TE Vfgh Erkenntnis 2021/10/5 E2254/2021

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Veröffentlicht am 05.10.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

PersFrSchG Art1
FremdenpolizeiG 2005 §22a, §76, §80
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht Freiheit und Sicherheit durch Fortsetzung der Schubhaft betreffend einen Staatsangehörigen von Nigeria; Unterlassung der Prüfung der Gesamtdauer der bisherigen Anhaltungen im Hinblick auf die Zusammenrechnung der Zeiten sowie die Höchstdauer der Schubhaft

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer stellte am 24. November 2004 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid vom 15. Dezember 2005 negativ entschieden wurde. Die dagegen erhobene Berufung wurde mit Bescheid vom 17. April 2008 abgewiesen.

2. Mit Bescheid vom 28. April 2017 wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen, die Zulässigkeit der Abschiebung nach Nigeria festgestellt, ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen und einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 10. Juli 2017 als unbegründet ab.

3. Mit Bescheid vom 31. März 2021 wurde über den Beschwerdeführer – zum dritten Mal – die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung verhängt.

4. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 21. Mai 2021 als unbegründet ab, stellte fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen würden, verpflichtete den Beschwerdeführer dem Bund Aufwendungen idHv € 426,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen und wies den Antrag des Beschwerdeführers auf Kostenersatz ab.

4.1. Zu den Schubhaftverfahren führte das Bundesverwaltungsgericht auf das Wesentliche zusammengefasst Folgendes aus:

4.2. Am 21. April 2017 sei über den Beschwerdeführer eine erste Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot sowie zur Sicherung der Abschiebung verhängt worden. Durch das Verschlucken eines Gegenstandes habe sich der Beschwerdeführer unmittelbar vor der geplanten Abschiebung aus der Schubhaft freigepresst.

4.3. Am 10. Mai 2018 sei über den Beschwerdeführer die zweite Schubhaft verhängt worden. Am 12. September 2018 sei er jedoch aus der Schubhaft entlassen worden, da die Ausstellung eines Heimreisezertifikates nicht möglich gewesen sei. Es sei eine Wohnsitzauflage erteilt worden, die der Beschwerdeführer nicht eingehalten habe.

4.4. Im Anschluss an das Parteiengehör sei über den Beschwerdeführer mit Bescheid vom 31. März 2021 die Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung verhängt worden. Der Beschwerdeführer sei am 9. April 2021 bedingt aus der Strafhaft entlassen und direkt bis zum 15. April 2021 in Verwaltungsstrafhaft und sodann in die gegenständliche Schubhaft überführt worden.

4.5. Gegen den Beschwerdeführer liege eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme vor. Ein Heimreisezertifikat für den Beschwerdeführer liege noch nicht vor. Die rechtzeitige Ausstellung sei jedoch seitens der Botschaft zugesagt worden. Eine Abschiebung sei für den 26. Mai 2021 geplant.

4.6. Die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Schubhaft würden vorliegen, das Gericht gehe vom Bestehen eines erheblichen Sicherungsbedarfes hinsichtlich der Person des Beschwerdeführers aus. Zudem sei die Schubhaft verhältnismäßig. Die Bemühungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, den Beschwerdeführer tatsächlich zur Ausreise zu bringen, seien im Verfahren deutlich hervorgekommen. Es sei dem Beschwerdeführer nicht zuletzt auch wegen der bisher als kurz zu bezeichnenden Schubhaft (ein Monat) zuzumuten, die Zeit bis zur Ausreise, die für den 26. Mai 2021 vorgesehen sei, in Schubhaft zu verbringen. Das Gericht schließe zwar nicht aus, dass es auf Grund der immer noch andauernden Pandemie in den kommenden Wochen unter Umständen zu Verzögerungen bei Abschiebungen kommen könnte. Die realistische Möglichkeit einer Überstellung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat (innerhalb der gesetzlich normierten Zeitspanne für die Anhaltung in Schubhaft) bestehe jedoch aus aktueller Sicht weiterhin. Die Anordnung eines gelinderen Mittels führe zu keiner ausreichenden Sicherung der Durchführbarkeit einer konkreter werdenden Abschiebung.

