Entscheidungsdatum
27.10.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W154 2135120-2/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. KRACHER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.10.2019, Zl. 1072417100/190941761, zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und die Spruchpunkte I., III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheids werden ersatzlos behoben.
II. Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird dahingehend abgeändert, dass dem Antrag vom 5.7.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG stattgegeben und dem Beschwerdeführer für die Dauer von zwei Jahren ab Rechtskraft dieser Entscheidung eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt wird.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste ins Bundesgebiet ein und stellte am 6.6.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen seiner Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 8.6.2015 und seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt) am 16.3.2016 gab er im Wesentlichen an, im Distrikt Jarlez in Maidan Wardak geboren und aufgewachsen, Paschtune und sunnitischen Glaubens zu sein. Er habe sechs Jahre die Grundschule besucht und sei ledig. Sein Vater sei Arzt gewesen und der Beschwerdeführer habe ihm manchmal geholfen.
Bis zu seiner Ausreise habe der Beschwerdeführer bei seiner Familie, den Eltern und Geschwistern, im eigenen Haus in seinem Geburtsort in Maidan Wardak gelebt Bei seiner Ausreise habe sich die Familie noch dort aufgehalten.
3. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 17.8.2016, Zl. 1072417100-150625518, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 des Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.). Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wurde ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 17.8.2017 erteilt (Spruchpunkt III.).
Begründend stellte die belangte Behörde dabei im Wesentlichen Folgendes fest:
„Sie stammen aus der Provinz Maidan Wardak, aus dem Distrikt Jarlez, aus dem Dorf […].
Ihre Eltern leben nach wie vor im Heimatdistrikt Jarlez. Ihre Geschwister sind bereits aus Afghanistan ausgereist.
Sie sprechen Dari und bereits ein wenig Deutsch. Sie haben 6 Jahre die Grundschule besucht und Sie haben Ihrem Vater bei seiner Tätigkeit als Arzt geholfen.
Sie sind ledig.
Sie sind gesund und es besteht kein Behandlungsbedarf aufgrund einer lebensbedrohlichen Erkrankung.“
Und zur Situation im Fall der Rückkehr:
„Es sind keine Umstände amtsbekannt, dass in Afghanistan eine solche extreme Gefährdungslage bestünde, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehrt, einer Gefährdung im Sinne der Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt wäre, oder eine derartige humanitäre Katastrophe vorherrschte, dass das Überleben sämtlicher dort lebender Personen mangels Nahrung und Wohnraum tatsächlich in Frage gestellt wäre.
Ihnen wäre bei einer Rückkehr in Ihr Heimatland die Lebensgrundlage nicht gänzlich entzogen, zumal Sie noch über soziale und familiäre Netzwerke in Afghanistan verfügen.
Es konnte jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass Sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der prekären Lage in Ihrer Heimatprovinz nicht einer besonderen Gefährdungslage ausgesetzt wären.
Eine Rückführung nach Afghanistan erscheint demnach derzeit nicht zumutbar, weil sie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen würde.“
Beweiswürdigend wurde dazu ausgeführt, der festgestellte Sachverhalt ergebe sich aus der Vernehmung des Beschwerdeführers und den Feststellungen zur Lage im Herkunftsland.
Aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes gehe die Behörde davon aus, dass aus folgenden Gründen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiären Schutzes gegeben seien:
„Anhand der im Verfahren herangezogenen Länderdokumente ist derzeit die allgemeine Sicherheitslage in Ihrer Herkunftsprovinz Maidan Wardak aufgrund der derzeitigen Unruhen in jüngster Zeit nicht als ausreichend stabil zu bewerten.
Zwar verfügen Sie dort noch über familiäre Anknüpfungspunkte, jedoch kann daraus nicht abgeleitet werden, dass Ihre Familie auch noch Sie mitzutragen vermag.
