kurdischen Streitkräfte aus dem Gebiet im Oktober 2017 das Gesamtkommando über die Kräfte der Regierung in Kirkuk. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum im September 2017 waren Einheiten der irakischen Armee in Kirkuk präsent. Im weiteren Verlauf wurde die Kontrolle über die Stadt Kirkuk dann der Bundespolizei übertragen. Die Peschmerga zogen sich im Oktober 2017 aus der Stadt Kirkuk und dem größten Teil des Gouvernements zurück; irakische Behörden wiesen im Juli 2020 darauf hin, dass sie nicht nach Kirkuk zurückgekehrt seien und zwischen den Parteien über nachrichtendienstliche und militärische Zusammenarbeit in den umstrittenen Gebieten gesprochen worden sei. Ende März 2020 übertrug die unter der Führung der USA stehende Koalition gegen den IS die Zuständigkeit für den irakischen Luftwaffenstützpunkt im Gouvernement Kirkuk an die irakischen Streitkräfte. Lokale PMF-Gruppen waren im Wesentlichen für die nicht-städtischen Gebiete in den westlichen und südlichen Teilen des Gouvernements zuständig, in denen die Aufständischen des IS noch aktiv waren (EASO - European Asylum Support Office: Informationsbericht Sicherheitslage, Oktober 2020, Seite 114 ff).

Im Gouvernement Kirkuk gehen die Zahlen der sicherheitsrelevanten Vorfälle, bis auf wenige Spitzen, kontinuierlich zurück. Da der Süden Kirkuks nicht vollständig von IS-Kämpfern befreit wurde, kommt es insbesondere in dieser Region regelmäßig zu Angriffen. Wie im benachbarten Diyala handelte es sich bei Vorfällen in Kirkuk meist um Schießereien, Angriffe auf Kontrollpunkte, Überfälle auf Städte und Vertreibungen aus ländlichen Gebieten, wobei sich der IS auf den Süden des Gouvernements Kirkuk konzentrierte. Unter anderem wurden eine Polizeistation und ein Armeestützpunkt angegriffen, sowie ein Polizeihauptquartier mit Mörsern beschossen. Im Dezember 2019 hat der IS einen falschen Kontrollpunkt entlang der Straße von Tikrit nach Kirkuk eingerichtet, an dem er sechs Zivilisten hinrichtete. Neun der 13 Vorfälle im Jänner 2020 ereigneten sich im Süden, wo der IS im Gouvernement seine Basis hat. Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Kirkuk 39 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 41 Toten und 60 Verletzten verzeichnet, im Februar 2020 waren es acht Vorfälle mit sieben Toten und zwölf Verletzten. Während die übrigen Vorfälle dem IS zugeschrieben werden, werden für je einen Vorfall im Jänner und Februar 2020 pro-iranische PMF verantwortlich gemacht (LIB Staatendokumentation).

Obwohl die willkürliche Gewalt im Gouvernement Kirkuk ein hohes Niveau erreicht, begründet die bloße Anwesenheit einer Person in der Region (ohne das Hinzutreten zusätzlicher individueller Momente) kein reales Risiko ernsthafter Schäden für Zivilisten. (EASO – European Asylum Support Office: Country Guidance: Iraq; Guidance note and common analysis, Juni 2019, Seite 35 f).

Die irakische Verfassung garantiert demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung. Der Menschenrechtskatalog umfasst auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung. Der Irak hat wichtige internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert. Es kommt jedoch weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und andere Sicherheitskräfte. Der in der Verfassung festgeschriebene Aufbau von Menschenrechtsinstitutionen kommt weiterhin nur schleppend voran. Die unabhängige Menschenrechtskommission konnte sich bisher nicht als geschlossener und durchsetzungsstarker Akteur etablieren. Internationale Beobachter kritisieren, dass Mitglieder der Kommission sich kaum mit der Verletzung individueller Menschenrechte beschäftigen, sondern insbesondere mit den Partikularinteressen ihrer jeweils eigenen ethnisch-konfessionellen Gruppe. Ähnliches gilt für den Menschenrechtsausschuss im irakischen Parlament. Das Menschenrechtsministerium wurde 2015 abgeschafft.