5. Gegen diese Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II. Rechtslage

§§76 und 80 des Bundesgesetzes über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 56/2018 lauten:

"

8. Abschnitt

Schubhaft und gelinderes Mittel

Schubhaft

§76. (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern der Zweck der Schubhaft nicht durch ein gelinderes Mittel (§77) erreicht werden kann. Unmündige Minderjährige dürfen nicht in Schubhaft angehalten werden.

(2) Die Schubhaft darf nur angeordnet werden, wenn

       1. dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß §67 gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist,

       2. dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nach dem 8. Hauptstück oder der Abschiebung notwendig ist, sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist, oder

       3. die Voraussetzungen des Art28 Abs1 und 2 Dublin-Verordnung vorliegen.

Bedarf es der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme deshalb nicht, weil bereits eine aufrechte rechtskräftige Rückkehrentscheidung vorliegt (§59 Abs5), so steht dies der Anwendung der Z1 nicht entgegen. In den Fällen des §40 Abs5 BFA-VG gilt Z1 mit der Maßgabe, dass die Anordnung der Schubhaft eine vom Aufenthalt des Fremden ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht voraussetzt.

(2a) Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (Abs2 und Art28 Abs1 und 2 Dublin-Verordnung) ist auch ein allfälliges strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen, insbesondere ob unter Berücksichtigung der Schwere der Straftaten das öffentliche Interesse an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung den Schutz der persönlichen Freiheit des Fremden überwiegt.

(3) Eine Fluchtgefahr im Sinne des Abs2 Z1 oder 2 oder im Sinne des Art2 litn Dublin-Verordnung liegt vor, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen wird oder dass der Fremde die Abschiebung wesentlich erschweren wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen,

       1. ob der Fremde an dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme mitwirkt oder die Rückkehr oder Abschiebung umgeht oder behindert;

       1a. ob der Fremde eine Verpflichtung gemäß §46 Abs2 oder 2a verletzt hat, insbesondere, wenn ihm diese Verpflichtung mit Bescheid gemäß §46 Abs2b auferlegt worden ist, er diesem Bescheid nicht Folge geleistet hat und deshalb gegen ihn Zwangsstrafen (§3 Abs3 BFA-VG) angeordnet worden sind;

       2. ob der Fremde entgegen einem aufrechten Einreiseverbot, einem aufrechten Aufenthaltsverbot oder während einer aufrechten Anordnung zur Außerlandesbringung neuerlich in das Bundesgebiet eingereist ist;

       3. ob eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme besteht oder der Fremde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder über einen Antrag auf internationalen Schutz bereits entzogen hat;

       4. ob der faktische Abschiebeschutz bei einem Folgeantrag (§2 Abs1 Z23 AsylG 2005) aufgehoben wurde oder dieser dem Fremden nicht zukommt;

       5. ob gegen den Fremden zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme bestand, insbesondere, wenn er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Schubhaft befand oder aufgrund §34 Abs3 Z1 bis 3 BFA-VG angehalten wurde;

       6. ob aufgrund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung oder der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass ein anderer Mitgliedstaat nach der Dublin-Verordnung zuständig ist, insbesondere sofern

         a. der Fremde bereits mehrere Anträge auf internationalen Schutz in den Mitgliedstaaten gestellt hat oder der Fremde falsche Angaben hierüber gemacht hat,

         b. der Fremde versucht hat, in einen dritten Mitgliedstaat weiterzureisen, oder

         c. es aufgrund der Ergebnisse der Befragung, der Durchsuchung, der erkennungsdienstlichen Behandlung oder des bisherigen Verhaltens des Fremden wahrscheinlich ist, dass der Fremde die Weiterreise in einen dritten Mitgliedstaat beabsichtigt;

       7. ob der Fremde seiner Verpflichtung aus dem gelinderen Mittel nicht nachkommt;

       8. ob Auflagen, Mitwirkungspflichten, Gebietsbeschränkungen, Meldeverpflichtungen oder Anordnungen der Unterkunftnahme gemäß §§52a, 56, 57 oder 71 FPG, §38b SPG, §13 Abs2 BFA-VG oder §§15a oder 15b AsylG 2005 verletzt wurden, insbesondere bei Vorliegen einer aktuell oder zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutzes durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme;

       9. der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes.