Darüber hinaus verfügen Sie an keinem anderen Ort in Afghanistan über familiäre bzw. soziale Anknüpfungspunkte, zudem verfügen Sie über keine besonderen beruflichen Qualifikationen und würden Sie nach einem Auslandsaufenthalt ohne Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse zurückkehren, sodass Sie nach den Länderfeststellungen mit Schwierigkeiten im existenzgefährdenden Ausmaß zu rechnen hätten.
Es ist sohin nicht ersichtlich, wie Sie im Falle einer Rückkehr - auf sich alleine gestellt - in einem der übrigen Landesteile in der Lage sein soll, für sich eine ausreichende Lebensgrundlage zu schaffen.
Sohin ist es - auch unter Heranziehung der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs - Ihnen derzeit nicht zuzumuten, in Ihre Heimatregion zurückzukehren, da Sie für den Fall einer Abschiebung nach Afghanistan aufgrund der derzeitig prekären Lage in Ihrer Heimatprovinz und mangels eines tragfähigen sozialen Netzes und entsprechender beruflicher Qualifikationen in eine aussichtlose Situation kommen würden, sodass diese im Blickwinkel des Artikels 3 EMRK unzulässig ist.“
Die gegen Spruchpunkt I. erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 4.3.2020 ab (GZ W154 2135120-1/12E).
4. Mit Bescheid der belangten Behörde vom August 2017 wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung antragsgemäß mit der Begründung um zwei Jahre verlängert, dass aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat und dem Vorbringen bzw. dem Antrag des Beschwerdeführers das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verlängerung als glaubwürdig gewertet werden könne.
5. Am 5.7.2019 brachte der Beschwerdeführer einen weiteren Antrag auf Verlängerung des subsidiären Schutzes gemäß § 8 Abs. 4 AsylG ein.
6. Die belangte Behörde führte daraufhin am 16.9.2019 eine niederschriftliche Einvernahme durch.
Dabei erklärte der Beschwerdeführer im Wesentlichen zunächst, gesund zu sein und keine Medikamente zu nehmen. Seit einem Jahr arbeite er als Gebäudereiniger.
Wie bisher gab er an, in der Provinz Maidan Wardak geboren zu sein, sechs Jahre die Grundschule besucht und danach zwei Jahre seinem Vater als Sekretär in dessen Arztpraxis geholfen zu haben. In Herat oder Mazar-e Sharif sei er noch nie gewesen.
Seine Mutter und die beiden Schwestern befänden sich nach wie vor in seiner Heimatprovinz, der Bruder im Iran. Sein Vater sei ungefähr im Jahr 2015 und nach der Ausreise des Beschwerdeführers von den Taliban mitgenommen worden, seitdem wüssten sie nicht, wo er sich befinde. Der Beschwerdeführer stehe zu seiner Mutter im Kontakt, es gehe ihnen gut, die Familie werde vom Onkel väterlicherseits – einem Tischler – vom Iran aus versorgt. Er selbst habe schon länger nicht mehr mit diesem telefoniert. Der Bruder seiner Mutter sei im Krieg verstorben, dessen beiden Söhne arbeiteten im Iran.
Bis jetzt habe der Beschwerdeführer seine Familie nicht finanziell unterstützt. In Österreich habe er Deutschkurse besucht, den Staplerschein und den Führerschein gemacht und anschließend nur gearbeitet. Er habe eine feste Freundin, eine subsidiär Schutzberechtigte Afghanin, mit der er nicht im gemeinsamen Haushalt lebe, sowie gute Freunde im Bundesgebiet.
7. In einer am 17.9.2019 erstatteten Stellungnahme im Aberkennungsverfahren führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, er sei als unbegleiteter Minderjähriger aus seinem Heimatland geflohen und habe am 17.8.2016 im Bundesgebiet den Status des subsidiär Schutzberechtigten aus folgenden Gründen erhalten:
Die allgemeine Sicherheitslage in Maidan Wardak sei nicht als ausreichend stabil bewertet worden. Der Beschwerdeführer sei zu dem Zeitpunkt schon volljährig gewesen und habe in der Heimatprovinz noch Familie gehabt, die aber nicht in der Lage gewesen sei, ihn mitzutragen. An keinem anderen Ort in Afghanistan habe der Beschwerdeführer über familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte verfügt und wäre im Falle einer Rückkehr auf sich alleine gestellt und nicht in der Lage gewesen, eine ausreichende Lebensgrundlage zu schaffen.
