TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/7 W272 1430326-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.10.2021
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Entscheidungsdatum

07.10.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z2
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W272 1430326-2/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, vom 04.06.2021, Zl. XXXX zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und in Erledigung der Beschwerde festgestellt, dass gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG und § 9 BFA-VG iVm § 52 FPG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist und dem Beschwerdeführer gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 Z 1 iVm § 55 Abs. 2 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt wird.

III. In Erledigung der Entscheidung werden die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gem. Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Vorverfahren:

1. Am 28.08.2012 stellte der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, seinen ersten Asylantrag im österreichischen Bundesgebiet. Die Beschwerde gegen den negativen Bescheid wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 23.11.2012, Zl. XXXX , als unbegründet abgewiesen.

2. Am 13.12.2013 stellte der BF nach Rücküberstellung aus Norwegen einen neuerlichen Asylantrag. Das Asylverfahren wurde eingestellt, da der BF Österreich am 23.01.2015 freiwillig verließ und in sein Heimatland zurückreiste.

3. Am 08.02.2019 wurde der BF wegen illegalen Aufenthalts in XXXX von der Polizei aufgegriffen und von einem Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) im Beisein eines Dolmetschers einvernommen. Er gab an, dass er sich normalerweise in Polen aufhalte und nach Österreich gekommen sei, weil er seine Frau und sein Kind vermisst habe. Der BF bekam die Möglichkeit einmalig freiwillig nach Polen auszureisen.

4. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 10.11.2017, XXXX , wurde der BF gemäß §§ 15, 127 StGB und §§ 15, 105 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt.

Gegenständliches Verfahren:

5. Der BF stellte am 28.09.2020 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

6. Am selben Tag fand vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des BF statt. Er gab an seit 2017 in einer Lebensgemeinschaft zu leben und zwei Kinder zu haben. Er sei im Herkunftsland neun Jahre zur Schule gegangen und habe zuletzt beim Straßenbau gearbeitet. Er gab an, in Polen Asylstatus erhalten zu haben und sich dort von 2016 bis 27.07.2020 aufgehalten zu haben. Er wolle dorthin nicht zurück, da er nach Russland abgeschoben werden würde. Nähere Angaben zu seinem Aufenthalt in Polen und was dagegenspräche, dorthin zurückzukehren, wollte der BF nicht machen. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der BF an, er habe sein Land verlassen, weil sein Vater Probleme habe. Jemand habe seinen Fernseher zerstört, damit er Angst bekommen und sei er auch geschlagen worden, weil man dachte, er wisse wo sich sein Vater befinde. Seine Mutter habe ihn dann zu seinem Vater geschickt. Er habe Angst zurück in seine Heimat zu gehen.

7. Am 30.09.2020 übermittelte das BFA ein auf Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO gestütztes Wiederaufnahmegesuch an die polnische Dublinbehörde. Mit Schreiben vom 18.11.2020 lehnte Polen das Wiederaufnahmegesuch ab und führte aus, dass dem BF am 12.08.2008 zwar subsidiärer Schutz in Polen zuerkannt worden sei, ihm dieser jedoch mit Entscheidung der zweiten Instanz vom 27.08.2020 aberkannt worden sei. Seine Aufenthaltsberechtigungskarte sei zudem abgelaufen und würde die Familie des BF in Österreich leben.

8. Am 18.05.2021 fand eine niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem BFA statt. Der BF erklärte seine Muttersprache sei Tschetschenisch, er spreche aber perfekt Russisch und etwas Deutsch. Er sei gesund, stehe nicht in ärztlicher Behandlung und nehme keine Medikamente ein. Die Angaben aus der Erstbefragung würden stimmen, er habe immer die Wahrheit gesagt. Er sei Staatsbürger der Russischen Föderation und gehöre der tschetschenischen Volksgruppe an. Er sei Muslim und sehr gläubig. Im Herkunftsland habe er neun Jahre die Grundschule gemacht und danach für zwei Jahre eine Ausbildung zum Programmierer. Er sei in der Stadt XXXX geboren und habe sich dort bis zur sechsten Klasse der Grundschule und erneut nach zweijähriger Unterbrechung, wegen seiner Ausbildung in Nordossetien bis zu seiner Ausreise nach Österreich im Jahr 2012 aufgehalten. Er habe dann in Österreich einen Asylantrag gestellt, aber nach zwei negativen Bescheiden sei er freiwillig nach Norwegen ausgereist. Dort sei er sechs Monate gewesen und habe auch einen Asylantrag gestellt, sei aber wegen der Dublin Verordnung 2013 oder 2014 zurück nach Österreich gebracht worden. Er habe den Asylantrag dann zurückgezogen und sei Ende 2014 freiwillig nach XXXX zurückgereist, wo er bei seiner Mutter gelebt habe. Im Herkunftsstaat habe er Probleme wegen seinem Vater gehabt, der in Polen sei. 2016 sei er dann auf Anraten seiner Mutter nach Polen gegangen. Er habe damals schon Kontakt zu seiner jetzigen Ehefrau gehabt, die in Österreich lebe. Er sei dann nach Österreich gekommen und habe sie geheiratet.

