TE Bvwg Beschluss 2021/11/30 W265 2244973-1

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Veröffentlicht am 30.11.2021
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Entscheidungsdatum

30.11.2021

Norm

B-VG Art133 Abs4
VOG §1
VOG §10
VOG §2
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch


W265 2244973-1/6E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Karin RETTENHABER-LAGLER als Vorsitzende und die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald SOMMERHUBER als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Oberösterreich, vom 22.06.2021, betreffend die Abweisung des Antrages auf Hilfeleistung nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG) in Form von Kostenübernahme einer psychotherapeutischen Krankenbehandlung, Pauschalentschädigung für Schmerzengeld, Heilfürsorge und Ersatz des Verdienstentganges, beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Sozialministeriumservice zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. VERFAHRENSGANG

Der Beschwerdeführer stellte am 21.08.2017 beim Sozialministeriumservice (im Folgenden auch als belangte Behörde bezeichnet), einen Antrag auf Hilfeleistungen nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG) in Form von Kostenübernahme einer psychotherapeutischen Krankenbehandlung, Pauschalentschädigung für Schmerzengeld, Heilfürsorge und Ersatz des Verdienstentganges aufgrund des Vorbringens, von seinem Vater sexuell schwer missbraucht worden zu sein. Zudem sei er massiver körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen, sodass er dadurch im Gesicht entstellt sei. Aufgrund der bestehenden posttraumatischen Belastungsstörung könne er keinen Beruf mehr ausüben. Er habe um Invaliditätspension angesucht.

Mit Bescheid der belangten Behörde vom 08.02.2018 wurde gemäß § 38 AVG das Verfahren auf Gewährung von Leistungen nach dem VOG bis zur rechtskräftigen Beendigung des Strafverfahrens vor dem Landesgericht XXXX zur Zl. XXXX ausgesetzt.

Im Rahmen einer telefonischen Urgenz durch die belangte Behörde teilte das Landesgericht mit, dass die Strafsache nunmehr unter der Zl. XXXX geführt werde.

Im Strafverfahren wurde ein psychiatrisch/neurologisches Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie vom 15.09.2016 eingeholt.

Am 31.10.2018 langte bei der belangten Behörde das Urteil des Landesgerichts XXXX vom 25.09.2018, Zl. XXXX , ein. Im strafgerichtlichen Urteil wurde der Angeklagte XXXX vom Vorwurf des Verbrechens der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs. 1 erster Fall und Abs. 2 erster Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Das Urteil ist rechtskräftig.

Neben dem Urteil des Landesgerichts XXXX wurden auch das Protokoll der Hauptverhandlung vom 25.10.2018, eine Sachverhaltsdarstellung der ausgewiesenen Vertretung des Beschwerdeführers vom 13.07.2015, ein Abschlussbericht der Landespolizeidirektion vom 11.09.2015, eine Beschuldigtenvernehmung vom 11.09.2015 sowie eine Zeugenvernehmung vom 07.09.2015 übermittelt.

Mit Schreiben vom 08.01.2019 brachte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer im Rahmen eines Parteiengehörs das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens zur Kenntnis und hielt dazu fest, dass mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 25.09.2018, Zl. XXXX , der Beschuldigte von der wider ihn erhobenen Anklage wegen des Verbrechens der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs. 1 erster Fall und Abs. 2 erster Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen mangels Schuldbeweises freigesprochen wurden sei. Das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens werde der Entscheidung zugrunde gelegt. Er könne dazu binnen zwei Wochen nach Zustellung eine Stellungnahme abgeben.

Mit E-Mail vom 19.01.2019 nahm der Beschwerdeführer zum Parteiengehör Stellung und führte aus, dass das Urteil vom Landesgericht XXXX vom 25.09.2018 zwar vorerst rechtskräftig sei, es werde jedoch wieder angefochten, und ein erneutes Verfahren sei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Der OGH habe diesbezüglich bereits einmal entschieden.

Mit Bescheid vom 22.01.2019 hob die belangte Behörde den Bescheid vom 08.02.2018, mit dem das Verfahren auf Gewährung von Hilfeleistungen nach dem Verbrechensopfergesetz bis zur rechtskräftigen Beendigung des Strafverfahrens vor dem Landesgericht XXXX ausgesetzt wurde, auf, um in der Sache selbst zu entscheiden (Spruchpunkt I.). Der Antrag des Beschwerdeführers vom 21.08.2017 auf Leistungen nach dem Verbrechensopfergesetz wurde gemäß § 1 Abs. 1 VOG abgewiesen (Spruchpunkt II.). Die Behörde begründete die Abweisung wie im Schreiben des Parteiengehörs vom 08.01.2019. Ungeachtet des Freispruches hätten keine Beweismittel erhoben werden können, aus denen mit Wahrscheinlichkeit eine rechtswidrige und vorsätzliche Handlung im Sinne des § 1 Abs. 1 VOG abgeleitet werden könne. Die grundsätzlichen Anspruchsvoraussetzungen nach dem VOG, wonach mit Wahrscheinlichkeit eine mit mehr als sechsmonatiger Freiheitsstrafe bedrohe, rechtswidrige und vorsätzliche Handlung vorliegen müsse, seien nicht gegeben. Das rechtskräftige Urteil des Landesgerichts XXXX sei für die Verwaltungsbehörde bindend.