Zu den wesentlichsten Menschenrechtsfragen im Irak zählen unter anderem Anschuldigungen bezüglich rechtswidriger Tötungen durch Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte, insbesondere durch einige Elemente der PMF; Verschwindenlassen und Erpressung durch PMF-Elemente; Folter; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre; Einschränkungen der Meinungsfreiheit einschließlich der Pressefreiheit; Gewalt gegen Journalisten; weit verbreitete Korruption; stark reduzierte Strafen für so genannte „Ehrenmorde“; gesetzliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen; Menschenhandel. Militante Gruppen töteten bisweilen LGBTI-Personen. Es gibt auch Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten, einschließlich Einschränkungen bei der Gründung unabhängiger Gewerkschaften.

Im Zuge des internen bewaffneten Konflikts begingen Regierungstruppen, kurdische Streitkräfte, paramilitärische Milizen, die US-geführte Militärallianz und der IS auch 2017 Kriegsverbrechen, Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und schwere Menschenrechtsverstöße. Der IS vertrieb tausende Zivilpersonen, zwang sie in Kampfgebiete und missbrauchte sie massenhaft als menschliche Schutzschilde. Er tötete vorsätzlich Zivilpersonen, die vor den Kämpfen fliehen wollten, und setzte Kindersoldaten ein. Regierungstruppen und kurdische Streitkräfte sowie paramilitärische Milizen waren für außergerichtliche Hinrichtungen von gefangen genommenen Kämpfern und Zivilpersonen, die dem Konflikt entkommen wollten, verantwortlich. Außerdem zerstörten sie Wohnhäuser und anderes Privateigentum. Sowohl irakische und kurdische Streitkräfte als auch Regierungsbehörden hielten Zivilpersonen, denen Verbindungen zum IS nachgesagt wurden, willkürlich fest, folterten sie und ließen sie verschwinden. Prozesse gegen mutmaßliche IS-Mitglieder und andere Personen, denen terroristische Straftaten vorgeworfen wurden, waren unfair und endeten häufig mit Todesurteilen, die auf „Geständnissen“ basierten, welche unter Folter erpresst worden waren. Die Zahl der Hinrichtungen war weiterhin besorgniserregend hoch.

Es gibt zahlreiche Berichte, dass der IS und andere terroristische Gruppen, sowie einige Regierungskräfte, einschließlich der PMF, willkürliche oder rechtswidrige Tötungen begangen haben. Es gibt keine öffentlich zugängliche umfassende Darstellung des Umfangs des Problems verschwundener Personen. Obwohl die PMF offiziell unter dem Kommando des Premierministers stehen, operieren einige PMF-Einheiten nur unter begrenzter staatlicher Aufsicht oder Rechenschaftspflicht (LIB Staatendokumentation).

Die irakische Verfassung garantiert, mit einigen Ausnahmen, das Recht auf Gründung von und Mitgliedschaft in Vereinen und politischen Parteien. Die Regierung respektiert diese Rechte im Allgemeinen. Ausnahmen betreffen das gesetzliche Verbot von Gruppen, die Unterstützung für die Ba‘ath-Partei oder für zionistische Prinzipien bekunden. Belastbare Erkenntnisse über die gezielte Unterdrückung der politischen Opposition durch staatliche Organe liegen nicht vor. Politische Aktivisten berichten jedoch von Einschüchterungen und Gewalt durch staatliche, nichtstaatliche oder paramilitärische Akteure, die abschrecken sollen, neue politische Bewegungen zu etablieren und die freie Meinungsäußerung teils massiv einschränken.

