Entscheidungsdatum
04.10.2021Norm
BFA-VG §9Spruch
L510 2229111-1/31E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. INDERLIETH als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Mag. Dr. DOLL-AIDIN Maria Lisa MAS LL.M., gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.02.2020, Zl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.04.2021 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass gemäß § 55 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage beträgt.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrenshergang
1. Die beschwerdeführende Partei (bP), ein türkischer Staatsangehöriger, reiste ca. Anfang 1998 im Rahmen der Familienzusammenführung in das österreichische Bundesgebiet ein. Mit 13.01.1998 meldete sie sich erstmalig im Bundesgebiet mit Hauptwohnsitz an und ist seither durchgehend im Bundesgebiet aufrecht gemeldet.
Am 28.01.1999 ging sie erstmals ein Beschäftigungsverhältnis im Bundesgebiet ein und war bis dato bei verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt, bezog in dieser Zeit jedoch auch Arbeitslosengeld sowie Notstands- und Überbrückungshilfe. Derzeit bezieht die bP Rehabilitationsgeld und verbüßt eine Haftstrafe in der Justizanstalt XXXX .
Am 02.09.2003 wurde ihr von der Bezirkshauptmannschaft XXXX (BH XXXX ), ein bis zum 20.07.2013 befristeter Niederlassungsausweis ausgestellt. Im Anschluss wurde ihr von der BH XXXX der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“, gültig von 05.03.2009 bis 04.03.2014, erteilt. Dieser wurde verlängert und der bP ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ von 18.03.2014 bis 17.03.2019 erteilt. Dieser Aufenthaltstitel wurde in den Folgejahren wiederum bis zum 17.03.2024 verlängert.
Am 07.01.2019 langte eine Berichterstattung der LPD XXXX bezüglich einer gefährlichen Drohung beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ein.
Am XXXX 2018, rechtskräftig mit XXXX 2019, wurde die bP durch das LG XXXX zu einer Freiheitstrafe von drei Jahren verurteilt ( XXXX ). Sie wurde für schuldig befunden das Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB und das Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB begangen zu haben.
Mit Schriftsatz vom 05.09.2019 wurde ihr vom BFA schriftlich Parteiengehör gewährt, wobei sie darüber informiert wurde, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung geplant ist.
Am 16.09.2019 langte beim BFA eine Berichterstattung der LPD XXXX bezüglich einer gefährlichen Drohung sowie unkooperativem Verhalten gegenüber der Polizei ein.
Am 20.09.2019 langte beim BFA eine Stellungnahme zur Verständigung über die Beweisaufnahme ein.
Nach Aufforderung zur Vorlage von medizinischen Unterlagen durch das BFA am 20.09.2019, langte am 25.09.2019 eine Mitteilung und Urkundenvorlage ein.
Mit dem verfahrensgegenständlichen Bescheid des BFA vom 05.02.2020 wurde gegen die bP gemäß § 52 Abs 5 FPG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 52 Abs 9 FPG wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 3 Z 5 FPG wurde gegen sie ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt III.). Gem. § 55 Abs 4 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt. (Spruchpunkt IV). Einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung wurde gemäß § 18 Abs 2 Ziffer 1 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.).
Mit Verfahrensanordnung vom 06.02.2020 wurde der bP ein Rechtsberater gemäß § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
2. Mit Schriftsatz der Vertretung vom 24.02.2020 wurde fristgerecht Beschwerde eingebracht.
3. Mit Erkenntnis des BVwG vom 05.03.2020, GZ: L529 2229111-1/3Z, wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
4. Am 25.09.2020 langten Vollzugsinformationen beim BVwG ein, wonach sich die bP seit 09.09.2020 in Strafhaft befindet. Am 24.11.2020 erfolgte eine Verständigung über die Überstellung der bP in die Justizanstalt XXXX am 25.11.2020.
5. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 14.01.20021 wurde die Rechtssache der GA L510 neu zugewiesen.