Mit E-Mail vom 11.03.2019 erhob der Beschwerdeführer (aus seiner Sicht) das Rechtsmittel der Beschwerde und führte darin im Wesentlichen aus, dass er gegen das rechtskräftige Urteil des Landesgerichts XXXX vorgehen werde.

Nach telefonischer Urgenz des Beschwerdeführers hinsichtlich des Verfahrensstandes seines anhängigen Verfahrens wurde ihm mitgeteilt, dass das E-Mail vom 11.03.2020 (gemeint wohl: 11.03.2019) fälschlicherweise von der Behörde nicht als Beschwerde gewertet worden sei. Es wurde vereinbart, dem Beschwerdeführer ein Verbesserungsschreiben zu den Beschwerdegründen zu übermitteln.

Mit Schreiben der belangten Behörde vom 29.07.2020 wurde dem Beschwerdeführer ein Verbesserungsauftrag gemäß § 13 Abs. 2 AVG übermittelt, worin er aufgefordert wurde, seine Bescheidbeschwerde näher zu präzisieren.

Mit Schreiben vom 15.08.2020, eingelangt am 18.08.2020, kam der Beschwerdeführer dem Verbesserungsauftrag nach. Im Wesentlichen hielt der Beschwerdeführer sein Begehren auf Entschädigung für Schäden aufrecht, die ihm durch die Verbrechen wiederfahren seien.

Am 10.09.2020 langte bei der belangten Behörde die Auskunft des Landesgerichts XXXX ein, wonach das Urteil vom 25.09.2018 seit 15.01.2019 rechtskräftig sei. Es seien keine weiteren Rechtsmittel oder Rechtsbehelfe erhoben worden.

Mit Schreiben vom 23.09.2020 legte die belangte Behörde die Beschwerde und den Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht vor, wo diese am 28.09.2020 einlangten.

Am 20.10.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein Schreiben des Beschwerdeführers ein, worin er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte.

Mit Beschluss vom 12.11.2020, Zl. W265 2235474-1/6E, hob das Bundesverwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid vom 22.01.2019 auf und verwies die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheids an die belangte Behörde zurück. Begründend führte das Gericht im Wesentlichen aus, die belangte Behörde stütze ihre Entscheidung auf das freisprechende Urteil des Landesgerichts XXXX vom 25.09.2018, das sie als bindend erachte. Aus näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ergebe sich jedoch, dass nur ein verurteilendes Strafurteil Bindungswirkung entfalte, im Fall eines Freispruchs sei eine eigenständige Beurteilung durch die Behörde vorzunehmen. Im Strafverfahren gelte ein anderes Beweismaß als nach dem VOG. Vor diesem Hintergrund erweise sich das von der Behörde durchgeführte Ermittlungsverfahren als grob mangelhaft, da sie keine eigenständige, auf Feststellungen gegründete und schlüssige Beurteilung vorgenommen habe. Aus näher zitierten Passagen des Strafurteils und des im Strafverfahren eingeholten Gutachtens würden sich sehr wohl Hinweise auf körperliche Tätlichkeiten des Angeklagten gegenüber dem Beschwerdeführer ergeben. Dennoch habe die belangte Behörde von weiteren Ermittlungen Abstand genommen. Die Behörde hätte sich durch Einvernahme des Beschwerdeführers einen persönlichen Eindruck von dessen Glaubwürdigkeit verschaffen können. Darüber hinaus wäre die Einholung des Aktes der Jugendwohlfahrt sowie des Pflegschaftsaktes erforderlich gewesen, um die im Gutachten genannten Traumatisierungen und Gewalterfahrungen, die dem Beschwerdeführer offensichtlich seitens seines Vaters wiederfahren seien, zu überprüfen und sich in weiterer Folge damit auseinanderzusetzen, ob es sich dabei um eine Straftat handeln könnte. Sollte die Behörde zum Ergebnis einer wahrscheinlich erlittenen Straftat gelangen, wären die gesundheitlichen Auswirkungen unter Einbeziehung von medizinischen Sachverständigen zu ermitteln und die beantragten Hilfeleistungen konkret zu prüfen.

Mit Schreiben vom 04.01.2021 und 07.01.2021 legte der Beschwerdeführer der belangten Behörde weitere Unterlagen vor, insbesondere ein heilpädagogisches Gutachten vom 03.05.1995, ein Betreuungskonzept vom 10.10.2002, einen Entwicklungsbericht vom 18.10.2005, einen Antrag der Jugendwohlfahrt auf Übertragung der Obsorge auf den Jugendwohlfahrtsträger vom 16.07.2002, ein ärztliches Gutachten vom 03.04.2018 und eine zusammenfassende Sachverhaltsdarstellung aus seiner Sicht.

Die belangte Behörde ersuchte in der Folge die Jugendwohlfahrt des Magistrats der Stadt XXXX , das Bezirksgericht XXXX und die Abteilung Kinder- und Jugendhilfe des Landes Oberösterreich um Übermittlung der jeweils den Beschwerdeführer betreffenden (Pflegschafts-)Akten. Diese wurden der Behörde übermittelt.