Seither sei die Aufenthaltsbewilligung stets verlängert worden.
Aus dem der Stellungnahme angefügten Lohnzettel gehe hervor, dass der Beschwerdeführer im Bundesgebiet selbsterhaltungsfähig sei. Zudem habe er unterschiedliche Kurse abgeschlossen, um seine Vermittelbarkeit dem Arbeitsmarkt zu erhöhen, wie zum Beispiel den Gabelstaplerführerschein.
In der Heimat des Beschwerdeführers habe sich die Sicherheitslage verschlechtert und es bestünde keine zumutbare interne Fluchtalternative. Die Arbeitserfahrung in Gebäudereinigung und der Führerschein als Gabelstaplerfahrer würden dem Beschwerdeführer bei der Arbeitssuche in Afghanistan nicht von Nutzen sein.
Der Stellungnahme angefügt wurde ein Konvolut von Integrationsunterlagen.
8. Mit dem gegenständlichen im Spruch genannten Bescheid wurde dem Beschwerdeführer der ihm Bescheid vom 17.8.2016 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 (AsylG) von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und laut Spruchpunkt II. sein Antrag vom 5.7.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung. (Spruchpunkt VI.).
Begründend stellte die Behörde im Wesentlichen Folgendes fest:
„[…]
Sie sind afghanischer Staatsangehöriger und gehören der Volksgruppe der Paschtunen an.
Sie sind sunnitischer Moslem.
Sie stammen aus der Provinz Maidan-Wardak.
Sie sind gesund und arbeitsfähig.
Sie sprechen Dari, Paschtu, ein bisschen Englisch und ein wenig Deutsch.
Sie sind ledig und haben keine Kinder.
Sie haben Schulbildung und Arbeitserfahrung in Afghanistan und Arbeitserfahrung in Österreich.
Sie stellen sich in Österreich als eine Person mit einer raschen Auffassungsgabe dar.
Sie sind anpassungsfähig sowie anpassungswillig.
Sie überzeugen mit Ihrer Flexibilität, sowie Aufgeschlossenheit.
Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und zu Ihrer Situation im Fall Ihrer Rückkehr:
Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten liegen aktuell nicht vor.
Eine aktuelle bzw. individuelle Furcht vor Verfolgung in Afghanistan konnten Sie nicht glaubhaft machen.
Die oben genannten (positiven) persönlichen Eigenschaften lagen zum Zeitpunkt der Schutzgewährung vor, waren der Behörde allerdings nicht bekannt.
Es liegt in Ihrem Fall eine Gefährdungslage in Bezug auf Ihre unmittelbare Heimatprovinz – nicht aber Afghanistan allgemein - vor.
Sie können eine IFA (innerstaatliche Fluchtalternative) mit den Städten Mazar-e-Sharif und Herat in Anspruch nehmen und würden eben dort Arbeitsmöglichkeiten vorfinden.“
Beweiswürdigend führte die belangte Behörde unter anderem Folgendes aus:
„[…] Dass Sie mit Ihrer Aufgeschlossenheit überzeugen, sich in Österreich als eine Person mit einer raschen Auffassungsgabe darstellen, anpassungsfähig sowie anpassungswillig sind und eine flexible Person sind, ist vor allem an der Tatsache zu erkennen, dass Sie bereits in mehreren Branchen tätig waren, unter anderem bei […] und mittlerweile als Gebäudereiniger.
Betreffend die Feststellungen von Gründen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und Ihrer Situation im Fall Ihrer Rückkehr:
Sie gaben im Rahmen Ihrer Einvernahme vor dem BFA am 16.09.2019 in Bezug auf Ihr Heimatland Afghanistan keine aktuellen bzw. individuellen Fluchtgründe zu Protokoll, zumal Sie nur die allgemeine Sicherheitslage anführten.