In der Autonomen Region Kurdistan ist im Raum Erbil und Dohuk eine Oppositionsbewegung kaum existent; die KDP gilt in weiten Teilen als alternativlos. In der Region um Sulaymaniyah und Halabja haben sich in den vergangenen Jahren auch Gruppen von der PUK abgewandt. In den KDP-Gebieten finden kaum Demonstrationen statt, da sie meist bereits im Keim erstickt werden. In den PUK-Gebieten, v.a. in der Stadt Sulaymaniyah, sind Demonstrationen hingegen keine Seltenheit (LIB Staatendokumentation).

Die wichtigsten ethnisch-religiösen Gruppierungen im Irak sind (arabische) Schiiten, die 60 bis 65 Prozent der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17 bis 22 Prozent) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden, überwiegend sunnitischen Kurden (LIB Staatendokumentation).

Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der Autonomen Region Kurdistan, oft benachteiligt. Zudem ist nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins die irakische Gesellschaft teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen – eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräuel gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat. Gepaart mit der extremen Korruption im Lande führt diese Spaltung der Gesellschaft dazu, dass im Parlament, in den Ministerien und zu einem großen Teil auch in der nachgeordneten Verwaltung, nicht nach tragfähigen, allgemein akzeptablen und gewaltfrei durchsetzbaren Kompromissen gesucht wird, sondern die zahlreichen ethnisch-konfessionell orientierten Gruppen oder Einzelakteure ausschließlich ihren individuellen Vorteil suchen oder ihre religiös geprägten Vorstellungen durchsetzen. Ein berechenbares Verwaltungshandeln oder gar Rechtssicherheit existieren nicht (LIB Staatendokumentation).

Schätzungen zufolge sind 15 bis 20% der irakischen Bevölkerung Kurden. Während sich die arabische Bevölkerung vorwiegend in den westlichen Landesteilen, der Zentralregion und im Süden des Landes verteilt, leben die Kurden mehrheitlich im Nordosten. Die Kurden in der Autonomen Region Kurdistan bekennen sich überwiegend als Sunniten, es gibt unter ihnen aber auch neuzeitliche Zoroastrier und Jesiden. Von ethnisch-konfessionellen Auseinandersetzungen sind auch Kurden betroffen, soweit sie außerhalb der Autonomen Region Kurdistan leben. Im Nachgang zum Unabhängigkeitsreferendum hat die zentral-irakische Armee die umstrittenen Gebiete größtenteils wieder unter die Kontrolle Bagdads gebracht. Insbesondere in diesen umstrittenen Gebieten waren und sind Kurden und andere Minderheiten mit Diskriminierung, Vertreibung und in einigen Fällen mit Gewalt seitens der Regierungstruppen, insbesondere der mit dem Iran verbündeten PMF-Milizen, konfrontiert (LIB Staatendokumentation).

Die irakische Verfassung und andere nationale Rechtsinstrumente erkennen das Recht aller Bürger auf Freizügigkeit, Reise- und Aufenthaltsfreiheit im ganzen Land an. Die Regierung respektiert das Recht auf Bewegungsfreiheit jedoch nicht konsequent. In einigen Fällen beschränken die Behörden die Bewegungsfreiheit von Binnenvertriebenen und verbieten Bewohnern von Lagern für Binnenvertriebene, ohne eine Genehmigung das Lager zu verlassen. Das Gesetz erlaubt es den Sicherheitskräften, die Bewegungsfreiheit im Land einzuschränken, Ausgangssperren zu verhängen, Gebiete abzuriegeln und zu durchsuchen. Checkpoints unterliegen oft undurchschaubaren Regeln verschiedenster Gruppierungen. Der IS richtet falsche Checkpoints an Straßen zur Hauptstadt ein, um Zivilisten zu entführen bzw. Angriffe auf Sicherheitskräfte und Zivilisten zu verüben (LIB Staatendokumentation).

Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die grassierende Korruption verstärkt vorhandene Defizite zusätzlich. In vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wiederhergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt (LIB Staatendokumentation).