Die Staatsanwaltschaft XXXX und das Landesgericht XXXX wurden um Übermittlung des Strafaktes bzw. von näher genannten Unterlagen aus den gegen den Beschwerdeführer geführten Strafverfahren Zl. XXXX und Zl. XXXX ersucht. Auch diese wurden der Behörde übermittelt.

Mit Schreiben vom 12.03.2021 ersuchte die belangte Behörde den Beschwerdeführer, einen beiliegenden Fragebogen zu den von ihm behaupteten Tathandlungen ausgefüllt zu retournieren.

Mit E-Mail vom 19.03.2021 legte der Beschwerdeführer eine Audiodatei vor, bei der es sich um die Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen ihm und einem Mitarbeiter der Jugendwohlfahrt handeln soll.

Mit E-Mail vom 22.03.2021 legte der Beschwerdeführer den ausgefüllten Fragebogen der belangten Behörde zu den behaupteten Tathandlungen sowie weitere, bereits vorliegende Unterlagen vor.

Mit Schreiben vom 21.04.2021, eingelangt am 27.04.2021, übermittelte das Landesgericht XXXX der belangten Behörde den Strafakt zur Zl. XXXX .

Mit Schreiben vom 18.05.2021 brachte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer im Rahmen eines Parteiengehörs das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens zur Kenntnis. Darin wurden im Wesentlichen Inhalte der Akten der Jugendwohlfahrt, der Strafakten und der vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen auszugsweise wiedergegeben bzw. zusammengefasst. Dieses Ergebnis des Ermittlungsverfahrens werde der Entscheidung zugrunde gelegt. Der Beschwerdeführer könne dazu binnen zwei Wochen nach Zustellung eine Stellungnahme abgeben.

Mit Schreiben vom 31.05.2021, eingelangt am 02.06.2021, erstattete der Beschwerdeführer eine Stellungnahme zum Parteiengehör, in der er im Wesentlichen ausführte, die belangte Behörde habe abermals nicht richtig und gewissenhaft ermittelt und würde die Tatsachen verdrehen. Für den sexuellen Missbrauch gebe es sehr wohl eine Zeugin. Die körperliche und psychische Gewaltausübung durch seinen Vater sei durch zahlreiche der Behörde vorliegende Unterlagen belegt. Er sei über ein Jahrzehnt lang körperlich und psychisch misshandelt worden, was auch zweifelsfrei bewiesen sei, und dadurch Opfer von Folter iSd Art. 3 EMRK geworden. Mit der Stellungnahme legte der Beschwerdeführer eine psychologische Stellungnahme vom 10.03.1994, eine von ihm verfasste Strafanzeige gegen einen Mitarbeiter der Jugendwohlfahrt und eine von ihm verfasste, an das Bundeskanzleramt gerichtete Sachverhaltsdarstellung vor.

Mit angefochtenem Bescheid vom 22.06.2021 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers vom 21.08.2017 auf Leistungen nach dem Verbrechensopfergesetz gemäß § 1 Abs. 1 VOG ab. Begründend führte die Behörde nach Wiedergabe des Verfahrensganges und der bereits im Parteiengehör dargelegten Ermittlungsergebnisse im Wesentlichen aus, dass die vom Vater des Beschwerdeführers zugestandenen Handlungen wie Ohrfeigen, Kopfnüsse und „Tapperl“ für sich betrachtet allenfalls Misshandlungen iSd § 83 Abs. 2 StGB darstellen würden. Zur Strafbarkeit bedürfe es auch einer (zumindest fahrlässig) herbeigeführten Verletzung des Opfers. Konkrete Hinweise auf kausale Verletzungsfolgen beim Beschwerdeführer aufgrund einer solchen Misshandlung könnten aus den Akten sowie dem von ihm ausgefüllten Fragebogen allerdings nicht entnommen werden. Die im Strafverfahren gegen den Vater vorgebrachten Verletzungen könnten nicht mit einer iSd VOG ausreichenden Wahrscheinlichkeit einer Gewaltausübung durch diesen zugeordnet werden. Den Zeugenaussagen sei zu entnehmen, dass sie sich auch nicht an blaue Flecken o. ä. beim Beschwerdeführer erinnern könnten. Auch aus den Auszügen aus den Jugendwohlfahrts- und Pflegschaftsakten könne die Behörde mangels substantiierten Aussagen bzw. glaubhaftmachender Unterlagen nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit eine Straftat durch seinen Vater annehmen. Es spreche nicht mehr dafür als dagegen, dass die damals behaupteten Handgreiflichkeiten ein strafrechtliches Delikt verwirklicht bzw. überhaupt in der damals vom Beschwerdeführer (als Minderjähriger) behaupteten Intensität stattgefunden hätten. Durch Zusammenschau der körperlichen Misshandlungen wäre aus Sicht der heutigen Rechtslage denkbar gewesen, dass das Delikt der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b StGB erfüllt worden sei. Folge man den Aussagen der Zeugen im Strafverfahren, könne jedenfalls von ungeeigneten und verwerflichen Erziehungsmethoden seines Vaters ausgegangen werden, bei denen auf „schlechtes“ Verhalten fallweise auch mit körperlichen Misshandlungen reagiert worden sei. Dass diese Misshandlungen aber eine solche Intensität erreicht hätten, welche den deliktsspezifischen Erfordernissen der fortgesetzten Gewaltausübung entspreche, sei nicht ausreichend wahrscheinlich. Das Delikt verlange eine gewisse Regelmäßigkeit. Aufgrund der Aussagen der Verfahrensbeteiligten habe eigentlich nur eine Ohrfeige des Vaters des Beschwerdeführers zu dessen Lasten zweifelsfrei belegt und glaubhaft gemacht werden können, die Häufigkeit bzw. Regelmäßigkeit sonstiger Misshandlungen sei für die Behörde nicht objektivierbar. Die jeweiligen genaueren Umstände der behaupteten Handgreiflichkeiten in der Vergangenheit könnten mittlerweile nicht mehr genauer erleuchtet werden. Zusammenfassend sei daher festzuhalten, dass sich zu den behaupteten sexuellen Missbrauchshandlungen keinerlei Ergebnisse in den eingeholten Unterlagen finden würden. Hinsichtlich der körperlichen Missbrauchshandlungen stehe fest, dass der Beschwerdeführer eine Ohrfeige, die aber wahrscheinlich zu keiner Verletzung geführt hätte, zweifelsfrei erlitten habe. Ob dabei Misshandlungs- oder Verletzungsvorsatz seines Vaters bestanden habe, könne nicht mehr festgestellt werden, weshalb nicht mit einer iSd VOG ausreichenden Wahrscheinlichkeit von einer strafbaren Vorsatztat auszugehen sei. Insgesamt spreche jedenfalls nicht mehr für als gegen das Vorliegen einer vorsätzlichen Straftat iSd § 1 VOG, die eine Gesundheitsschädigung verursacht hat, weshalb die grundsätzlichen Anspruchsvoraussetzungen nicht vorliegen würden.