6. Am 08.04.2021 wurde vor dem BVwG eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt.
Mit Schriftsatz vom 29.04.2021 erfolgte eine aufgetragene Urkundenvorlage sowie eine Stellungnahme und wurden mehrere Anträge gestellt.
7. Bezugnehmend auf eine Anfrage des Bundesverwaltungsgerichts vom 31.05.2021 langte am 02.09.2021 eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation hinsichtlich der COPD Behandlungsmöglichkeiten der bP in der Türkei ein. Diesbezüglich wurde Parteiengehör gewährt und erging eine Stellungnahme seitens der Rechtsvertretung.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt)
1.1. Zur Person der beschwerdeführenden Partei:
Die Identität der bP steht fest, sie führt den im Spruch angeführten Namen und das dort genannte Geburtsdatum. Die bP ist in der Türkei geboren, ist türkischer Staatsbürger und lebte bis zu ihrer Ausreise in XXXX . Sie reiste Anfang 1998 im Rahmen einer Familienzusammenführung in Österreich ein. Mit 13.01.1998 meldete sie sich erstmalig im Bundesgebiet mit Hauptwohnsitz an und ist seither durchgehend im Bundesgebiet aufrecht gemeldet.
Am 28.01.1999 ging sie erstmals ein Beschäftigungsverhältnis im Bundesgebiet ein und war bis dato bei verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt, bezog in dieser Zeit jedoch auch Arbeitslosengeld sowie Notstands- und Überbrückungshilfe. Nur einmal arbeitete die bP durchgehend länger als ein Jahr in Österreich, in der Zeit zwischen 21.07.2014 und 14.09.2015. Zuletzt ging sie im Zeitraum von 11.07.2019 bis 31.07.2019 einer regelmäßigen Beschäftigung als geringfügig Beschäftigter nach. Derzeit bezieht die bP Rehabilitationsgeld und verbüßt eine Haftstrafe in der Justizanstalt XXXX .
Am 02.09.2003 wurde ihr ein bis zum 20.07.2013 befristeter Niederlassungsausweis ausgestellt. Im Anschluss wurde ihr der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“, gültig von 05.03.2009 bis 04.03.2014, erteilt. Dieser wurde verlängert und der bP ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ von 18.03.2014 bis 17.03.2019 erteilt. Dieser Aufenthaltstitel wurde in den Folgejahren wiederum bis zum 17.03.2024 verlängert.
Die bP lebte in Österreich bis zu ihrer Inhaftierung gemeinsam mit ihrer Ehegattin und ihren sechs gemeinsamen Kindern in einer Mietwohnung zusammen. Die beiden älteren Töchter sind im November 2020 aus der elterlichen Wohnung ausgezogen und wohnen gemeinsam in einer Mietwohnung. Drei der Kinder sind bereits volljährig, der Sohn wird am 01.04.2022 volljährig. Die jüngste Tochter der bP ist pflegebedürftig und weist einen Grad der Behinderung von 100 auf, weshalb sie Pflegestufe 7 hat. Die bP übernahm vor ihrer Inhaftierung einen Teil der Pflege, indem sie dem Kind gelegentlich zu essen gab und die Windeln wechselte. In Österreich leben weiters ein Onkel und Cousins der bP sowie die Schwester der Ehegattin der bP. Die Eltern der Ehegattin der bP leben ebenfalls in Österreich, diese verfügen jedoch auch über einen Wohnsitz in der Türkei. Die Tante sowie der Schwager der bP leben jeweils sechs Monate im Jahr in Österreich und sechs Monate in der Türkei.
Die bP weist sonst keinerlei private Bindungen in Österreich auf und setzte während Ihres Aufenthaltes kaum Integrationsschritte. Die bP spricht kaum die deutsche Sprache. Ihre Muttersprache ist Türkisch. Vor ihrer Inhaftierung verbrachte die bP ihre Freizeit mit Sport, Essen gehen, Kaffee trinken und mit ihren Kindern, mit welchen sie sich in Parkanlagen aufgehalten hat. Besondere Freundschaften zu österreichischen Staatsbürgern wurden von der bP im Verfahren nicht vorgebracht.