In XXXX würden seine Mutter und seine Schwester leben sowie Onkel und deren Familien. Sein Vater lebe seit 2008 in Polen. Er habe Kontakt zu seinem Vater und würde dieser auch nach Österreich kommen, um die Kinder zu sehen. Mit seiner Mutter würde er täglich telefonieren. Zu seinem Familienstand befragt, gab der BF an, er sei seit September 2017 traditionell verheiratet. Einen Termin für eine standesamtliche Heirat gebe es nicht. Eine Urkunde über die traditionelle Hochzeit habe er nicht, nur Fotos. Seine Frau habe er in Traiskirchen kennengelernt, als er aus Norwegen nach Österreich zurückgekommen sei. Sie sei seit sechs oder sieben Jahren in Österreich und habe einen Flüchtlingspass. Seine Frau bekomme soziale Unterstützung. Gemeinsam hätten sie zwei Kinder, beide seien anerkannte Flüchtlinge. Er wohne eigentlich seit 2017 mit seinen Kindern und seiner Frau in einem gemeinsamen Haushalt. Nachgefragt gab er an, er habe in Polen gewohnt und seine Familie immer wieder besucht, denn er habe mit dem polnischen Aufenthaltstitel einen Monat in Österreich aufhältig sein dürfen. Zu seinem Aufenthaltstitel in Polen befragt, erklärte der BF, er habe 2008 in Polen einen Asylantrag gestellt und dann die „Karte pobota“ erhalten und diese für zwei oder drei Jahre gehabt. 2017 habe er einen zweiten Asylantrag eingebracht, weil sein Aufenthaltstitel abgelaufen war. Er sei anerkannter Flüchtling in Polen, man habe ihm aber gesagt, dass er nun einen Asylantrag in Österreich gestellt habe und seine Karte deswegen abgelaufen sei. Mehr wisse er nicht. In Polen sei er maximal zwei Jahre aufhältig gewesen und habe bei seinem Onkel in XXXX gewohnt. Er sei aber ein- bis dreimal im Monat für zwei oder drei Tage zu seiner Familie in Österreich gereist. Er habe dort auch legal auf einer Baustelle gearbeitet. Vor ca. einem Jahr sei er zuletzt legal in Österreich eingereist. Da Leben in Polen sei nicht gut gewesen. Um eine bessere Arbeit zu bekommen, müsse man eine polnische Ausbildung haben und auf der Baustelle werde wenig bezahlt. Er sei auch sehr mühsam gewesen immer wieder nach Österreich zu seiner Familie zu reisen. Der Hauptgrund für seinen Asylantrag in Österreich sei die Sehnsucht nach seiner Tochter gewesen. Er wolle hier in Österreich bleiben, seine Familie unterstützen und die Erlaubnis hier einer Arbeit nachzugehen. Befragt zu den angegebenen Fluchtgründen in der Erstbefragung, gab der BF an, diese Angaben würden stimmen. Als er 18 Jahre gewesen sei, seien Leute zu ihm gekommen um nach seinem Vater zu suchen. Diese Leute hätten ihn geschlagen und die Einrichtung und den Fernseher zerstört. Das sei im Jahr 2017 gewesen. Seine Mutter habe Angst bekommen und gesagt, er solle zu seinem Vater gehen. Nach dem Vorfall habe es keine Probleme mehr gegeben. In Österreich gehe er keiner Beschäftigung nach, sein Vater und ein Onkel würden ihm manchmal Geld schicken. Er habe die Prüfung für A1 abgeschlossen, könne aber kein Zeugnis vorlegen, weil er es verloren habe. Er und seine Frau hätten die Obsorge für die Kinder und seien diese gesund. Er habe tschetschenische Freunde in Österreich und wolle am Bau arbeiten. Er habe keine Angst in die Russische Föderation zurückzukehren, wolle aber bei seiner Familie bleiben.

Vorgelegt wurden: Geburtsurkunde mit Übersetzung aus dem Russischen im Original;
Geburtsurkunde des Sohnes vom 01.07.2020;
Geburtsurkunde der Tochter vom 26.11.2018;
Fotos;
Polnisches Schreiben vom 27.09.2020 im Original;