Ihnen wurde mit Bescheid vom 17.08.2016 der Status des subsidiär Schutzberechtigten lediglich zuerkannt, weil die Sicherheitslage in Ihrer Heimatprovinz damals (zum Entscheidungszeitpunkt) als nicht zumutbar gegolten habe und Sie über kein familiäres Netzwerk verfügt haben wollen; aufgrund dessen ist die Behörde davon ausgegangen, dass Sie im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt gewesen wären.
Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten liegen jedoch zum gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt nicht vor. Laut den aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation vom 29.06.2018 (letzte Kurzinformation eingefügt am 04.06.2019) ist Ihnen eine Neuansiedlung zwar nicht in Ihre Herkunftsprovinz Maidan-Wardak), aber sehr wohl in den Städten Mazar-e-Sharif und Herat zuzumuten. Sie sind ein gesunder Mann und befinden sich im erwerbsfähigen Alter. Sie haben eine sechsjährige Schulbildung genossen und haben Arbeitserfahrung als Sekretär gesammelt und arbeiten darüber hinaus hier in Österreich als Gebäudereiniger.
Aus diesen Gründen ist festzustellen, dass Sie im Falle der Rückkehr für Ihre Existenzsicherung aufkommen können. Auch ein fehlender sozialer bzw. familiärer Background bzw. fehlende Unterstützung in den Städten Mazar-e-Sharif oder Herat führt freilich nicht zu einer Unzumutbarkeit einer Neuansiedlung in diesen Städten, umso mehr Sie als erwachsener, arbeitsfähiger und gesunder Mann Ihren Lebensunterhalt in eigener Regie organisieren und bewerkstelligen und dabei im Bedarfsfall auch auf die diversen Unterstützungsnetzwerke (internationale und nationale Rückkehrorganisationen bzw. NGO´s) zurückgreifen könnten.
[…]
Da es Ihnen in Österreich schließlich gelungen ist, Ihren Lebensunterhalt zu bestreiten sowie die im Alltag immer wieder auftretenden Schwierigkeiten in den diversen Bereichen zu bewältigen, ist es Ihnen freilich nun sehr wohl zuzumuten, mit Ihrer (neu gewonnenen) Lebens- sowie Arbeitserfahrung auch in Afghanistan, speziell in Mazar-e-Sharif oder Herat Stadt, zumutbar leben zu können. Dies alles spricht schließlich dafür, dass Sie nun in der Lage sein werden, sich (auch) aus eigenen Kräften ein notdürftiges Überleben in Afghanistan zu sichern und somit ist davon auszugehen, dass Sie nun aufgrund Ihrer bisherigen Lebenserfahrung über die hierfür erforderlichen Fertigkeiten verfügen.
Aufgrund soeben genannter Gründe liegen derzeit jene Voraussetzungen, die die Gewährung subsidiären Schutzes unabdingbar machen, nicht vor.
[…]
Überdies ist anzumerken, dass das BFA zum Zeitpunkt der Schutzgewährung davon ausgegangen ist, dass Sie als ein alleinstehender Rückkehrer ohne familiären Background und ohne finanzielle Unterstützung vor eine ausweglose Situation gestellt gewesen wären. Nunmehr hat sich jedoch insbesondere aufgrund der erfolgreichen Absolvierung mehrerer Deutschkurse und der verschiedenartigen Tätigkeiten, zum Beispiel bei […] und aktuelle als Gebäudereiniger zu den Merkmalen Ihrer Person gänzlich konträr dargestellt; dies bringt nun klar und deutlich zum Ausdruck, dass Sie eine Person mit einer raschen Auffassungsgabe sind sowie mit Ihrer Flexibilität und Aufgeschlossenheit überzeugen. Die (zuvor genannten) positiven Attribute werden Ihnen im Falle der Rückkehr freilich von hohem Nutzen sein. “
9. Dagegen wurde Beschwerde in vollem Umfang erhoben, der ein Konvolut von Integrationsunterlagen (Lohnbestätigungen, Unterstützungsschreiben, Kursbestätigung des Roten Kreuzes, Führerschein) angefügt wurde.