Mit Schreiben vom 26.07.2021, eingelangt am 28.07.2021, erhob der Beschwerdeführer fristgerecht die gegenständliche Beschwerde. Er führte darin im Wesentlichen aus, er sei, wie im Bescheid bereits festgestellt, in den Jahren 1993 bis 2013 regelmäßig Opfer seines gewalttätigen Vaters geworden. Dies sei von seinem Vater in dessen Strafverfahren teilweise zugestanden und durch mehrere Zeugen bestätigt worden, es gehe auch aus vorliegenden Unterlagen hervor. Sein Vater habe etwa seinen Kopf gegen einen Heizkörper geschlagen, ihn mit dem Ellbogen brutal am Auge erfasst und seinen Kopf gegen eine Badewannenkannte gestoßen. Damals sei er im Augenbereich verletzt worden und leide seitdem an einem hängenden Augenlid. Die Taten seines Vaters seien mehr als bloß die Summe einzelner Gewaltakte gewesen. Durch die fortwirkende Einwirkung auf seinen Körper und seine Psyche sei seine persönliche Freiheit schwerwiegend beeinträchtigt gewesen, weil er in permanenter Angst vor weiteren Gewaltausbrüchen gelebt habe. Es spreche mehr dafür als dagegen, dass das Delikt der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b StGB verwirklicht worden sei. Auch wenn er von all diesen Gewaltausbrüchen, bis auf sein hängendes Augenlid, keine körperlichen Verletzungen erlitten habe, die heute noch sichtbar seien, so hätten sie doch eine psychische Gesundheitsschädigung ausgelöst. Schon im Strafverfahren sei bei ihm unter anderem eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund der Gewalttätigkeit seines Vaters diagnostiziert worden. Die psychiatrische Sachverständige habe ausgeführt, dass die Ursachen seiner Erkrankung in frühester Kindheit zu suchen und auf schwere Traumata zurückzuführen seien. Die zuständigen Behörden hätten jahrelang nur zugesehen, obwohl die Misshandlungen aktenkundig gewesen seien. Hätten die Behörden früher eingegriffen, wäre er viel eher in der Lage gewesen, mit therapeutischer Hilfe seine Kindheit zu verarbeiten und einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Mit Schreiben vom 30.07.2021 legte die belangte Behörde die Beschwerde und den Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht vor, wo diese am 03.08.2020 einlangten.

II. DAS BUNDESVERWALTUNGSGERICHT HAT ERWOGEN:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gemäß § 9d Abs. 1 VOG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide nach diesem Bundesgesetz durch einen Senat, dem ein fachkundiger Laienrichter angehört. Gegenständlich liegt daher Senatszuständigkeit mit Laienrichterbeteiligung vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

ZU A)

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Nach § 28 Abs. 2 leg.cit. hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn 1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen und die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheids und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht auch die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung voraus. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein (nur) das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG (Fister/Fuchs/Sachs, Das neue Verwaltungsgerichtsverfahren, 2013, § 28 VwGVG, Anm. 11).

