TE OGH 2021/10/22 8ObA69/21m

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Veröffentlicht am 22.10.2021
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Korn als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Bernhard Gruber (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Josef Putz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Z*****, vertreten durch Dr. Regina Schedlberger, Rechtsanwältin in Graz, gegen die beklagte Partei K*****, vertreten durch Dr. Andreas A. Lintl, Rechtsanwalt in Wien, wegen 50.299,61 EUR sA und Feststellung, über die außerordentlichen Revisionen beider Parteien gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. Juni 2021, GZ 8 Ra 15/21s-204 (212), den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentlichen Revisionen werden gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Text

Begründung:

[1]            Kläger und Beklagter waren als Arbeitnehmer auf einer Baustelle beschäftigt. Am 1. 12. 2011 wurde der Kläger durch herabfallende Drahtbündel, die von einem vom Beklagten bedienten Ladekran gehoben und ungenügend befestigt worden waren, schwer verletzt.

[2]            Der Kläger begehrte im Verfahren Schmerzengeld, Pflegekosten, pauschale Unkosten sowie (ausgedehnt) Verunstaltungsentschädigung und Verdienstentgang. Er brachte vor, der Beklagte trage wegen unfachgemäßer Sicherung der Ladung das Alleinverschulden an dem Unfall.

[3]            Der Beklagte wandte Alleinverschulden des Klägers ein und berief sich auf das Haftungsprivileg gemäß § 333 ASVG.

[4]            Im ersten Rechtsgang wies das Erstgericht das Klagebegehren ab. Nach Aufhebung dieser Entscheidung durch das Berufungsgericht sprach das Erstgericht im zweiten Rechtsgang dem Kläger, ausgehend von einem gleichteiligen Mitverschulden der Streitteile, mit Teilurteil Schmerzengeld und Pflegekosten zu.

[5]            Das Berufungsgericht gab den von beiden Parteien erhobenen Berufungen auch im zweiten Rechtsgang Folge. Es sprach dem Kläger die Pflegekosten zu, im Übrigen hob es das Teilurteil des Erstgerichts neuerlich ohne Rechtskraftvorbehalt auf. Das Berufungsgericht ging bei dieser Entscheidung dem Grunde nach vom alleinigen Verschulden des Beklagten und vom Fehlen einer Aufsehereigenschaft im Sinn des § 333 Abs 4 ASVG aus. Dieses Teilurteil des Berufungsgerichts blieb unbekämpft.

[6]            Im dritten Rechtsgang sprach das Erstgericht dem Kläger mit Endurteil 46.339,41 EUR zu, davon 40.000 EUR Schmerzengeld und den mit Klagsausdehnung geltend gemachten Verdienstentgang, außerdem traf es die begehrte Feststellung. Die im dritten Rechtsang erhobene Forderung einer Verunstaltungsentschädigung in Höhe von 4.000 EUR wurde in der Entscheidungsbegründung zwar zitiert, aber in der Folge übergangen. Das Erstgericht wies allerdings ein nicht näher deklariertes Mehrbegehren von 3.960 EUR ohne Begründung ab.

[7]            Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten teilweise Folge. Es änderte die Entscheidung mit Teilurteil dahin ab, dass es das Schmerzengeld mit 40.000 EUR bemaß und unter Berücksichtigung einer geleisteten Teilzahlung dem Kläger unter diesem Titel 32.500 EUR zuerkannte, außerdem bestätigte es den Zuspruch der pauschalen Spesen und des Feststellungsbegehrens. In Ansehung des zuerkannten Verdienstentgangs hob es das Urteil des Erstgerichts zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.

[8]            Gegen das Teilurteil richten sich die mangels Zulassung außerordentlichen Revisionen des Klägers und des Beklagten.

[9]            Der Kläger begehrt in seiner Rechtsmittelerklärung (rechnerisch im Widerspruch zum Vorbringen) primär die Abänderung der Entscheidung durch Zuerkennung weiterer 7.500 EUR samt Anhang. Der Beklagte strebt eine vollständige Klagsabweisung an.