5. Mit Bescheid des BFA vom 04.06.2021 wurde der Antrag des BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das BFA aus, dass dem Fluchtvorbringen des BF keine Glaubwürdigkeit zugebilligt werden könne und er daher keinesfalls in der Lage gewesen sei, eine wohlbegründete Furch vor Verfolgung aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen glaubhaft zu machen. Es könne auch keine Bedrohungssituation pro futuro festgestellt werden. Während des ganzen Verfahrens seien keine Anhaltspunkte zu Tage getreten, die darauf hindeuten würden, dass der BF bei seiner Rückkehr in eine ausweglose und die Existenz bedrohende Lage geraten würde. Ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG sei nicht zu erteilen, da kein solcher Sachverhalt vorliege. Zur Rückkehrentscheidung wurde ausgeführt, dass der BF offensichtlich durch die Gründung einer Familie und dadurch bedingt durch die Schaffung von vollendeten Tatsachen seinen Aufenthalt in Österreich, unter Missachtung der fremdenpolizeilichen Bestimmungen für den legalen Aufenthalt, quasi mit allen Mitteln erzwingen wolle. Insgesamt sei für ihn auch zum Zeitpunkt der Familiengründung absehbar gewesen, dass sich ein gemeinsames Familienleben nur sporadisch ergeben würde. Der Kindesmutter und dem BF müsse zum Zeitpunkt der Beziehungsaufnahme die ungewisse aufenthaltsrechtliche Situation des BF bekannt gewesen sein. Auch wäre es dem BF im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation möglich und zumutbar weiteren Kontakt zu seiner Familie in Österreich zu pflegen. Aufgrund der Gesamtabwägung der Interessen ergebe sich, dass die Rückkehrentscheidung trotz privater Anknüpfungspunkte in Österreich zur Erreichung des in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziels gerechtfertigt sei.

6. Gegen diesen Bescheid erhob der BF am 30.06.2021 vollinhaltlich Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die belangte Behörde nicht näher ermittelt habe, wer konkret nach dem Vater des BF gesucht habe und von wem der BF geschlagen wurde. Zum Vorwurf der belangten Behörde, dass der BF mehrmals verneint habe Rückkehrbefürchtungen zu haben, wolle er angeben, dass er aus Stolz angegeben habe keine Angst zu haben. Im Falle einer Rückkehr hätte er jedenfalls eine Verfolgung wegen seines Vaters zu befürchten. Dem BF drohe im Falle einer Rückkehr eine Verletzung seiner in Art. 2 und 3 EMRK garantierten Rechte. Weiters sei der belangten Behörde vorzuwerfen, keine ausreichenden Ermittlungen zum bestehenden Familienleben durchgeführt zu haben und sei ein wesentlicher Gesichtspunkt des Sachverhaltes, nämlich die Auswirkungen der Aufenthaltsbeendigung auf die Lebenssituation des BF, insbesondere die Beziehung zu seinen Kindern sowie das Kindeswohl vollständig außer Acht gelassen worden. Eine Aufrechterhaltung dieser Beziehung wäre im Falle einer Rückkehr des BF jedenfalls nicht möglich. Der Lebensgefährtin und den kleinen Kindern sei eine Einreise in die Russische Föderation auch nicht zumutbar, da sie asylberechtigt seien. Dem BF sei im Hinblick auf sein gemäß Art. 8 EMRK geschütztes Privat- und Familienleben sowie das seiner Lebensgefährtin und der Kinder sowie im Hinblick auf deren verfassungsrechtlich gewährleistetes Kindeswohl jedenfalls eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 AsylG zu erteilen und die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären.

7. Am 15.09.2021 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, im Zuge derer auch die Lebensgefährtin des BF als Zeugin vernommen wurde.

Vorgelegt wurden:  Meldebestätigungen des BF, seiner Frau und den beiden Kindern;
Asylbescheide der Kinder des BF;
Erkenntnis der Frau des BF;

8. Mit Urkundenvorlage vom 22.09.2021 legte der BF einen am 18.09.2021 vor Zeugen geschlossenen Ehevertrag nach islamischem Recht vor. Dem BF und seiner Frau sei es nicht möglich gewesen, eine Urkunde der bereits 2017 geschlossenen Trauung zu erhalten und hätten deswegen zum Beweis ihrer Bindung ihr Eheversprechen am 18.09.2021 erneuert. Es wurden auch Fotos der Hochzeit von 2017 vorgelegt. Zum Beweis des gemeinsamen Familienlebens wurden Fotos vorgelegt, auf denen der BF gemeinsam mit seiner Frau und seinen Kindern zu sehen sei.

Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des Vorverfahrens zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente und Schriftstücke, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister, sowie der mündlichen Verhandlung, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige BF führt den Namen XXXX , ist am XXXX in XXXX geboren, ein russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit und Moslem. In seinem Herkunftsland besuchte der BF neun Jahre die Schule und begann eine zweijährige Ausbildung zum Programmierer, die er jedoch nicht abschloss. Im Herkunftsland arbeitete er auch auf Baustellen und im Lager. Er spricht Tschetschenisch als Muttersprache und Russisch.

Der BF reiste im Jahr 2012 das erste Mal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 28.08.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz. Sein Verfahren wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 23.11.2012, Zl. XXXX , negativ entschieden. Der BF brachte darin vor, seinen Herkunftsstaat aus wirtschaftlichen Gründen verlassen zu haben. Am 13.12.2013 stellte er nach Überstellung aus Norwegen einen weiteren Asylantrag in Österreich, der am 23.01.2015 eingestellt wurde, weil der der BF freiwillig in sein Heimatland zurückkehrte. Im Zuge der Befragung durch die Polizei gab er als Fluchtgrund an: „Ja, ich verließ meine Heimat, weil ich Probleme wegen meines Vaters hatte. Unbekannte Männer wollten in unserem Haus immer wieder wissen, warum mein Vater geflüchtet ist bzw. wo er sich aufhält. Als diese Männer kamen, belästigten sie in meinem Beisein meine Mutter und meine Schwester, um Druck auf mich auszuüben. Ich hoffte, nach meiner Flucht, würden meine Mutter und meine Schwester Ruhe haben.“

Am 28.09.2020 stellte er den gegenständlichen Asylantrag in Österreich.