§ 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, mit der Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auseinandergesetzt und darin folgende Grundsätze herausgearbeitet (vgl. auch VwGH 30.06.2015, Ra 2014/03/0054):

* Die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht kommt nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

* Der Verfassungsgesetzgeber hat sich bei Erlassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl. I Nr. 51/2012, davon leiten lassen, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden haben, weshalb ein prinzipieller Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte anzunehmen ist.

* Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stellt die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz leg.cit. bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 leg.cit. verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das in § 28 leg.cit. insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher insbesondere dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).

Der angefochtene Bescheid erweist sich vor diesem Hintergrund in Bezug auf den ermittelten Sachverhalt aus folgenden Gründen als mangelhaft:

Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Verbrechensopfergesetzes (VOG) lauten:

„Kreis der Anspruchsberechtigten

§ 1. (1) Anspruch auf Hilfe haben österreichische Staatsbürger, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie

1.       durch eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben oder

2.       durch eine an einer anderen Person begangene Handlung im Sinne der Z 1 nach Maßgabe der bürgerlich-rechtlichen Kriterien einen Schock mit psychischer Beeinträchtigung von Krankheitswert erlitten haben oder

3.       als Unbeteiligte im Zusammenhang mit einer Handlung im Sinne der Z 1 eine Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung erlitten haben, soweit nicht hieraus Ansprüche nach dem Amtshaftungsgesetz, BGBl. Nr. 20/1949, bestehen,

und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind oder ihre Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Wird die österreichische Staatsbürgerschaft erst nach der Handlung im Sinne der Z 1 erworben, gebührt die Hilfe nur, sofern diese Handlung im Inland oder auf einem österreichischen Schiff oder Luftfahrzeug (Abs. 6 Z 1) begangen wurde.

(2) Hilfe ist auch dann zu leisten, wenn

1.       die mit Strafe bedrohte Handlung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangen worden ist oder der Täter in entschuldigendem Notstand gehandelt hat,

2.       die strafgerichtliche Verfolgung des Täters wegen seines Todes, wegen Verjährung oder aus einem anderen Grund unzulässig ist oder

3.       der Täter nicht bekannt ist oder wegen seiner Abwesenheit nicht verfolgt werden kann.

(3) Wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit ist Hilfe nur zu leisten, wenn

1.       dieser Zustand voraussichtlich mindestens sechs Monate dauern wird oder

2.       durch die Handlung nach Abs. 1 eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1 StGB, BGBl. Nr. 60/1974) bewirkt wird.

[…]

Hilfeleistungen

§ 2. Als Hilfeleistungen sind vorgesehen:

1.       Ersatz des Verdienst- und Unterhaltsentganges;

2.       Heilfürsorge

...

2a.      Kostenübernahme bei Krisenintervention durch klinische Psychologen und Gesundheitspsychologen sowie Psychotherapeuten;

4.       medizinische Rehabilitation

10. Pauschalentschädigung für Schmerzengeld.“

Grundsätzliche Voraussetzung für die Gewährung von Versorgungsleistungen für Gesundheitsschädigungen nach dem Verbrechensopfergesetz ist, dass mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass der Antragsteller durch eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten hat und das schädigende Ereignis in ursächlichem Zusammenhang (Kausalzusammenhang) mit der Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung steht.

Das VOG 1972 knüpft den Anspruch des Geschädigten an das Vorliegen einer zumindest bedingten vorsätzlichen Handlung iSd § 1 Abs. 1 VOG 1972. Eine ausreichende Wahrscheinlichkeit iSd § 1 Abs. 1 VOG 1972 ist erst gegeben, wenn erheblich mehr für als gegen das Vorliegen einer Vorsatztat spricht (vgl. VwGH 06.03.2014, 2013/11/0219, mwN).

Die belangte Behörde begründete gegenständlich die Abweisung des Antrages zusammengefasst damit, dass nicht mit Wahrscheinlichkeit vom Vorliegen einer Straftat ausgegangen werden könne.

Der angefochtene Bescheid erweist sich in Bezug auf den zu ermittelnden Sachverhalt jedoch aus folgenden Gründen als gravierend mangelhaft:

Bereits im zurückverweisenden Beschluss vom 12.11.2020, Zl. W265 2235474-1/6E, führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass sich unter anderem aus näher zitierten Passagen eines Strafurteils und eines im Strafverfahren eingeholten psychiatrischen Gutachtens Hinweise auf körperliche Tätlichkeiten des Vaters des Beschwerdeführers gegenüber diesem ergeben würden. Das Gericht trug der belangten Behörde daher auf, weitere Ermittlungen durchzuführen, um die im Gutachten genannten Traumatisierungen und Gewalterfahrungen, die dem Beschwerdeführer offensichtlich seitens seines Vaters wiederfahren seien, zu überprüfen und sich in weiterer Folge damit auseinanderzusetzen, ob es sich dabei um eine Straftat handeln könnte.