Iraks Wirtschaft erholt sich allmählich nach den wirtschaftlichen Herausforderungen und innenpolitischen Spannungen der letzten Jahre. Die Erholung vom Terror des IS und seinen Folgen erfolgt nur langsam, zumal ökonomisch wichtige Städte wie Mossul zerstört wurden. Dies trifft das Land, das seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg und Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im April 2019.

Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar. Rund 90 % der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors, Hauptarbeitgeber ist der Staat bzw. der öffentliche Sektor. Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9 % im Jahr 2017/18 gestiegen. Unterbeschäftigung ist besonders hoch bei Binnenvertriebenen. Ein Fünftel der wirtschaftlich aktiven Jugendlichen ist arbeitslos, ein weiters Fünftel weder erwerbstätig noch in Ausbildung. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Arbeitsmöglichkeiten haben im Allgemeinen abgenommen. Die monatlichen Einkommen im Irak liegen in einer Bandbreite zwischen 200 und 2.500 USD (Anm.: ca. 185-2.312 EUR), je nach Position und Ausbildung. Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten.

Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen. Einer Studie von 2018 zufolge ist die Armutsrate zwar wieder gesunken, aber nach wie vor auf einem höheren Niveau als vor dem Beginn des IS-Konflikt 2014, wobei sich die Werte, abhängig vom Gouvernement, stark unterscheiden. Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5 %), Kirkuk (7,6 %), Erbil (6,7 %) und Sulaymaniyah (4,5 %) auf.

Ca. 70 % der Iraker leben in Städten. Die Lebensbedingungen eines großen Teils der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums. Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich. Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig.

Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht. Sie deckt nur etwa 60 % der Nachfrage ab, wobei etwa 20 % der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit. Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Autonomen Region Kurdistan erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Brennstoffmangel; es gibt erhebliche Leitungsverluste.

Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist. Insbesondere Dammprojekte der irakischen Nachbarländer, wie in der Türkei, haben großen Einfluss auf die Wassermenge und Qualität von Euphrat und Tigris. Der damit einhergehende Rückgang der Wasserführung in den Flüssen hat ein Vordringen des stark salzhaltigen Wassers des Persischen Golfs ins Landesinnere zur Folge und beeinflusst sowohl die Landwirtschaft als auch die Viehhaltung. Das bringt in den besonders betroffenen südirakischen Gouvernements Ernährungsunsicherheit und sinkende Einkommensquellen aus der Landwirtschaft mit sich. Die Wasserversorgung wird zudem von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem fehlt es weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser.

Etwa 1,77 Millionen Menschen im Irak sind von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, ein Rückgang im Vergleich zu 2,5 Millionen Betroffenen im Jahr 2019. Die meisten davon sind Binnenvertriebene und Rückkehrer. Besonders betroffen sind jene in den Gouvernements Diyala, Ninewa, Salah al-Din, Anbar und Kirkuk. Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Im Zuge des Krieges gegen den IS waren viele Bauern gezwungen, ihre Betriebe zu verlassen. Ernten wurden zerstört oder beschädigt. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Pflanzen, eingelagerte Ernten und Vieh wurden geplündert. Aufgrund des Konflikts und der Verminung konnten Bauern für die nächste Landwirtschaftssaison nicht pflanzen. Die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung wurden unterbrochen, die Nahrungsmittelpreise auf den Märkten stiegen. Trotz konfliktbedingter Einschränkungen und Überschwemmungen entlang des Tigris (betroffene Gouvernements: Diyala, Wasit, Missan und Basra), die im März 2019 aufgetreten sind, wird die Getreideernte 2019 wegen günstiger Witterungsbedingungen auf ein Rekordniveau von 6,4 Millionen Tonnen geschätzt. Trotzdem ist das Land von Nahrungsmittelimporten abhängig.