Der BF hatte in Polen am 16.02.2008 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt und wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten am 12.08.2008 zuerkannt. Er hat eine polnische Aufenthaltskarte, die von 06.02.2017 bis zum 06.02.2019 gültig war. Mit Entscheidung der zweiten Instanz wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten am 27.08.2020 aberkannt. Der BF ist auch im Besitz eines polnischen Führerscheins, der am 27.07.2017 ausgestellt wurde und bis 27.07.2022 gültig ist. Er war in Polen zwei Jahre legal aufhältig, ab 2017 reiste er aber regelmäßig zu seiner Familie nach Österreich, wobei die Häufigkeit und die Dauer dieser Aufenthalte nicht eindeutig festgestellt werden konnten.

Die Einreisen des BF nach Österreich ab dem 06.02.2019 waren illegal, da zu diesem Zeitpunkt seine polnische Aufenthaltskarte abgelaufen ist.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohenden Erkrankungen. Er fällt nicht unter die COVID-19-Risikogruppen.

Der BF wurde in Österreich einmal rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt:

Die Verurteilung erfolgte am 10.11.2017 durch das Landesgericht für Strafsachen XXXX , GZ XXXX . Der BF hat am 09.12.2014 in XXXX in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken als Mittäter (§ 12 StGB) I. fremde bewegliche Sachen, nämlich zwei Mobiltelefone im Gesamtwert von EUR 1.300,00 mit dem Vorsatz, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wegzunehmen versucht, indem er diese an sich nahm und ohne zu bezahlen das Geschäft verlassen wollte; II. XXXX und XXXX nach der zu Punkt I. beschriebenen Tat mit Gewalt, indem er ihnen Stöße versetzte zu einer Unterlassung, nämlich ihn am Verlassen des Geschäftes zu hindern, zu nötigen versucht. Er hat hierdurch das Vergehen des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB und das Vergehen der versuchten Nötigung nach §§ 15, 105 Abs. 1 StGB begangen und wurde zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt. Als mildernd wurden der bisherige ordentliche Lebenswandel, das reumütige Geständnis, Alter unter 21 Jahre, dass es beim Versucht geblieben ist und das Wohlverhalten seit der Tatbegehung 2014 gewertet. Erschwerend war das Zusammentreffen von zwei Vergehen.

Der BF ist in Tschetschenien aufgewachsen, hat dort die Schule besucht, eine Ausbildung zum Programmierer begonnen und gearbeitet. Er kennt die tschetschenische Kultur, sowie die kulturellen und sozialen Gegebenheiten in der Russischen Föderation.

Der BF hat Verwandte im Herkunftsland, nämlich seine Mutter, seine Schwester, Onkel, Tanten und deren Familien. Mit seiner Mutter und seiner Schwester besteht regelmäßiger Kontakt.

Der Vater des BF hält sich in Polen auf. Auch zu ihm besteht regelmäßiger Kontakt.

Der BF ist seit September 2017 nach traditionellem Recht mit XXXX verheiratet. Am 18.09.2021 fand eine Erneuerung des Eheversprechens statt. Eine standesamtliche Heirat ist nicht geplant. Mit seiner Freundin hat der BF zwei minderjährige Kinder. Der BF wohnt mit seinen Kindern und seiner Freundin in einem gemeinsamen Haushalt. Daneben leben auch Verwandte seines Vaters und ein Cousin seiner Mutter in Österreich.

Die Freundin des BF wurde mit Erkenntnis des BVwG vom 15.06.2016, GZ XXXX , der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Die gemeinsamen Kinder bekamen den Status des Asylberechtigten im Familienverfahren durch ihre Mutter abgeleitet.

Der BF kann den Status des Asylberechtigten nicht von seinen Kindern abgleitet bekommen.

Der BF hat keine Kontakte zu Österreichern, ist nicht Mitglied eines Vereins und betätigt sich nicht ehrenamtlich. Er hat nur geringfügige Deutschkenntnisse und nimmt nicht am kulturellen und sozialen Leben in Österreich teil. Er geht keiner Erwerbstätigkeit nach und ist nicht selbsterhaltungsfähig

1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF wird in seinem Herkunftsstaat nicht wegen Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht oder verfolgt.

Der BF war in der Russischen Föderation aufgrund seines Vaters konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.