Nach Durchführung ergänzender Ermittlungen gelangte die belangte Behörde im nunmehr angefochtenen Bescheid erneut zu dem Schluss, dass nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit vom Vorliegen einer Straftat des Vaters des Beschwerdeführers zu dessen Lasten auszugehen sei. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts vermögen die vorliegenden – und im Bescheid auch wiedergegebenen – Ermittlungsergebnisse diese Einschätzung jedoch nicht zu tragen:

So zitiert die belangte Behörde im Bescheid zahlreiche in den Akten der Jugendwohlfahrt und im Pflegschaftsakt festgehaltene Angaben des Beschwerdeführers (als Kind), seines familiären Umfelds (Mutter, Großmutter) und von betreuenden Institutionen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten seiner Kindheit Gewalttätigkeiten seines Vaters beschreiben. Auch die als Zeugen im Strafverfahren einvernommenen Angehörigen bestätigten einhellig die grundsätzliche Neigung des Vaters zu Gewalt als „Erziehungsmaßnahme“ gegenüber seinen Kindern. Die Behörde selbst führte diesbezüglich aus, dass, folge man diesen Zeugenaussagen und Angaben, „jedenfalls von ungeeigneten und verwerflichen Erziehungsmethoden“ des Vaters ausgegangen werden könne, bei denen auf „schlechtes“ Verhalten der Kinder „fallweise auch mit körperlichen Misshandlungen reagiert wurde“. Der Vater des Beschwerdeführers gestand auch ein, generell „handgreiflich“ gewesen zu sein, wenngleich er die Misshandlungen bloß als Ohrfeigen, Kopfnüsse und „Tapperl“ beschrieb. Er wurde mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 19.07.2017, Zl. XXXX , erstinstanzlich wegen versuchter Körperverletzung verurteilt, weil er dem Beschwerdeführer „mit dem Handrücken einen derart heftigen Schlag in das Gesicht verpasst [hat], dass [der Beschwerdeführer] zu Boden stürzte“ (vgl. AS 237b). Dieser Schuldspruch wurde vom Obersten Gerichtshof ausschließlich wegen Verjährung der Tat aufgehoben und war im zweiten Rechtsgang nicht mehr verfahrensgegenständlich. Schließlich wurde, worauf das Bundesverwaltungsgericht bereits anlässlich der ersten Zurückverweisung hingewiesen hat, in dem im Strafverfahren eingeholten psychiatrischen Gutachten ausgeführt, dass der 1994 beschriebene psychische Zustand des damals sechsjährigen Beschwerdeführers den „eindeutigen Rückschluss“ zulasse, dass dieser „schwersten emotionalen Traumatisierungen und Gewalterfahrungen ausgesetzt war“ (vgl. AS 82b).

Aus diesen Beweisergebnissen zog die belangte Behörde in rechtlicher Hinsicht aber zum einen lediglich den Schluss, dass die vom Vater des Beschwerdeführers zugestandenen Handlungen für sich betrachtet allenfalls Misshandlungen iSd § 83 Abs. 2 StGB darstellen würden. Zur Strafbarkeit bedürfe es auch einer (zumindest fahrlässig) herbeigeführten Verletzung des Opfers. Konkrete Hinweise auf kausale Verletzungsfolgen beim Beschwerdeführer aufgrund einer solchen Misshandlung könnten aus den Akten sowie dem von ihm ausgefüllten Fragebogen allerdings nicht entnommen werden. Den Zeugenaussagen sei zu entnehmen, dass sie sich auch nicht an blaue Flecken o. ä. beim Beschwerdeführer erinnern könnten. Hinsichtlich der körperlichen Missbrauchshandlungen stehe fest, dass der Beschwerdeführer eine Ohrfeige, die aber wahrscheinlich zu keiner Verletzung geführt hätte, zweifelsfrei erlitten habe. Ob dabei Misshandlungs- oder Verletzungsvorsatz seines Vaters bestanden habe, könne nicht mehr festgestellt werden, weshalb nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit von einer strafbaren Vorsatztat auszugehen sei.

Mit diesen Ausführungen übergeht die belangte Behörde ohne nähere Begründung die Verurteilung des Vaters des Beschwerdeführers wegen versuchter Körperverletzung durch das Landesgericht XXXX am 19.07.2017. Das Gericht stellte dabei ausdrücklich einen Verletzungsvorsatz fest, der Angeklagte habe „billigend in Kauf genommen, dass er [den Beschwerdeführer] durch diese Tathandlung am Körper verletzt“. Beweiswürdigend wurde ausgeführt, dass, auch wenn der Angeklagte den Verletzungsvorsatz bestreite, eine lebensnahe Beurteilung der äußeren Handlungsweise – Versetzen eines heftigen Schlages mit dem Handrücken in das Gesicht des Tatopfers, wodurch dieses zu Boden stürzte – keinen anderen Schluss zulasse (vgl. AS 237b, 238). Dass diese Verurteilung wegen Verjährung der Tat aufgehoben wurde, ist für die Frage einer Hilfeleistung nach dem VOG gemäß § 1 Abs. 2 Z 2 leg. cit. nicht von Bedeutung. Auch weitere beschriebene Vorfällen lassen bei lebensnaher Betrachtung einen Verletzungsvorsatz zumindest wahrscheinlich erscheinen. So gab etwa der Beschwerdeführer im Alter von 13 Jahren im pflegschaftsgerichtlichen Verfahren zu Protokoll, dass ihn sein Vater einmal gewürgt habe, wobei er auch geblutet habe (vgl. AS 224b). XXXX , ein Stiefcousin und Kindheitsfreund des Beschwerdeführers, gab als Zeuge im Strafverfahren an, dass er gesehen habe, wie der Angeklagte einmal dessen Kopf gegen einen Heizkörper geschlagen habe (vgl. AS 35b). Eine beweiswürdigende Auseinandersetzung mit diesen Vorfällen ist dem angefochtenen Bescheid nicht zu entnehmen.