Die bP wurde in der Türkei geboren und besuchte dort fünf Jahre lang die Grundschule. Anschließend war sie in der Landwirtschaft tätig, wo sie auf den Haselnussfeldern ihres Vaters arbeitete. Ein Jahr lang arbeitete sie in Istanbul in einer Firma als Bügler. Die bP besuchte seit ihrer erstmaligen Einreise in Österreich ca. sechs bis sieben Mal ihre Familie in der Türkei. Zuletzt reiste die bP vor drei oder vier Jahren in die Türkei nach XXXX um ihren kranken Vater zu besuchen. In der Türkei leben nach wie vor die Mutter, zwei Schwestern und ein Bruder der bP.
Die bP ist seit 14.06.2019 Geschäftsführer des Vereins „ XXXX “, wo sie bis zu ihrer Inhaftierung das Lokal in XXXX führte und dafür ca. 2000,- Euro netto monatlich erhielt. Die bP arbeitete täglich von 18:00 Uhr bis 03:00 Uhr in dem Lokal. Aktuell wird das Lokal von den beiden älteren Kindern der bP geführt.
Die bP leidet an einer COPD Erkrankung im III. – IV. Stadium. Sie nimmt täglich zwei Lungenmedikamente, zuletzt die Medikamente Brimica Genuair und Miflonide Breezhaler, sowie bei Bedarf Berodual und ist abhängig von externem Sauerstoff. Aktuell befindet sich die bP in einer Psychotherapie (Existenzanalyse), einer Sporttherapie sowie einer Gesprächstherapie. Das ärztliche Gutachten der PVA attestiert die bP als nicht belastbar für regelmäßige Tätigkeiten am Arbeitsmarkt, weswegen sie seit 01.02.2019 Rehabilitationsgeld bezieht. Die bP selbst ist arbeitswillig. In der Justizanstalt arbeitet die bP als Abwäscher in der Küche und kann diese Tätigkeit ohne Probleme bewältigen. Es geht ihr trotz ihrer Lungenerkrankung gut. Sie befindet sich nicht in einem akut lebensgefährdenden Gesundheitszustand. Bis Jänner 2021 rauchte die bP noch mehrere Zigaretten am Tag.
Die bP wurde mit Urteil des LG XXXX vom unter der Zahl XXXX wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB und des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Sie hat am 19. Juni 2017 XXXX mit Gewalt, indem sie ihr einen Stoß versetzte, sodass sie zu Boden stürzte, sie hochhob und auf ein Sofa verbrachte, ihr Hose und Unterhose nach unten sowie T-Shirt und Büstenhalter nach oben zog, sie würgte, ihr den Mund zuhielt und sie an den Handgelenken festhielt, sowie durch gefährliche Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben, indem sie wiederholt äußerte: „Wenn du schreist, dann werde ich dich schlagen und umbringen!“, zur Duldung des Beischlafs genötigt;
Sowie am 04. Mai 2017 XXXX , nachdem sich diese nicht küssen lassen wollte, mit beiden Händen am Hals erfasst und gewürgt und dadurch sowie durch das daran anschließende Sturzgeschehen in Form von Hautabschürfungen und Rötungen an der rechten Seite des Halses sowie einer Prellung der Halswirbelsäule am Körper verletzt.
Mildernd habe bei der Strafbemessung der bisher ordentliche Lebenswandel der bP gewogen. Erschwerend hingegen habe das Zusammentreffen von einem Verbrechen mit einem Vergehen, die Doppelqualifikation der Vergewaltigung und der Umstand, dass die bP bei der Begehung der Vergewaltigung ihre Autoritätsstellung gegenüber ihrer Hilfskraft missbraucht habe gewogen. Im Rahmen der allgemeinen Strafzumessung sei außerdem die Begehung der Vergewaltigung während anhängigem Strafverfahren als massiv erschwerend zu berücksichtigen. Auch mit Blick darauf, dass die überhaupt kein Deutsch, sondern nur Türkisch und Bulgarisch sprechende Hilfskraft über die Vermittlung durch Privatpersonen wenige Tage zuvor zum Arbeiten nach XXXX gekommen war, wo sie weder über familiäre noch über sonstige eigene soziale Kontakte verfügte, und die bP die Hilflosigkeit ausnutzte, liege ein deutlich erhöhter Handlungsunwert vor. Zu berücksichtigen seien zudem die zwar häufig aus einer Vergewaltigung resultierenden, aber keineswegs für deren Strafbarkeit vorausgesetzten Verletzungsfolgen beim Tatopfer. Auch seien generalpräventive Erwägungen miteinzubeziehen.