Es wird festgestellt, dass der BF im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation aus Gründen der Volksgruppenzugehörigkeit, der Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter keiner Gefährdung ausgesetzt ist. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass er konkret Gefahr liefe, im Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

Weiters kann nicht festgestellt werden, dass der BF aufgrund der Tatsache, dass er sich in Europa bzw. Österreich aufgehalten hat, deshalb in der Russischen Föderation einer Verfolgung ausgesetzt wäre.

1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF in sein Herkunftsland:

Der BF kann nach XXXX zurückkehren oder auch an einen anderen Ort in der Russischen Föderation.

Der BF könnte im Falle seiner Rückkehr wieder bei seiner Mutter wohnen, wie er es vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation tat.

Der BF verfügt über ein familiäres Netz in seinem Heimatstaat, das ihn bereits früher unterstützt hat, ist arbeitsfähig und gesund. Er verbrachte insgesamt mehr als 16 Jahre seines Lebens in der Russischen Föderation, kehrte im Jahr 2015 auch freiwillig dorthin zurück und verbrachte eineinhalb Jahre dort, bis er erneut nach Polen ausreiste. Er spricht Tschetschenisch als Muttersprache und perfektes Russisch. In seinem Herkunftsstaat besuchte er neun Jahre lang die Schule und machte zwei Jahre lang eine Berufsausbildung zum Programmierer. Er hat Arbeitserfahrung im Bauwesen und im Lager. Der BF kann nach der Rückkehr seinen Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit sichern und wird in keine existenzgefährdende Notlage geraten bzw. es wird ihm nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen. Er läuft nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten. Überdies hat der BF Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung. Es ist dem BF möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten in seinem Herkunftsland Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Da der BF keine gesundheitlichen Einschränkungen hat und keine Vorerkrankungen ist nicht davon auszugehen, dass der BF durch eine etwaige Erkrankung an das COVID-19 Virus eine schwere Erkrankung oder gar den Tod erleiden würde. Er fällt nicht unter die COVID-19-Risikogruppen.

Der BF hat keine individuellen gefahrenerhöhenden Umstände aufgezeigt, die unter Beachtung seiner persönlichen Situation innewohnenden Umstände eine Gewährung von subsidiären Schutz auch bei einem niedrigen Grad willkürlicher Gewalt angezeigt hätte.

1.4. Zum Herkunftsstaat:

Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ausgegangen (Auszug Gesamtaktualisierung, Version 3 vom 10.06.2021):

Covid-19-Situation

Letzte Änderung: 18.05.2021

Russland ist von Covid-19 landesweit stark betroffen. Regionale Schwerpunkte sind Moskau und St. Petersburg (AA 15.2.2021). Aktuelle und detaillierte Zahlen bietet unter anderem die Weltgesundheitsorganisation WHO (https://covid19.who.int/region/euro/country/ru). Die Regionalbehörden in der Russischen Föderation sind für Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 zuständig, beispielsweise betreffend Mobilitätseinschränkungen, medizinische Versorgung und soziale Maßnahmen (RAD 15.2.2021; vgl. CHRR 12.3.2021). Die Maßnahmen der Regionen sind unterschiedlich, richten sich nach der epidemiologischen Situation in der jeweiligen Region und ändern sich laufend (WKO 9.3.2021; vgl. AA 15.2.2021). Es herrscht eine soziale Distanzierungspflicht für öffentliche Plätze und öffentliche Verkehrsmittel. Der verpflichtende Mindestabstand zwischen Personen beträgt 1,5 Meter (WKO 9.3.2021).

Die regierungseigene Covid-19-Homepage gibt Auskunft über die vom russischen Gesundheitsministerium empfohlenen Covid-19-Medikamente, nämlich Favipiravir, Hydroxychloroquin, Mefloquin, Azithromycin, Lopinavir/Ritonavir, rekombinantes Interferon-beta-1b und Interferon-alpha, Umifenovir, Tocilizumab, Sarilumab, Olokizumab, Canakinumab, Baricitinib und Tofacitinib. Der in Moskau entwickelte Covid-19-Krankenhausbehandlungsstandard umfasst folgende vier Komponenten: Antivirale Therapie, Antithrombose-Medikation, Sauerstoffmangelbehebung und Prävention/Behandlung von Komplikationen. Auf Anordnung des Arztes wird Patienten ein Pulsoxymeter ausgehändigt (Gerät zur Messung des Blutsauerstoffsättigungsgrades). Die medizinische Covid-Versorgung erfolgt für die Bevölkerung kostenlos (CHRR o.D.a).

Folgende Impfstoffe wurden in der Russischen Föderation entwickelt: Gam-COVID-Vac ('Sputnik V'), EpiVacCorona, CoviVac und Ad5-nCoV (CHRR o.D.b). Mittlerweile sind in der Russischen Föderation drei heimische Impfstoffe zugelassen (Sputnik V, EpiVacCorona und CoviVac). Groß angelegte klinische Studien gibt es bisher nicht (DS 20.2.2021; vgl. RFE/RL 21.2.2021). Impfungen erfolgen kostenlos (Mos.ru o.D.). In Moskau wurden bisher mehr als 700.000 Personen geimpft (Mos.ru 8.3.2021). Obwohl Russland als weltweit erstes Land seinen Covid-Impfstoff Sputnik V registrierte, haben die Impfungen effizient gerade erst begonnen (DS 12.2.2021). Bisher wurden in der Russischen Föderation in etwa 2,2 Millionen Personen (ca. 1,5% der Bevölkerung) geimpft bzw. erhielten zumindest eine der zwei Teilimpfungen (RFE/RL 21.2.2021).