Das Sozialsystem wird vom sogenannten „Public Distribution System“ (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen. Es ist in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak und das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme, obwohl es von schwerer Ineffizienz gekennzeichnet ist. Es sind zwar alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des PDS zu erhalten. Das Programm wird von den Behörden jedoch nur sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Außerdem hat der niedrige Ölpreis die Mittel dafür weiter eingeschränkt.

Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können, haben Zugang zum Gesundheitssystem; dafür wird lediglich ein irakischer Ausweis benötigt. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus oder Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen. Staatliche wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden. Dort ist die Dichte an praktizierenden Ärzten und an privaten und staatlichen Kliniken um ein Vielfaches größer, gleiches gilt für Apotheken und medizinische Labore. Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss zunächst eine Art Praxisgebühr bezahlt werden. Diese beläuft sich in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 irakische Dinar (IQD), das sind ca. 12 bis 16 EUR. Für spezielle Untersuchungen und Laboranalysen sind zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Außerdem müssen Medikamente, die man direkt vom Arzt bekommt, gleich vor Ort bezahlt werden. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch nicht die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen wie Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen. Insgesamt bleibt die medizinische Versorgungssituation angespannt. Auf dem Land kann es bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben; allerdings gilt die Faustformel: Je kleiner und abgeschiedener das Dorf, umso schwieriger die medizinische Versorgung. In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführung oder Repression das Land verlassen. Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Spezialisierte Behandlungszentren für Personen mit psychosoziale Störungen existieren zwar, sind jedoch nicht ausreichend. Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren.

Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, unter anderem von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. Rückführungen aus Deutschland in die Autonome Region Kurdistan finden regelmäßig statt.

Studien zufolge ist die größte Herausforderung für Rückkehrer die Suche nach einem Arbeitsplatz und einem Einkommen. Andere Herausforderungen bestehen in der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, psychischen und psychologischen Problemen sowie negativen Reaktionen von Freunden und Familie zu Hause im Irak. Die Höhe einer Miete hängt vom Ort, der Raumgröße und der Ausstattung der Unterkunft ab. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Preise für gewöhnlich günstiger. Die Wohnungspreise in der Autonomen Region Kurdistan sind 2018 um 20% gestiegen, während die Miete um 15% gestiegen ist, wobei noch höhere Preise prognostiziert werden. Während die Nachfrage nach Mietobjekten stieg, nahm die Nachfrage nach Kaufobjekten ab. Durchschnittliche Betriebskosten betragen pro Monat 15.000 IQD (Anm.: ca. 12 EUR) für Gas, 10.000-25.000 IQD (Anm.: ca. 8-19 EUR) für Wasser, 30.000-40.000 IQD (Anm.: ca. 23-31 EUR) für Strom (staatlich) und 40.000-60.000 IQD (Anm.: ca. 31-46 EUR) für privaten oder nachbarschaftlichen Generatorenstrom. Die Rückkehr von Binnenvertriebenen in ihre Heimatorte hat eine leichte Senkung der Mietpreise bewirkt. Generell ist es für alleinstehende Männer schwierig Häuser zu mieten, während es in Hinblick auf Wohnungen einfacher ist. Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser, jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote. In der Zeit nach Saddam Hussein sind die Besitzverhältnisse von Immobilien zuweilen noch ungeklärt und nicht jeder Vermieter besitzt auch eine ausreichende Legitimation zur Vermietung.

Im Zuge seines Rückzugs aus der nordwestlichen Region des Irak 2016 und 2017 hat der IS die landwirtschaftlichen Ressourcen vieler ländlicher Gemeinden ausgelöscht, indem er Brunnen, Obstgärten und Infrastruktur zerstörte. Für viele Bauerngemeinschaften gibt es kaum noch eine Lebensgrundlage. Es besteht keine öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche für Rückkehrer, private Immobilienunternehmen können jedoch helfen (LIB Staatendokumentation).