[10]           Beide Revisionen sind jeweils mangels einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

1. Zur Revision des Klägers:

Rechtliche Beurteilung

[11]           1.1. Bei der Bemessung des Schmerzengeldes ist regelmäßig auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen. Eine Einzelfallentscheidung ist für den Obersten Gerichtshof nur dann überprüfbar, wenn im Interesse der Rechtssicherheit ein grober Fehler bei der Auslegung der anzuwendenden Rechtsnorm korrigiert werden müsste. Bewegt sich das Berufungsgericht im Rahmen der Grundsätze einer ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs und trifft es seine Entscheidung ohne krasse Fehlbeurteilung aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls, so liegt eine erhebliche Rechtsfrage nicht vor (RIS-Justiz RS0044088 [T8, T9]). Im Fall des Schmerzengeldes wäre nur bei eklatanter Fehlbemessung, die völlig aus dem Rahmen der ständigen oberstgerichtlichen Rechtsprechung fällt, zur Vermeidung gravierender Ungleichbehandlungen durch die Rechtsprechung und damit letztlich aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit eine Revision ausnahmsweise zulässig (RS0031075 [T7]; RS0022442 [T10]).

[12]           Solche besonderen Umstände zeigt die Revision nicht auf. Die Entscheidung des Berufungsgerichts bewegt sich innerhalb der Grenzen des ihm bei der Schmerzengeldbemessung offenstehenden weiten Spielraums (RS0022442 [T4]; vgl auch 2 Ob 59/17s).

[13]           1.2. Soweit sich der Kläger gegen die Abweisung seines auf Verunstaltungsentschädigung gerichteten Begehrens wendet, übersieht er, dass er im dritten Rechtsgang gegen die Entscheidung des Erstgerichts keine Berufung erhoben hat.

[14]           Es kann also dahingestellt bleiben, ob das Erstgericht den als Verunstaltungsentschädigung geltend gemachten Betrag irrtümlich übersehen oder den Anspruch materiell für unbegründet gehalten hat. In jedem Fall ist die Abweisung des Betrags von 3.960 EUR samt Anhang mangels Anfechtung in Rechtskraft erwachsen und der Anspruch aus dem Verfahren ausgeschieden.

2. Revision des Beklagten:

[15]           Der Beklagte wendet sich mit seinen Ausführungen gegen die rechtliche Beurteilung, dass ihm das Dienstgeberhaftungsprivileg nach § 333 ASVG nicht zukomme. Das Berufungsgericht sei irrig davon ausgegangen, auch selbst an die im Aufhebungsbeschluss des zweiten Rechtsgangs dem Erstgericht gemäß § 499 Abs 2 ZPO überbundene Rechtsansicht zur Haftung des Beklagten dem Grunde nach gebunden zu sein.

[16]           2.1. Soweit das Berufungsgericht die bekämpfte Rechtsansicht seinem Teilurteil über das auf Pflegekostenersatz gerichtete Begehren zugrunde gelegt hat, ist dieses mangels Anfechtung in Rechtskraft erwachsen.

[17]           Im Übrigen entfalten die in einem Teilurteil getroffenen Tatsachenfeststellungen oder ausgesprochenen Rechtsansichten für sich allein, mögen sie auch für das Teilurteil maßgeblich sein, keine für das weitere Verfahren bindenden Wirkungen (RS0040956). Die Bindungswirkung des Teilurteils ist wie die eines Endurteils in einem gesondert geführten Vorverfahren zu beurteilen (7 Ob 132/18i; 10 Ob 33/15y mwN). Die Mitverschuldensquote ist als bloße Vorfrage eines Leistungsbegehrens nicht von der Bindungswirkung eines rechtskräftigen (Teil-)urteils umfasst (RS0040742 [T10]). Der Umstand, dass sich der Beklagte im zweiten Rechtsgang mit der teilweisen Zuerkennung des Schadenersatzanspruchs dem Grunde nach und ohne Anrechnung eines Mitverschuldens des Klägers zufrieden gegeben hat, hindert die Überprüfbarkeit dieser Rechtsansicht im Revisionsverfahren über die weiteren geltend gemachten Ansprüche nicht.

[18]            2.2. Die Beurteilung, ob eine bestimmte Person bei einem konkreten Arbeitseinsatz als Aufseher im Betrieb im Sinn des § 333 Abs 4 ASVG anzusehen ist, ist stets einzelfallbezogen vorzunehmen, sodass sich in diesem Zusammenhang – von einer auffallenden Fehlbeurteilung durch die zweite Instanz abgesehen – keine erheblichen Rechtsfragen stellen (RS0085519 [T13]).

[19]           Die Qualifikation als Aufseher erfordert einen gewissen Pflichtenkreis und eine mit Selbständigkeit verbundene Stellung zur Zeit des Unfalls. Er muss die Verantwortung für ein Zusammenspiel persönlicher und technischer Kräfte tragen. Nicht entscheidend ist, ob die Aufsicht ganz unbeschränkt oder mit Unterordnung unter einem Vorgesetzten ausgeübt wird, auch muss es sich nicht um eine Dauerfunktion im Betrieb handeln (RS0085519; RS0088337; Neumayr/Huber in Schwimann, ABGB4 § 333 ASVG Rz 70 f). In der Situation, in der sich die Schädigung ereignet, muss sich die konkrete, vom Dienstgeber übertragene Verantwortung für die körperliche Sicherheit der Dienstnehmer von der allgemeinen Ingerenzpflicht jedes Dienstnehmers gegenüber Kollegen im Betrieb deutlich abheben.