(4) Die Schubhaft ist schriftlich mit Bescheid anzuordnen; dieser ist gemäß §57 AVG zu erlassen, es sei denn, der Fremde befände sich bei Einleitung des Verfahrens zu seiner Erlassung aus anderem Grund nicht bloß kurzfristig in Haft. Nicht vollstreckte Schubhaftbescheide gemäß §57 AVG gelten 14 Tage nach ihrer Erlassung als widerrufen.

(5) Wird eine aufenthaltsbeendende Maßnahme (Z1 oder 2) durchsetzbar und erscheint die Überwachung der Ausreise des Fremden notwendig, so gilt die zur Sicherung des Verfahrens angeordnete Schubhaft ab diesem Zeitpunkt als zur Sicherung der Abschiebung verhängt.

(6) Stellt ein Fremder während einer Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz, so kann diese aufrechterhalten werden, wenn Gründe zur Annahme bestehen, dass der Antrag zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt wurde. Das Vorliegen der Voraussetzungen ist mit Aktenvermerk festzuhalten; dieser ist dem Fremden zur Kenntnis zu bringen. §11 Abs8 und §12 Abs1 BFA-VG gelten sinngemäß.

Dauer der Schubhaft

§80. (1) Das Bundesamt ist verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Schubhaft so kurz wie möglich dauert. Die Schubhaft darf so lange aufrechterhalten werden, bis der Grund für ihre Anordnung weggefallen ist oder ihr Ziel nicht mehr erreicht werden kann.

(2) Die Schubhaftdauer darf, vorbehaltlich des Abs5 und der Dublin-Verordnung, grundsätzlich

       1. drei Monate nicht überschreiten, wenn die Schubhaft gegen einen mündigen Minderjährigen angeordnet wird;

       2. sechs Monate nicht überschreiten, wenn die Schubhaft gegen einen Fremden, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, angeordnet wird und kein Fall der Abs3 und 4 vorliegt.

(3) Darf ein Fremder deshalb nicht abgeschoben werden, weil über einen Antrag gemäß §51 noch nicht rechtskräftig entschieden ist, kann die Schubhaft bis zum Ablauf der vierten Woche nach rechtskräftiger Entscheidung, insgesamt jedoch nicht länger als sechs Monate aufrecht erhalten werden.

(4) Kann ein Fremder deshalb nicht abgeschoben werden, weil

       1. die Feststellung seiner Identität und der Staatsangehörigkeit, insbesondere zum Zweck der Erlangung eines Ersatzreisedokumentes, nicht möglich ist,

       2. eine für die Ein- oder Durchreise erforderliche Bewilligung eines anderen Staates nicht vorliegt,

       3. der Fremde die Abschiebung dadurch vereitelt, dass er sich der Zwangsgewalt (§13) widersetzt, oder

       4. die Abschiebung dadurch, dass der Fremde sich bereits einmal dem Verfahren entzogen oder ein Abschiebungshindernis auf sonstige Weise zu vertreten hat, gefährdet erscheint,

kann die Schubhaft wegen desselben Sachverhalts abweichend von Abs2 Z2 und Abs3 höchstens 18 Monate aufrechterhalten werden.