Mit Erkenntnis des OLG XXXX vom XXXX 2019, XXXX , wurde der Beschwerde der bP insofern Folge gegeben, als das angefochtene Urteil im Strafausspruch dahin abgeändert wurde, dass die Freiheitsstrafe auf drei Jahre herabgesetzt wurde.
Mit Blick auf die Ersttäterschaft des damals 50-jährigen erachtete das Berufungsgericht eine Herabsetzung des Strafmaßes als geboten. Das Gericht führte weiters aus, dass die von der bP begehrte Anwendung einer teilbedingten Freiheitsstrafe neben der generalpräventiven Erforderlichkeit des § 43 StGB in spezialpräventiver Sicht eine im Vergleich zu § 43 StGB an strengere Kriterien geknüpfte günstige Prognose erfordert, nämlich eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Rechtsbrecher keine weiteren strafbaren Handlungen begehen werde. Dies setzt ein eindeutiges und beträchtliches Überwiegen jener Umstände voraus, die dafürsprechen, dass es sich um eine einmalige Verfehlung gehandelt hat. Eine solche günstige Zukunftsprognose, dass sie keine weiteren strafbaren Handlungen begehen werde, konnte das OLG XXXX bei der bP nicht feststellen.
Aufgrund ihrer Verurteilung befindet sich die bP auch seit 09.09.2020 in Haft. Das errechnete Ende der Haftstrafe ist der 25.08.2023.
Seit der Überstellung der bP in die Justizanstalt XXXX am 25.11.2020 wurde sie lediglich einmal von ihrem Sohn besucht, die restliche Familie war bisher noch nicht zu Besuch. Die bP steht jedoch durch Telefonate sowie Videoanrufe mit ihrer Familie in Kontakt.
Die Familie der bP ist aus finanzieller Sicht nicht auf einen Aufenthalt der bP im Bundesgebiet angewiesen.
Für eine gewisse Zeit lag das Obsorgerecht der pflegebedürftigen Tochter XXXX beim Jugendamt. Im Zuge des Obsorgeverfahrens vor dem BG XXXX kam es zu der Einigung, dass die bP und Ihre Ehegattin das Obsorgerecht zurückerhielten, die medizinische Versorgung der Tochter jedoch weiterhin dem Jugendamt zukommt. Der pflegebedürftigen Tochter der bP ist die Inanspruchnahme von Unterstützung durch Vereine oder anderen Personen jedenfalls möglich. Die Pflege der Tochter ist der Ehegattin auch ohne Hilfeleistung der bP möglich.
1.2. Die beschwerdeführende Partei ist aufgrund der von ihr begangenen Straftaten und ihres Persönlichkeitsbildes als schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit anzusehen.
1.3. Es konnte nicht festgestellt werden, dass die bP im Falle einer Ausreise in die Türkei aus in ihrer Person gelegenen Gründen oder aufgrund der allgemeinen Lage vor Ort einer maßgeblichen individuellen Gefährdung oder Bedrohung ausgesetzt wäre oder dort keine hinreichende Existenzgrundlage vorfinden würde. Die Grundversorgung im Herkunftsstaat der bP ist gesichert und der Bezug von Sozialleistungen ist möglich. Die bP hat in der Türkei Zugang zu einer kostenfreien Krankenversicherung. Zudem konnte nicht festgestellt werden, dass die bP in der Türkei keine ausreichenden Behandlungsmöglichkeiten vorfinden würde.