[20]           Bei einer Zwei-Mann-Partie wurde dem entsprechend auch der Arbeitnehmer als Aufseher im Sinn des § 333 Abs 4 ASVG angesehen, der hinsichtlich einer bestimmten Arbeit entscheidungsbefugt ist (RS0085612). Im Zusammenhang mit dem Betrieb von Kraftfahrzeugen wurde beim Fahrzeuglenker dann die Aufsehereigenschaft bejaht, wenn er neben der Einhaltung der Straßenverkehrsvorschriften und der Fahrzeugbedienung oder -beladung auch noch weitere Pflichten und Befugnisse hat (RS0085491; RS0085576; Neumayr/Huber aaO).

[21]           Nach der älteren Rechtsprechung (vgl 4 Ob 99/63 Arb 7839) wurde derjenige, der einen Kran oder ein ähnliches Arbeitsgerät transportiert, aufstellt oder dessen Bedienung über hat, während der hiezu erforderlichen Arbeit als Aufseher im Bezug auf alle Personen gesehen, die zur Ausführung ihrer eigenen Tätigkeit das Arbeitsgerät benützen. Diese Rechtsprechung wurde in jüngerer Zeit dahin präzisiert, dass die allgemeine Verpflichtung, die körperliche Unversehrtheit Dritter nicht zu beeinträchtigen, nicht für die Aufsehereigenschaft genügt. So erfüllt die Aufgabe, andere Dienstnehmer vor den mit einer bestimmten Arbeit verbundenen Gefahren durch Abgabe von Signalen zu warnen und aus dem Gefahrenbereich zu verweisen, mangels besonderer Überwachungs- und Anordnungsbefugnis nicht das Kriterium des § 333 Abs 4 ASVG (9 ObA 210/89 RS0085309; 8 ObA 181/00a).

[22]           Der Beklagte hat als Kranführer ein von einem Dritten am Kranausleger eingehängtes Baudrahtrollenbündel an die vorgesehene Stelle geschwenkt. Dabei stürzte die Rolle wegen unzureichender Befestigung ab und verletzte den Kläger, der sich ohne Auftrag aus eigenem Antrieb in die Nähe begeben hatte, um beim Abhängen der Drahtbündel zu helfen.

[23]           Die für den Standpunkt des Revisionswerbers zitierten Entscheidungen sind insofern nicht einschlägig, als sich die Kläger in diesen Verfahren als Einweiser oder Helfer der den Arbeitsvorgang bestimmenden Leitung des Kranführers unterstellten (2 Ob 24/86), sich in einen fremden Betrieb einordneten (8 Ob 76/80 = RS0021534) oder den Kranführer bei seiner Tätigkeit auftragsgemäß unterstützen sollten (9 ObA 242/92). Dies trifft auf die hier klagende Partei nach den Feststellungen nicht zu. Die Beurteilung der Vorinstanzen, dass dem Beklagten bei diesem Vorgang keine Aufseherfunktion im Sinn des § 333 Abs 4 ASVG gegenüber dem Kläger zukam, stellt nach den dargestellten Grundsätzen keine aufzugreifende Fehlbeurteilung dar.

[24]           2.3. Die Beurteilung, ob dem bei einem Unfall Verletzten wegen Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten ein Mitverschulden anzurechnen ist (RS0022681), kann ebenfalls nur nach den Umständen des Einzelfalls erfolgen (RS0087606 [T11]; RS0022681 [T20]).

[25]           Die Revision zeigt auch in diesem Punkt keine eine erhebliche Rechtsfrage aufwerfende Fehlbeurteilung auf. Fest steht, dass der Kläger nicht direkt vom herabfallenden Drahtrollenbündel getroffen und verletzt wurde, sondern von Teilen, die sich erst beim Aufprall gelöst hatten. Aus diesem Sachverhalt lässt sich nicht ableiten, dass er sich in einen verbotenen oder wenigstens im vorhinein als gefährlich erkennbaren Bereich begeben hatte.

Textnummer

E133269

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:008OBA00069.21M.1022.000

Im RIS seit

15.12.2021

Zuletzt aktualisiert am

15.12.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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