10. In einer am 26.5.2020 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangten Beschwerdeergänzung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass im Verhältnis zum Bescheid, mit dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, und bezüglich der Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung vom August 2017 kein geänderter Sachverhalt vorliege, der eine Neubeurteilung des Schutzbedarfs im Sinne eines zwischenzeitigen Wegfalls der subsidiären Schutzgründe naheliegen würde. Dies ergebe sich insbesondere auch aus den im bekämpften Bescheid getroffenen Feststellungen und dem vorgehaltenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für Afghanistan, wonach sich die Sicherheitslage sogar verschlechtert habe.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Er ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari, zudem spricht er Paschtu sowie nach eigenen Angaben ein bisschen Englisch und besuchte Deutschkurse bis zum Niveau B1. Er ist ledig und kinderlos.
Der Beschwerdeführer wurde im Distrikt Jalrez in der Provinz Maidan Wardak geboren, in dem er auch aufwuchs und bis zu seiner Ausreise im Familienverband lebte. In der Heimat besuchte er sechs Jahre die Schule und half in der Arztpraxis seines Vaters mit.
Der Beschwerdeführer ist volljährig, jung, gesund und arbeitsfähig.
Nach der letzten Verlängerung seiner Aufenthaltsberechtigung erwarb er den Führerschein und Gabelstaplerschein sowie Berufserfahrungen als Gebäudereiniger, bereits zuvor hatte er bei einer Supermarktkette gearbeitet. Zurzeit ist er bei einer Agentur für Arbeit und Sicherheit unter Vertrag.
Er ist strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zum Status des subsidiär Schutzberechtigten:
Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Beschwerdeführers und der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, insbesondere in der Herkunftsprovinz Maidan Wardak sowie in den Städten Mazar-e Sharif und Herat, haben sich die Umstände, die zur Gewährung des subsidiären Schutzes geführt haben, seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid des Bundesamtes vom 17.8.2016 und insbesondere seit der letzten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung im August 2017 nicht wesentlich und nachhaltig zugunsten des Beschwerdeführers verbessert:
Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheits- und Menschenrechtslage und dem Vorstoß der Taliban derzeit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der jetzigen instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan zurzeit nicht ausgeschlossen werden. Dem Beschwerdeführer ist es dementsprechend bereits aus diesen Gründen derzeit auch nicht möglich und nicht zumutbar, sich im Abschiebungsfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht, nachdem die Städte Herat, Mazar-e Sharif und Kabul ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden.
Im Übrigen werden die Ausführungen im Verfahrensgang der Entscheidung zugrunde gelegt.
1.3. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat
Aktuelle Lage in Afghanistan Stand 16.9.2021:
Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Version 5 vom 16.9.2021, wiedergegeben:
COVID-19
Letzte Änderung: 16.09.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
Quellen:
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Politische Lage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Quellen:
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AJ - Al Jazeera (23.8.2021): Explainer: The Taliban and Islamic law in Afghanistan, https://www.aljazeera.com/news/2021/8/23/hold-the-taliban-and-sharia-law-in-afghanistan, Zugriff 10.9.2021
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BBC - British Broadcasting Corporation (8.9.2021b): Afghanistan: Don't recognise Taliban regime, resistance urges, https://www.bbc.com/news/world-asia-58484155, Zugriff 9.9.2021
BZ - Berliner Zeitung (8.9.2021): USA und Deutschland: Keine baldige Anerkennung von Taliban-Regierung, https://www.berliner-zeitung.de/news/usa-und-deutschland-keine-baldige-anerkennung-von-taliban-regierung-li.181782, Zugriff 9.9.2021
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