1.4. Zur aktuellen Lage in der Türkei (auszugsweise):
Politische Lage
Letzte Änderung: 26.01.2021
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 24.8.2020; vgl. DFAT 10.9.2020), wobei das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft wurde (DFAT 10.9.2020; vgl. bpb 9.7.2018).
Die Verfassungsarchitektur ist weiterhin von einer fortschreitenden Zentralisierung der Befugnisse im Bereich des Präsidentenamtes geprägt, ohne eine solide und wirksame Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu gewährleisten. Da es keinen wirksamen Kontroll- und Ausgleichsmechanismus gibt, bleibt die demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive auf Wahlen beschränkt. Unter diesen Bedingungen setzten sich die gravierenden Rückschritte bei der Achtung demokratischer Normen, der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten fort. Die politische Polarisierung verhindert einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die parlamentarische Kontrolle über die Exekutive bleibt schwach. Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019).
Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZEMitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht gesenkt.
Die unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem (damals noch) geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von
nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31.3.2019 hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu, mit einem Vorsprung von nur 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019).
?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Y?ld?r?m, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).
Die Gesetzgebungsverfahren sind nicht effektiv. Präsidialdekrete bleiben der parlamentarischen Beratung und Kontrolle entzogen (EC 6.10.2020; vgl. ÖB 10.2020). Präsidialdekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 10.2020). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsident und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialdekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments, nichtsdestotrotz hat der Präsident bis Dezember 2019 53 Dekrete erlassen, die ein breites Spektrum sozioökonomischer Politikbereiche abdecken und eben nicht in den Geltungsbereich von Präsidialdekreten fallen (EC 6.10.2020). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialdekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialdekreten beantragen kann (EC 29.5.2019).
Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft (Stand Ende Dezember 2020), im Falle von Selahattin Demirta? trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020). Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsfreiheit von gewählten Amtsträgern außerhalb des Parlaments einschränkt, bleiben ungelöst (EC 6.10.2020).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 6.10.2020). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie „die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören“, bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt auch im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018). Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen.
Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands verhaftet und mehr als 78.000 aufgrund Vorwürfen mit Terrorismusbezug festgenommen (EC 29.5.2019).
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von „Treuhändern“ anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020). Mit Stand Oktober 2020 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister, hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblich Verbindungen zu terroristischen Organisationen hatten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 6.10.2020; vgl. bianet 2.10.2020). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Da keine Anklage erhoben wurde, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020). [siehe auch die Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Opposition und Gülenoder Hizmet-Bewegung]
Quellen:
• AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante
Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3
%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der
_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 1.10.2020
• Anadolu – Anadolu Agency (23.6.2019): CHP’s Imamoglu wins Istanbul’s mayoral poll, https:
//www.aa.com.tr/en/politics/chps-imamoglu-wins-istanbul-s-mayoral-poll/1513613 , Zugriff
20.10.2020
• bianet (2.10.2020): Co-Mayor Ayhan Bilgen arrested, trustee appointed to Kars Municipality, http:
//bianet.org/english/politics/231997-co-mayor-ayhan-bilgen-arrested-trustee-appointed-to-kars-mu
nicipality; Zugriff 5.10.2020
• bpb – Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (9.7.2018): Das „neue“ politische System
der Türkei, https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/255789/das-neue-politische-systemder-
tuerkei , Zugriff 20.10.2020
• DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information
Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf ,
Zugriff 20.10.2020
• EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final],
https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff
9.10.2020
• EC – European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.
ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf; Zugriff 9.10.2020
• FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.6.2019): Erdogan gratuliert Imamoglu zum Wahlsieg in
Istanbul, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wieder-niederlage-fuer-erdogans-akp-in-istan
bul-16250529.html , Zugriff 20.10.2020
12
• HDN – Hürriyet Daily News (27.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen, Ergebnisse
Parlamentswahlen, https://web.archive.org/web/20180730173700/http://www.hurriyetda
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• HDN – Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum,
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Sicherheitslage
Letzte Änderung: 26.01.2021
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren
Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie der linksextremistischen DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die „Terrorbekämpfung“ und die Sicherung „nationaler Interessen“ hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht.