Für die Einreise nach Russland wird grundsätzlich ein COVID-19-Testergebnis (PCR) benötigt. Russische Staatsbürger müssen bei der Grenzkontrolle keinen COVID-Test vorlegen, dieser muss jedoch spätestens drei Tage nach der Einreise nachgeholt werden. Russische Staatsbürger, die nach der Einreise ein positives Testergebnis erhalten, müssen sich in Quarantäne begeben. Die Ausreise aus Russland ist bis auf unbestimmte Zeit eingeschränkt und nur in bestimmten Ausnahmefällen möglich. Die internationalen Flugverbindungen wurden teilweise wieder aufgenommen. Direktflüge zwischen Österreich und Russland werden derzeit ein- bis zweimal wöchentlich von Austrian Airlines und Aeroflot angeboten. Russische Inlandsflüge wurden während der ganzen Pandemiezeit aufrecht erhalten (WKO 9.3.2021). Der internationale Zugverkehr – mit Ausnahme der Strecke zwischen Russland und Belarus - und der Fährverkehr sind eingestellt (AA 15.2.2021).

Staatliche Unterstützungsmaßnahmen für die russische Wirtschaft sind unterschiedlich und an viele Bedingungen gebunden. Zu den ersten staatlichen Hilfsmaßnahmen zählten Kredit-, Miet- und Steuerstundungen (ausgenommen Mehrwertsteuer), Sozialabgabenreduktion sowie Kreditgarantien und zinslose Kredite. Später kamen Steuererleichterungen sowie direkte Zuschüsse dazu. Viele der Maßnahmen sind nur für kleine und mittlere Unternehmen oder bestimmte Branchen zugänglich und haben einen zweckgebundenen Charakter (beispielsweise gebunden an Gehaltszahlungen oder Arbeitsplatzerhalt) (WKO 9.3.2021). Die Regierung bietet Exporteuren Hilfe an, die Möglichkeit eines Konkursmoratoriums, zinslose Kredite für Gehaltsauszahlungen usw. (CHRR o.D.c). Jänner bis Oktober 2020 ist die Industrieproduktion pandemiebedingt um 3,1% zurückgegangen. Besonders die Rohstoffproduktion ist um 6,6% gefallen, während die verarbeitende Industrie mit 0,3% praktisch stagnierte. Die im Jahr 2020 sehr stark fallenden Ölpreise waren unter anderem eine Auswirkung der Covid-19-Pandemie und mit einem globalen Nachfragerückgang verbunden und führten zu einer Rubelabwertung von 25%. Nach leichter Erholung verlor der Rubel unter anderem wegen der anhaltenden geringen Rohstoffnachfrage Mitte 2020 erneut an Wert und lag Anfang Dezember bei ca. 90 Rubel je Euro (WKO 12.2020). Das Realwachstum des Bruttoinlandsprodukts betrug im Jahr 2020 -3,1%. Im Vergleich dazu betrug der entsprechende Wert im Jahr 2019 2%. Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2020 17,8% des Bruttoinlandsprodukts (2019: 12,4%) (WIIW o.D.).

Moskau:

In Moskau herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Das Tragen von Masken auf Straßen wird empfohlen. Kultur- und Bildungsveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 50% der Zuschauerplätze belegt sind. Bürgern über 65 Jahren und chronisch Kranken wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021; vgl. WKO 9.3.2021, AA 15.2.2021). Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Am Arbeitsplatz sind vorgeschriebene Hygienevorschriften (unter anderem Temperaturmessungen, Mund- und Handschutz, Desinfektionsmittel, Mindestabstand etc.) einzuhalten (WKO 9.3.2021). Gemäß dem Moskauer Bürgermeister verbessert sich die Pandemielage in Moskau. Ein Großteil der Einschränkungen wurde aufgehoben. Gastronomiebetriebe sind wieder geöffnet. Für Schüler höherer Klassen und Studierende findet nun wieder Präsenzunterricht statt (Mos.ru 7.3.2021; vgl. Mos.ru 8.3.2021, LM 8.2.2021, Russland Analysen 19.2.2021). In der Oblast [Gebiet] Moskau wurde die Mehrzahl der wegen Covid geltenden Einschränkungen zurückgenommen. Einzig Massenveranstaltungen bleiben fast ausnahmslos verboten (Russland Analysen 19.2.2021).