Das Vorliegen des Delikts der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b StGB verneinte die belangte Behörde, weil die Misshandlungen nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit eine den deliktsspezifischen Erfordernissen entsprechende Intensität erreicht hätten. Das Delikt verlange eine gewisse Regelmäßigkeit. Aufgrund der Aussagen der Verfahrensbeteiligten habe eigentlich nur eine Ohrfeige des Vaters des Beschwerdeführers zu dessen Lasten zweifelsfrei belegt und glaubhaft gemacht werden können, die Häufigkeit bzw. Regelmäßigkeit sonstiger Misshandlungen sei für die Behörde nicht objektivierbar. Aus den Jugendwohlfahrtakten hätten sich Anzeichen auf Misshandlungen im Jahr 1994 und später dann Ende 2001 und 2002 ergeben. Dazwischen habe die Behörde keine darauf gerichteten Aussagen erheben können. Es könne aus den Akteninhalten nicht festgestellt werden, dass überhaupt zumindest zehn Einzelhandlungen – was bei fortgesetzter Gewaltausübung als Richtwert bei leichteren Fällen anzusetzen sei – stattgefunden hätten. Davon abgesehen sei auch die Erfüllung der sonstigen deliktsspezifischen Erfordernisse unwahrscheinlich.

Dabei verkennt die Behörde insbesondere das für die Annahme einer Vorsatztat nach dem VOG anzuwendende Beweismaß der Wahrscheinlichkeit. Das Argument, dass nur eine Ohrfeige zu Lasten des Beschwerdeführers „zweifelsfrei belegt und glaubhaft gemacht“ worden sei, übersieht, dass ein zweifelsfreier Beleg gegenständlich gar nicht erforderlich ist. Es genügt, dass erheblich mehr für als gegen das Vorliegen einer Vorsatztat spricht. Dies ist hier – auch betreffend das Delikt der fortgesetzten Gewaltausübung – der Fall. Im gesamten Ermittlungsverfahren sind keine Umstände hervorgekommen, die konkret gegen die Angaben des Beschwerdeführers zu einer regelmäßigen, sich über Jahre erstreckenden und immer wieder auch schweren Gewalttätigkeit seines Vaters sprechen. Demgegenüber bestehen, wie bereits dargelegt wurde und auch dem Bescheid zu entnehmen ist, zahlreiche Anhaltspunkte, die dieses Vorbringen stützen. Wenn die belangte Behörde ausführt, dass es Anzeichen für Misshandlungen in den Jahren 1994, 2001 und 2002 gebe, nicht aber für die Zeit dazwischen, übersieht sie, dass Gewalt innerhalb von Familien sehr häufig lange unentdeckt bleibt und „von außen“ in der Regel nicht lückenlos dokumentiert werden kann. Dies gilt umso mehr für einen lange zurückliegenden Zeitraum. Dass dennoch zahlreiche Hinweise unterschiedlicher Personen und Stellen aus verschiedenen Jahren zur Gewalttätigkeit des Vaters erhoben wurden, spricht bei lebensnaher Betrachtung dafür, dass dieser den Beschwerdeführer regelmäßig, und nicht nur in den Jahren 1994, 2001 und 2002, sondern auch dazwischen, misshandelt hat. Aufgrund des langen Tatzeitraums ist ebenso mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es zu weit über zehn einzelnen Misshandlungen gekommen ist. Welche sonstigen deliktsspezifischen Erfordernisse einer fortgesetzten Gewaltausübung die Behörde als nicht erfüllt sah, ist dem Bescheid nicht zu entnehmen und für das Bundesverwaltungsgericht auch nicht nachvollziehbar. Dass die Misshandlungen in ihrer Gesamtheit geeignet waren, eine schwerwiegende Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit des Beschwerdeführers zu bewirken, ergibt sich insbesondere aus den Ausführungen zu den Folgen der Gewalt im psychiatrischen Gutachten und dem starken Abhängigkeitsverhältnis eines unmündigen Kindes zu seinem Vater.

Das Bundesverwaltungsgericht ist aus diesen Gründen der Ansicht, dass mit Wahrscheinlichkeit vom Vorliegen strafbarer Handlungen, konkret von mehreren zumindest versuchten Körperverletzungen nach §§ 15, 83 Abs. 1 StGB und einer fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs. 1 StGB, zulasten des Beschwerdeführers auszugehen ist. Betreffend den vom Beschwerdeführer ebenfalls erhobenen Vorwurf des sexuellen Missbrauchs durch seinen Vater ist der Argumentation der belangten Behörde, dass im Ermittlungsverfahren keine Umstände hervorgekommen sind, die dieses Vorbringen ausreichend wahrscheinlich erscheinen lassen, hingegen zuzustimmen.