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihre Ableger, den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (AA 24.8.2020; vgl. SD 29.6.2016, AJ 12.12.2016). Die Lage im Südosten des Landes ist weiterhin sehr besorgniserregend (EC 6.10.2020). Dort sind die Spannungen besonders groß und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen (EDA 28.12.2020). Die Regierung setzte die inneren und grenzüberschreitenden Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und in Syrien sowie innerhalb des Landes fort (USDOS 24.6.2020; vgl. EC 6.10.2020). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 6.10.2020). In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen (EDA 28.12.2020).
Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (?HD) kamen 2019 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 440 Personen ums Leben, davon 98 Angehörige der Sicherheitskräfte, 324 bewaffnete Militante und 18 Zivilisten (?HD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (?HD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (?HD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (?HD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe fast 5.200 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis 10.12.2020. Im Jahr 2020 wurden bis zum 10.12.2020 311 Opfer registriert. Besonders hoch waren die Zahlen in den Monaten Mai bis September 2020 (ICG 20.12.2020).
Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 6.10.2020).
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 8.10.2020). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und A????r? (AA 28.12.2020a).
Das türkische Parlament stimmte (mit Ausnahme der pro-kurdischen HDP) am 7.10.2020 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen sowohl im Irak als auch in Syrien um ein weiteres Jahr zu verlängern (BAMF 19.10.2020).
Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 28.12.2020).
Quellen:
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Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Letzte Änderung: 26.01.2021
Die Rechtsstaatlichkeit wird ausgehöhlt und die Grundfreiheiten werden weiter eingeschränkt. Dies markiert eine Beschleunigung des Prozesses der Autokratisierung, der im Land bereits zuvor im Gange war (BS 29.4.2020). Die ernsthaften Bedenken der EU hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern verzeichneten im Gegenteil weitere Rückschritte (EC 6.10.2020; vgl. PACE 24.1.2019). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoECommDH 19.2.2020; vgl. EC 6.10.2020, USDOS 11.3.2020). Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020).
Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr.
7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zahlreiche Maßnahmen des Ausnahmezustandes, darunter insbesondere die Verleihung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden und Einschränkungen der Grundfreiheiten, wurden nunmehr gesetzlich verankert. Besonders problematisch sind der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 10.2020). Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019).
Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richtern (ÖB 10.2020). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen (ÖB 10.2019).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (bianet 24.2.2020).
Im vom World Justice Project jährlich erstellten „Rule of Law Index“ rangierte die Türkei im Jahr 2020 auf Platz 107 von 128 untersuchten Ländern. Der statistische Indikator verharrte wie 2019 auf dem Messwert von 0,43 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert).
Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien „Grundrechte“ mit 0,32 (Rang 123 von 128) und „Einschränkungen der Macht der Regierung“ mit 0,30 sowie bei der Strafjustiz mit 0,38 ab. Gut war der Wert für „Ordnung und Sicherheit“ mit 0,69, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 11.3.2020).
Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfachgesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richter und Staatsanwälte) unterlaufen. Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren (insgesamt 13 im Jahr 2019), obwohl dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist.
Die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften sind nach wie vor für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2020). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten HSK infrage gestellt. Der Rat ist u.a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019).