Rückkehrer können beim Ministerium für Arbeit und Soziales Unterstützung beantragen; hierzu müssen sie ihre Identitätskarte, ihre Lebensmittelkarte und verschiedene andere Dokumente vorlegen, um sich registrieren zu lassen. Die irakische Regierung stellt grundlegende Leistungen wie kostenlose Bildung, Gesundheitsversorgung und Lebensmittelrationen ohne Diskriminierung für alle Bürger, auch für Rückkehrer, bereit. Neben der Regierung leisten auch humanitäre Organisationen Unterstützung, um das Wohlergehen und den Lebensstandard akut gefährdeter Rückkehrer zu verbessern (EASO – European Asylum Support Office: Irak; Zentrale sozioökonomische Indikatoren für Bagdad, Basra und Erbil, September 2020).

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei aus dem Inhalt der Verwaltungsakten und des Gerichtsakts.

Name, Staatsangehörigkeit und Geburtsdatum des BF gehen aus seinem Reisepass hervor, dessen Datenblatt als Kopie vorliegt. Seine Herkunft aus XXXX , seine Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit, seine Muttersprache und sein Familienstand gehen aus seinen Angaben bei der Erstbefragung und vor dem BFA sowie den damit korrespondierenden Angaben vor dem BVwG hervor.

Die vom BF angegebenen Sprachkenntnisse sind angesichts seiner Herkunft und seines Bildungsstandes plausibel. Deutschkenntnisse können festgestellt werden, zumal ein ÖSD-Zertifikat für das Sprachniveau B1 vorgelegt wurde.

Ausbildung und Berufserfahrung des BF können aufgrund seiner glaubhaften Angaben vor dem BFA und dem BVwG festgestellt werden; das Graduierungszeugnis des XXXX wurde in Kopie samt beglaubigter Übersetzung vorgelegt. Es ist aufgrund des Alters und des Studiums des BF glaubhaft, dass sein Vater im Irak für seinen Lebensunterhalt aufkam.

Die militärischen Auseinandersetzungen in XXXX im Oktober 2017 ergeben sich aus der Darstellung des BF, die durch entsprechende Berichte und Informationen über die Situation im Irak, insbesondere in XXXX , untermauert werden. Es ist angesichts der Vertreibung von über 180.000 Zivilpersonen (hauptsächlich Kurden), die aus den Länderinformationen hervorgeht, auch glaubhaft, dass der BF XXXX damals gemeinsam mit seiner Familie verließ. Auch seiner Schilderung der Ausreise über XXXX in die Türkei, des aktuellen Aufenthalts seiner Herkunftsfamilie und der Kontakte zu seinen Angehörigen kann mangels entgegenstehender Beweisergebnisse gefolgt werden.

Die Feststellungen zu den aktuellen Lebensumständen des BF in Österreich und zu seinen Integrationsbemühungen beruhen einerseits auf den vorgelegten Bestätigungen und Unterstützungsschreiben und andererseits auf den Angaben des BF und der vor dem BVwG vernommenen Zeugin.

Das Verfahren hat keine Anhaltspunkte für schwerwiegende medizinische Probleme des BF ergeben. Die operative Entfernung einer Zyste 2017 im Irak hat offenbar keine weiteren Probleme nach sich gezogen; auch die Migräne ist nicht so gravierend, dass sie eine wesentliche Gesundheitsbeeinträchtigung darstellen würde. Die Arbeitsfähigkeit des BF ergibt sich daraus, aus seinem erwerbsfähigen Alter und der geplanten Aufnahme einer Erwerbstätigkeit.

Der Bezug von Grundversorgungsleistungen geht aus dem GVS-Betreuungsinformationssystem hervor, die Krankenversicherung des BF als Asylwerber aus dem Versicherungsdatenauszug. Eine Erwerbstätigkeit im Inland wird weder von ihm selbst behauptet noch lässt sie sich den Akten entnehmen. Die Zulassung des Asylverfahrens und die Ausstellung einer Aufenthaltsberechtigungskarte gehen aus dem Fremdenregister (IZR) hervor. Hinweise auf ein Aufent

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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