(5) Abweichend von Abs2 und vorbehaltlich der Dublin-Verordnung darf die Schubhaft, sofern sie gegen einen Asylwerber oder einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, angeordnet wurde, bis zum Zeitpunkt des Eintritts der Durchsetzbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme die Dauer von 10 Monaten nicht überschreiten. Wird die Schubhaft über diesen Zeitpunkt hinaus aufrechterhalten oder nach diesem Zeitpunkt neuerlich angeordnet, ist die Dauer der bis dahin vollzogenen Schubhaft auf die Dauer gemäß Abs2 oder 4 anzurechnen.

(5a) In den Fällen des §76 Abs2 letzter Satz ist auf die Schubhaftdauer gemäß Abs5 auch die Dauer der auf den Festnahmeauftrag gestützten Anhaltung anzurechnen, soweit sie nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz gemäß §40 Abs5 BFA-VG aufrechterhalten wurde. Die Anrechnung gemäß Abs5 letzter Satz bleibt davon unberührt.

(6) Das Bundesamt hat von Amts wegen die Verhältnismäßigkeit der Anhaltung in Schubhaft längstens alle vier Wochen zu überprüfen. Ist eine Beschwerde gemäß §22a Abs1 Z3 BFA-VG anhängig, hat diesfalls die amtswegige Überprüfung zu entfallen.

(7) Das Bundesamt hat einen Fremden, der ausschließlich aus den Gründen des Abs3 oder 4 in Schubhaft anzuhalten ist, hievon unverzüglich schriftlich in Kenntnis zu setzen."

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes, mit dem darüber entschieden wird, ob eine Festnahme oder Anhaltung einer Person rechtmäßig war oder ist, verletzt das durch Art1 ff. des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit (im Folgenden: PersFrSchG) und durch Art5 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit), wenn es gegen die verfassungsgesetzlich festgelegten Erfordernisse der Festnahme bzw Anhaltung verstößt, wenn es in Anwendung eines verfassungswidrigen, insbesondere den genannten Verfassungsvorschriften widersprechenden Gesetzes erlassen wurde oder wenn es gesetzlos oder in denkunmöglicher Anwendung einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Rechtsgrundlage ergangen ist; ein Fall, der nur dann vorläge, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre (VfSlg 13.708/1994, 15.131/1998, 15.684/1999 und 16.384/2001).

3. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses einen so schweren Fehler begangen, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist:

3.1. Gemäß §80 Abs2 Z2 FPG darf die Schubhaft (vorbehaltlich des Abs5 und der Dublin-Verordnung) gegen volljährige Fremde – außer in den Fällen des Abs3 und 4 leg cit – insgesamt nicht länger als sechs Monate dauern. Liegen die Voraussetzungen des §80 Abs4 FPG vor, kann die Schubhaft auch über die Dauer von sechs Monaten hinaus ausgedehnt, jedoch insgesamt nicht länger als 18 Monate aufrechterhalten werden. §80 Abs4 FPG normiert demnach eine Ausnahme von der höchstzulässigen Dauer der Schubhaft gemäß §80 Abs2 FPG (vgl Erläut RV 1523 BlgNR 25. GP, 35 f. und 4). Die – bis zum Eintritt der Durchsetzbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme – bereits vollzogene Schubhaft ist "zur Gänze auf die Höchstdauer" nach Abs2 oder 4 leg cit anzurechnen (§80 Abs5 letzter Satz FPG; Erläut RV 1523 BlgNR 25. GP, 37).

3.2. Das Bundesverwaltungsgericht führt zunächst im Rahmen der Wiedergabe des Verfahrensganges ua aus, dass am 21. April 2017 über den Beschwerdeführer eine erste Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot sowie zur Sicherung der Abschiebung verhängt worden sei. Der Beschwerdeführer habe sich unmittelbar vor der geplanten Abschiebung aus der Schubhaft freigepresst. Am 10. Mai 2018 sei über den Beschwerdeführer die zweite Schubhaft verhängt worden; er sei jedoch am 12. September 2018 wieder entlassen worden. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom 31. März 2021 sei die Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung verhängt worden. Der Beschwerdeführer sei am 9. April 2021 aus der Strafhaft bedingt entlassen und direkt bis zum 15. April 2021 in Verwaltungsstrafhaft und sodann in die gegenständliche Schubhaft überführt worden. Es sei dem Beschwerdeführer zuzumuten, nicht zuletzt auch wegen der bisher als kurz zu bezeichnenden Schubhaft (ein Monat), die Zeit bis zur Ausreise, die für den 26. Mai 2021 vorgesehen sei, in Schubhaft zuzubringen.