St. Petersburg:

Auch in St. Petersburg herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Die für gastronomische Betriebe geltenden Beschränkungen der Öffnungszeiten wurden aufgehoben. Kulturveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 75% der Zuschauerplätze belegt sind. Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke sind Selbstisolierung und Fernarbeit verpflichtend (CHRR 12.3.2021; vgl. Gov.spb 5.3.2021, WKO 9.3.2021, Russland Analysen 8.2.2021).

Tschetschenien:

An öffentlichen Orten wird das Tragen von Masken empfohlen. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke ist Selbstisolierung vorgesehen (CHRR 12.3.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, Ria.ru 10.2.2021, KMS 10.2.2021). Bisher wurden mehr als 19.000 Personen geimpft (Chechnya.gov 26.2.2021). Mitarbeitern staatlich finanzierter Organisationen in Tschetschenien wurde mit Entlassung gedroht, sollten sie die Covid-Impfung verweigern. Bewohner in Tschetschenien berichten, ihnen seien Sanktionen angedroht worden, sollten sie sich nicht impfen lassen (CK 23.1.2021). Reisebeschränkungen wurden aufgehoben (Ria.ru 10.2.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, KMS 10.2.2021).

Dagestan:

An öffentlichen Orten herrscht Maskenpflicht. Einstweilen dürfen keine Massenveranstaltungen stattfinden. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021). Es finden Massenimpfungen statt, und verwendet wird der Impfstoff Sputnik V (E-dag.ru 23.2.2021). Bisher wurden mehr als 18.000 Personen (2,4%) geimpft (E-dag.ru 12.3.2021).

Politische Lage

Letzte Änderung: 26.05.2021

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 1.2021c; vgl. CIA 5.2.2021). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017). Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017, AA 21.10.2020c). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 1.2021a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.3.2020). Die Wahlbeteiligung lag der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 3.3.2021). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018). Wahlbetrug ist weit verbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BTI 2020). Präsident Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden (GIZ 1.2021a). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin, für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren (GIZ 1.2021a; vgl. FH 3.3.2021), dies gilt aber nicht für weitere Präsidenten (FH 3.3.2021). Die Volksabstimmung über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem sie aufgrund der Corona-Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der sogenannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 1.2021a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).

Der Föderationsrat ist als 'obere Parlamentskammer' das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten (GIZ 1.2021a): Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2021c). Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 1.2021a).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, welche die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern und die Partei der Volksfreiheit (PARNAS), eine demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 1.2021a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016, FH 3.3.2021). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die nächste Duma-Wahl steht im Herbst 2021 an (Standard.at 1.1.2021).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 1.2021a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 1.2021a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten Parteien waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer 'smarten Abstimmung' aufgerufen. Die Bürgersollten Jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Neben den bis Juli 2021 verlängerten wirtschaftlichen Sanktionen wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes (Presse.com 10.12.2020) haben sich die EU-Außenminister wegen der Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny auf neue Russland-Sanktionen geeinigt. Die Strafmaßnahmen umfassen Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gegen Verantwortliche für die Inhaftierung Nawalnys (Cicero 22.2.2021).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 26.05.2021

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 7.4.2021a; vgl. GIZ 1.2021d, EDA 7.4.2021). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 7.4.2021a; vgl. EDA 7.4.2021). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 7.4.2021).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern (SWP 4.2017). Seitdem war der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken sollte (SWP 4.2017; vgl. Deutschlandfunk 29.9.2020). Der Einsatz in Syrien ist der größte und längste Auslandseinsatz des russischen Militärs seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zunächst sollten nur die Luftstreitkräfte die syrische Armee unterstützen. Bodentruppen wurden erst später und in geringerem Maße mobilisiert - in Form von Spezialeinheiten und schließlich am Ende des Feldzugs als Militärpolizei. Es gab auch Berichte über den Einsatz privater paramilitärischer Strukturen (DW 29.9.2020). Hier ist vor allem die 'Gruppe Wagner' zu nennen. Es handelt sich hierbei um einen privaten russischen Sicherheitsdienstleister, der nicht nur in Syrien, sondern auch in der Ukraine und in Afrika im Einsatz ist. Mithilfe solcher privaten Sicherheitsdienstleister lässt sich die Zahl von Verlusten des regulären russischen Militärs gering halten (BPB 8.2.2021), und der teure Einsatz sorgt dadurch in der russischen Bevölkerung kaum für Unmut (DW 29.9.2020).

In den letzten Jahren rückte eine weitere Tätergruppe in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpften, wurde auf einige Tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017). Erst im Oktober 2020 wurden bei Spezialoperationen zentralasiatische Dschihadisten in Südrussland getötet und weitere in Moskau und St. Petersburg festgenommen (SN 15.10.2020).

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 26.05.2021

Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich das nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff 'low level insurgency' umschrieben (SWP 4.2017).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgen nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sogenannten IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. 2018 wurde laut dem Inlandsgeheimdienst FSB die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen mehr als halbiert. Auch 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Jedoch stellt ein Sicherheitsrisiko für Russland die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020).

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpften Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der 'Tschetschenisierung' wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für eine nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB Moskau 6.2020). Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 13.1.2020).