Infolge der unrichtigen Annahme der belangten Behörde, dass schon nicht mit Wahrscheinlichkeit vom Vorliegen einer rechtswidrigen und vorsätzlichen Handlung iSd § 1 Abs. 1 VOG auszugehen sei, hat diese zu den beim Beschwerdeführer vorliegenden Gesundheitsschädigungen, der Einschränkung seiner Arbeitsfähigkeit und der Frage eines Kausalzusammenhangs mit den strafbaren Handlungen keine eigenen Ermittlungen angestellt und insbesondere auch kein ärztliches Sachverständigengutachten eingeholt. Der angefochtene Bescheid setzt sich mit diesen Fragen in keiner Weise auseinander.

Die rechtliche Beurteilung, ob ein Kausalzusammenhang mit der für das VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit zwischen den Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit und den erlittenen Misshandlungen besteht, ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auf der Basis von Feststellungen, denen ein ärztliches Sachverständigengutachten zugrunde zu legen ist, zu treffen (vgl. etwa VwGH 26.04.2018, Ra 2018/11/0072, VwGH 06.03.2008, 2006/09/0043, oder VwGH 27.04.2015, Ra 2015/11/0004, jeweils mwN).

Aufgrund der Aktenlage scheint ein solcher Kausalzusammenhang keineswegs von vornherein ausgeschlossen. Insbesondere ist dem im Strafverfahren eingeholten psychiatrischen Sachverständigengutachten vom 15.09.2016 zu entnehmen, dass beim Beschwerdeführer eine Anpassungsstörung bei kombinierter Persönlichkeitsstörung (mit emotional instabilen, ängstlich-vermeidenden und abhängigen Anteilen) vorlag, die auf Basis einer Persönlichkeitsentwicklungsstörung entstanden ist. Die (in diesem Strafverfahren) geschilderten Tathandlungen wären auch prinzipiell dazu angetan, das beim Beschwerdeführer vorliegende psychiatrische Störungsbild auszulösen (vgl. AS 82b, 83).

Auf Grundlage des bisher ermittelten Sachverhalts lässt sich ein Kausalzusammenhang mit den strafbaren Handlungen schon deshalb nicht nachvollziehbar verneinen, weil nicht feststeht, an welchen Gesundheitsschädigungen der Beschwerdeführer aktuell überhaupt leidet bzw. zum Antragszeitpunkt litt.

Unter diesen Gesichtspunkten leidet der angefochtene Bescheid unter erheblichen Ermittlungsmängeln und erweist sich für das Bundesverwaltungsgericht der vorliegende Sachverhalt als so mangelhaft, dass weitere notwendige Ermittlungen diesbezüglich unerlässlich erscheinen.

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde durch Einholung eines neuen, auf einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers und den vorliegenden medizinischen Unterlagen beruhenden Sachverständigengutachtens aus dem Fachgebiet der Psychiatrie zu klären haben, welche (psychischen) Gesundheitsschädigungen beim Beschwerdeführer konkret vorliegen. Dem Gutachtensauftrag werden die rechtlichen Beurteilungen des gegenständlichen Beschlusses zur Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der vorgebrachten Straftaten zugrunde zu legen sein.

In einem nächsten Schritt wird mit einer nachvollziehbaren Begründung zu beurteilen sein, welche dieser (psychischen) Gesundheitsschädigungen mit Wahrscheinlichkeit im Sinne des VOG durch die am Beschwerdeführer begangenen strafbaren Handlungen bedingt sind. Falls solche Zusammenhänge aus fachmedizinischer Sicht nicht vorliegen sollten, ist eine nachvollziehbare Begründung hierfür zu erstatten.

Sollte die belangte Behörde zu dem Ergebnis gelangen, dass verbrechenskausale Gesundheitsschädigungen gegeben sind, wird zu klären sein, ob und in welcher Höhe der Beschwerdeführer dadurch einen Verdienstentgang erlitten hat, einer psychotherapeutischen Krankenbehandlung/Heilfürsorge bedarf und/oder einen Anspruch auf Pauschalentschädigung für Schmerzengeld, gegebenenfalls in welcher Höhe, hat.

Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird der Beschwerdeführer jeweils mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht liegt im Lichte obiger rechtlicher Ausführungen und unter Berücksichtigung der bereits genannten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht im Sinne des Gesetzes. Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht „im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden“ wäre, ist – angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes – auch nicht ersichtlich.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall des Beschwerdeführers noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückzuverweisen.

Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung:

Aufgrund der Behebung des angefochtenen Bescheides konnte eine Verhandlung gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG entfallen.

ZU B) UNZULÄSSIGKEIT DER REVISION

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Ermittlungspflicht Gewalttätigkeit Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten Straftat vorsätzliche Begehung Wahrscheinlichkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W265.2244973.1.00

Im RIS seit

15.12.2021

Zuletzt aktualisiert am

15.12.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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