3.3. Auch ein an sich erforderlicher, geeigneter und zunächst angemessener Freiheitsentzug kann unverhältnismäßig werden, wenn er eine bestimmte – entweder gesetzlich fixierte oder nach den Umständen zu konkretisierende – Höchstdauer überschreitet (Kopetzki, Art1 PersFrG, in: Korinek/Holoubek et al [Hrsg.], Bundesverfassungsrecht, 5. Lfg. 2002, Rz 68; VfSlg 13.988/1991, 14.730/1997, 15.131/1998; VfGH 7.10.2020, G164/2020 ua).

3.4. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Prüfung der (Höchst-)Dauer der Anhaltung in Schubhaft unterlassen: Hiebei hat es das Bundesverwaltungsgericht zunächst unterlassen, festzustellen, wie lange der Beschwerdeführer jeweils in Schubhaft angehalten wurde. Hinsichtlich der ersten Anhaltung stellt es lediglich fest, dass am 21. April 2017 über den Beschwerdeführer eine erste Schubhaft verhängt worden sei, sich der Beschwerdeführer aber freigepresst habe.

3.5. Zudem hat das Bundesverwaltungsgericht verabsäumt zu prüfen, ob der Beschwerdeführer bereits mehr als sechs Monate in Schubhaft angehalten wurde. Im Falle einer Überschreitung der in §80 Abs2 FPG gesetzlich festgelegten Höchstdauer für die Anhaltung in Schubhaft ist eine Ausdehnung nur in den genannten Ausnahmefällen gemäß §80 Abs4 FPG zulässig, wobei hiebei die bereits vollzogene Schubhaft gemäß §80 Abs5 letzter Satz FPG anzurechnen ist. Die dem Akteninhalt zu entnehmenden und somit dem Bundesverwaltungsgericht bekannten früheren Anhaltungen wären daher entsprechend festzustellen und anzurechnen gewesen (vgl VfSlg 14.730/1997, 15.131/1998; vgl auch VwGH 19.11.2020, Ro 2020/21/0015). Diese Umstände hat das Bundesverwaltungsgericht jedoch nicht berücksichtigt und ist bis zur geplanten Abschiebung von einer Schubhaftdauer von einem Monat, die dem Beschwerdeführer zuzumuten sei, ausgegangen. Die Zulässigkeit der weiteren Anhaltung wäre allerdings unter Berücksichtigung des §80 Abs4 bzw Abs5 letzter Satz FPG zu prüfen gewesen.

4. Indem das Bundesverwaltungsgericht keine entsprechenden Feststellungen getroffen hat und bei der Prüfung die höchstzulässige Dauer der Schubhaft nach §80 Abs2 bzw 4 FPG sowie die Zusammenrechnung der Schubhaftzeiten nach §80 Abs5 letzter Satz FPG außer Acht gelassen hat (vgl auch VwGH 19.11.2020, Ro 2020/21/0015), hat es dem FPG einen verfassungswidrigen, nämlich Art1 Abs3 PersFrSchG widersprechenden Inhalt unterstellt (vgl VfSlg 13.988/1994, 14.730/1997, 15.131/1998) und den Beschwerdeführer in seinem Recht auf persönliche Freiheit verletzt.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher schon aus diesem Grund aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Schubhaft, Freiheit persönliche, Verhältnismäßigkeit, Fristen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E2254.2021

Zuletzt aktualisiert am

15.12.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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