[Anmerkung Staatendokumentation:] Bitte vergleichen Sie hierzu auch alle Kapitel zur Allgemeinen Menschenrechtslage (einschließlich der Kapitel zu Tschetschenien, Dagestan und Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein).

Im Jahr 2020 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im gesamten Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] bei 56 Personen, davon wurden 45 getötet und 11 verwundet. 42 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Tschetschenien sind im Jahr 2020 insgesamt 18 Personen getötet und zwei verwundet worden. 15 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Dagestan sind im Jahr 2020 insgesamt neun Personen getötet und eine verwundet worden. Alle Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, die verwundete Person ist den Exekutivkräften zuzurechnen. Drei Getötete gab es in Kabardino-Balkarien und einen Getöteten in Inguschetien (Caucasian Knot 2.7.2020a, Caucasian Knot 2.7.2020b, Caucasian Knot 27.10.2020, Caucasian Knot 24.12.2020, Caucasian Knot 20.2.2021).

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 26.05.2021

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte für Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsperson, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 6.2020). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 3.3.2021). Auch Korruption ist im Justizsystem ein Problem (EASO 3.2017, BTI 2020)

Das russische Justizsystem ist institutionell abhängig von den Untersuchungsbeamten, die häufig die Urteile bestimmen. Politisch wichtige Fälle werden vom Kreml überwacht, und Richter haben nicht genug Autonomie, um den Ausgang zu bestimmen (ÖB Moskau 6.2020). Die Personalkommission des Präsidenten und die Vorsitzenden des Gerichts kontrollieren die Ernennung und Wiederernennung der Richter des Landes, die eher aus dem Justizsystem befördert werden, als unabhängige Erfahrungen als Anwälte zu sammeln. Änderungen der Verfassung, die im Jahr 2020 verabschiedet wurden, geben dem Präsidenten die Befugnis, mit Unterstützung des Föderationsrates, Richter am Verfassungsgericht und am Obersten Gerichtshof zu entfernen, was die ohnehin mangelnde Unabhängigkeit der Justiz weiter schädigt (FH 3.3.2021).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen von Ende 2018, rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen, und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen. Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 6.2020).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das zur Untergrabung der Souveränität Russlands missbraucht werde (ÖB Moskau 6.2020). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, USDOS 11.3.2020). Im Juli 2020 wurde diese Rechtsposition auch in der Verfassung verankert und dem russischen Verfassungsgerichtshof das Recht eingeräumt, Urteile zwischenstaatlicher Organe nicht umzusetzen, wenn diese in ihrer Auslegung der Bestimmungen zwischenstaatlicher Verträge nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Die Venedig-Kommission des Europarates gab eine Stellungnahme zu den damaligen Entwürfen für Verfassungsänderungen ab. Die Kommission bekräftigte ihre Ansicht, dass die Befugnis des Verfassungsgerichts, ein Urteil des EGMR für nicht vollstreckbar zu erklären, den Verpflichtungen Russlands aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widerspricht (HRW 13.1.2021). Mit Ende 2019 waren beim EGMR 15.050 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2019 wurde die Russische Föderation in 186 Fällen wegen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (ÖB Moskau 6.2020).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer nicht genehmigten friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die 'Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen'. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 2.2.2021).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die vonseiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 2.2.2021).

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 28.05.2021

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und bekämpft Kriminalität. Die Aufgaben der Föderalen Nationalgarde sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl das Gesetz Mechanismen für Einzelpersonen vorsieht, um Klagen gegen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen einzureichen, funktionieren diese Mechanismen oft nicht gut. Gegen Beamte, die Missbräuche begangen haben, werden nur selten strafrechtliche Schritte unternommen, um sie zu verfolgen oder zu bestrafen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führte (US DOS 11.3.2020), ebenso wendet die Polizei häufig übermäßige Gewalt an (FH 3.3.2021; vgl. AI 16.4.2020, HRW 13.1.2021).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Spätestens 12 Stunden nach der Inhaftierung muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Behörden müssen dem Inhaftierten auch die Möglichkeit geben, seine Angehörigen telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt stellt einen Haftbefehl aus, um die Inhaftierung geheim zu halten. Die Polizei ist verpflichtet, einen Häftling nach 48 Stunden gegen Kaution freizulassen, es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, den von der Polizei eingereichten Antrag mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haft zu verlängern. Der Angeklagte und sein Anwalt müssen bei der Gerichtsverhandlung entweder persönlich oder über einen Videolink anwesend sein. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 11.3.2020).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt (AA 2.2.2021). Am 13.5.2020 wurde von der Regierung der Russischen Föderation ein Antrag auf Änderung des Polizeigesetzes in die russische Duma eingebracht, welche zu einer erheblichen Ausweitung von Polizeibefugnissen führt (Gebrauch der Schusswaffe bei einer Festnahme, Aufbrechen von Fahrzeugen, Absperren von Bereichen, etc.) (ÖB Moskau 6.2020).

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Republiksoberhaupt, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 11.3.2020). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen „Kadyrowzy“. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitgl

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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