Seit dem Putschversuch 2016 wurden darüber hinaus insgesamt 4.399 Richter und Staatsanwälte entlassen. Bis heute wurden keine Maßnahmen gesetzt, um den Empfehlungen der Venedig Kommission des Europarates vom Dezember 2016 zu entsprechen, wonach jede Entlassung eines Richters individuell begründet und auf verifizierbare Beweise abgestützt sein müsse (ÖB 10.2020).Bedenken bezüglich der Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems bestehen weiterhin, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken. Es wurden keine rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien eingeführt, die verhindern, dass Richter und Staatsanwälte gegen ihren Willen versetzt werden (EC 6.10.2020). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch just am Tag nach Bekanntwerden dieser Garantie erließ der HSK ein Dekret, durch das die Stellen von 3.358 Richtern und Staatsanwälten im Zivil- und Strafrechtsbereich sowie von 364 weiteren Magistraten im Verwaltungsbereich geändert wurden. Insgesamt wurden im Jahr 2019 4.027 Richter und Staatsanwälte versetzt. Abgesehen von Hinweisen auf die Diensterfordernis wurden die Versetzungen nicht begründet (ÖB 10.2020). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weit verbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020). Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im „European Network of Councils for the Judiciary“ seit Ende 2016 ruhend gestellt. Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 10.2020).
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 10.2020).
Obwohl die Autonomie der Justiz eingeschränkt ist, entschieden die Richter in wichtigen Fällen manchmal auch gegen die Regierung, beispielsweise in den Fällen, in denen Akademiker ein Ende der staatlichen Gewalt in kurdischen Gebieten im Jahr 2016 gefordert hatten (FH 4.3.2020).
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte).
Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen.
Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Dan??tay) [Anm.: entspricht etwa dem Verwaltungsgerichtshof], der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyu?mazl?k Mahkemesi) (ÖB 10.2020). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 24.8.2020).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen.
Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimli?i) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht (ÖB 10.2020).
Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (ÖB 10.2020; vgl. EC 6.10.2020). Da die Friedensrichter allesamt als von der Regierung ausgewählt und ihr unbedingt loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, welches die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium Sinne der Regierung beeinflusst. Die Venedig Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2020). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019).
Infolge der teilweise sehr lang dauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind, und durch die etwa im Jahr 2019 bereits 213.000 Fälle gelöst werden konnten. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge ?dare Mahkemeleri) in Betrieb genommen worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Allerdings liegt der Anteil der Erledigungen der regionalen Berufungsgerichte unter 100%, so dass es nun in dieser Instanz zu einem erheblichen Rückstau kommt. Im Zuge der COVID-19-Krise wurden zwischen März und Mitte Juni keine Gerichtstermine vergeben und sämtliche Fristenläufe gehemmt, sodass es zu weiteren Arbeitsrückständen und Verfahrensverzögerungen kam (ÖB 10.2020).
Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nicht-Beachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte. So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 24.8.2020).
Private Anwälte und Menschenrechtsbeobachter berichteten von einer unregelmäßigen Umsetzung der Gesetze zum Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren, insbesondere in Bezug auf den Zugang von Anwälten. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 11.3.2020). Anwälte werden willkürlich inhaftiert und in Verbindung mit den angeblichen Verbrechen ihrer Mandanten gebracht. Die Regierung erhebt Anklage wegen Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen gegen Anwälte, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Hierbei gibt es keine oder nur spärliche Beweise für eine solche Mitgliedschaft, und das Recht auf ein faires Verfahren wird ignoriert. Die Gerichte verurteilen die Betroffenen zu langen Haftstrafen aufgrund von Terrorismus-Vorwürfen (HRW 10.4.2019). Seit dem Putschversuch 2016 wurden Anwälte wegen angeblicher terroristischer Straftaten inhaftiert, verfolgt und verurteilt.
Es wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt und bis September 2019 321 Anwälte wegen ihrer vermeintlichen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (ALI 1.9.2019). Die Verhaftungen hielten auch 2020 an. Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen „Terrorismus“-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen.
Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben. Da die Ermittlungen einer Geheimhaltungsanordnung unterlagen, war es den Anwälten und ihren Rechtsvertretern nicht gestattet, die Ermittlungsakten einzusehen oder Informationen über den Inhalt der Vorwürfe zu erhalten, bis ihre Mandanten im Sicherheitsdirektorat von Ankara verhört wurden, wodurch ihnen das Recht auf angemessene Zeit zur Vorbereitung einer Verteidigung verweigert wurde (AI 26.10.2020).
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten,