TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/1 W178 2165317-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.09.2021
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Entscheidungsdatum

01.09.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
VwGVG §28

Spruch


W178 2165317-1/40E

Schriftliche Ausfertigung des am 15.07.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr.in Maria PARZER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , StA. AFGHANISTAN, vertreten durch die BBU, Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des BFA RD Salzburg Außenstelle Salzburg (BFA-S-ASt Salzburg) vom 29.06.2017, Zl. 1079317205-150916865, nach Durchführung `von mündlichen Verhandlungen am 30.10.2019 und 15.07.2021 zu Recht erkannt:

A)

I.       Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

III.    Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt III. 1. Absatz als unbegründet abgewiesen.

IV.      Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. 2. Absatz des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 10 AsylG 2005, § 52 FPG 2005 iVm § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

V.       Gemäß § 54 Abs 1 Z 1 iVm §§ 58 Abs 2 und 55 AsylG 2005 wird Herrn XXXX der befristete Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" in der Dauer von zwölf Monaten ab Rechtskraft dieses Erkenntnisses erteilt.

VI.       Die Spruchpunkte III. 3. Absatz und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: Bf) ist nach Umgehung der Grenzkontrollen ins Bundesgebiet eingereist. Er stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab er an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sei, aus der Provinz Parwan stamme, der Volksgruppe der Hazara angehöre, mit schiitischem Religionsbekenntnis.

2. Der Bf wurde am 27.06.2017 beim BFA einvernommen und gab dort an, dass er aus der Provinz Parwan, XXXX stamme.

3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 29.06.2017 wurde dem Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten keine Folge gegeben (Pkt. I) und der Antrag wurde hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Pkt. II). In Punkt III, 1. Absatz, des angefochtenen Bescheids wurde ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 Asylgesetz i.V.m. § 9 BFA-VG gegen den Bf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen (Pkt. III, 2. Absatz). Es wurde weiters in Punkt III, 3. Absatz, festgestellt, dass gemäß § 52 Abs. 9 FPG die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Unter Punkt IV wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen festgesetzt (§ 55 Abs. 1 bis 3 FPG).

4. Dagegen wurde Beschwerde eingebracht. Zur Begründung wurde angeführt, dass es dem BFA nicht gelungen sei, die Glaubwürdigkeit des Bf und die Asylrelevanz der Fluchtgründe zu widerlegen. Allenfalls wäre dem Bf aufgrund der katastrophalen Sicherheitslage und der fehlenden Möglichkeit einer Fluchtalternative im Inland und der daraus entstehenden Gefahr einer existenzbedrohenden Lage im Falle der Rückkehr subsidiärer Schutz zu gewähren. Sowohl das Ermittlungsverfahrens als auch die Beweiswürdigung seien mangelhaft geblieben und die belangte Behörde habe sich mit der konkreten Situation des Bf und der Lage im Herkunftsland nicht auseinandergesetzt.

5. Am 18.09.2019 wurde die rechtsfreundliche Vertretung vom Gericht ersucht bekanntzugeben, ob sich der Beschwerdeführer in einem Ausbildungsverhältnis (schulisch, beruflich) befinde bzw. sonstige Unterlagen betreffend seinen Aufenthalt in Österreich vorzulegen.

6. Am 08.10.2019 wurde eine Teilnahmebestätigung des BFI am Lehrgang zur Vorbereitung auf den Pflichtschulabschluss, datiert mit 04.09.2019, beim BVwG eingebracht.

7. Am 30.10.2019 fand vor dem BVwG eine mündliche Verhandlung statt. Der Bf wurde einvernommen und gab an, unter psychischen Problemen – Schlafmangel, Angstzuständen und Selbstmordgedanken – zu leiden, weshalb ein psychologisches Gutachten in Auftrag gegeben und die Verhandlung auf unbestimmte Zeit vertagt wurde.

Es wurden ein Originaldokument über das vermeintliche Grundstück des BF im Heimatstaat sowie umfangreiche Unterlagen zu Fragen der Integration in Österreich vorgelegt. Dazu gehörten unter anderem eine Bestätigung des BFI, Bestätigungen „Lungauer_innen für Menschen“ und Rotes Kreuz, ein Empfehlungsschreiben, zwei Deutschkurszertifikate und 10 Fotografien, die den Bf bei Freizeitaktivitäten und ehrenamtlichen Tätigkeiten zeigen.

8. Da der Beschwerdeführer keinen Gutachter namhaft machen konnte, wurde Frau DDr.in Wörgötter, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, mit der Erstellung des psychiatrischen Gutachtens betraut. Dies erfolgte mit Beschluss vom 31.08.2020. Darüber hinaus wurde ihr ein Bericht des Klinikum Salzburg vom 18.11.2019, die Niederschrift vor dem BVwG vom 30.10.2019 samt Beilagen I und 1-12 und Fotos 1-10, die Niederschrift der Ersteinvernahme bei der Polizei am 23.07.2015 sowie die Niederschrift vor dem BFA am 27.06.2017 übermittelt.

9. Am 23.02.2021 wurde das Zeugnis des Bf über die bestandene Pflichtschulabschluss-Prüfung, datiert mit 16.12.2020, an das Gericht übermittelt.

10. Am 19.05.2021 wurde das Psychiatrisch/Neurologische Sachverständigengutachten, datiert mit 17.05.2021, an das Gericht übermittelt und in der Folge den Parteien die Möglichkeit geboten, dazu binnen angemessener Frist Stellung zu nehmen.

11. Am 09.06.2021 gab die belangte Behörde bekannt, keine Einwände gegen das übermittelte Gutachten und seine Konklusio zu haben.

12. Am 28.06.2021 gab die rechtsfreundliche Vertretung des Bf an, dass es laut dem Gutachten nicht auszuschließen sei, dass sich das psychische Leiden des Bf bei einer Rückkehr ins Heimatland verschlechtern würde. Es könne unter ungünstigen psychosozialen- bzw. Lebensumständen beispielweise eine psychotische Verdichtung auftreten und mit nicht bestimmbarer Wahrscheinlichkeit den Bf in Afghanistan, wo eine angemessene Behandlung eher nicht zu erwarten wäre, in eine ausweglose Lage bringen. Aufgrund seiner individuellen Situation – kein soziales oder familiäres Netzwerk, diagnostizierte Anpassungsstörung und nach wie vor sehr labiler Zustand – sowie der derzeitigen Gesundheits- und Versorgungslage käme eine Rückkehrentscheidung nach Afghanistan einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK gleich.

Der Bf habe sich aufgrund seiner Anpassungsstörung einer Psychotherapie unterziehen und über einen langen Zeitraum Medikamente einnehmen müssen. Es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass eine Rückkehr nach Afghanistan die Anpassungsstörung wieder auslösen würde. Weiters wurden auf die fehlenden Behandlungsmöglichkeiten, das Stigma, welches psychische Erkrankungen in Afghanistan mit sich bringen, und die Lage bezüglich Covid-19 laut Länderinformationsblatt, Stand 11.06.2021, verwiesen.

13. Am 05.07.2021 wurde von der rechtsfreundlichen Vertretung des Bf eine Einstellungszusage der Firma HUBER CLEAN für eine Vollzeittätigkeit als Reinigungskraft, datiert mit 28.06.2021, vorgelegt.

14. Am 15.07.2021 fand vor dem BVwG die Fortsetzung der mündlichen Verhandlung statt. Der Bf wurde abermals einvernommen und es wurden umfangreiche Unterlagen zu Fragen der Integration vorgelegt. Dazu gehörten unter anderem Bestätigungen über ehrenamtliche Tätigkeiten in der Marktgemeinde Tamsweg und seit Oktober 2019 beim Roten Kreuz in Salzburg. Das Erkenntnis wurde mündlich verkündet und dem Bf der befristete Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" erteilt.

15. Am 27.07.2021 hat die belangte Behörde einen Antrag auf schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses eingebracht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Zu den persönlichen Verhältnissen des Beschwerdeführers und zu seinem (Privat-)Leben in Österreich

Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Parwan geboren, dort hatte die Familie Grundstücke. Der BF stammt aus der Volksgruppe der Saadat. Seine Muttersprache ist Dari, er hat 5 Jahre Schulbildung.

Der Vater wurde getötet, als er ca. 6 Jahre alt war. Der Bf und seine Mutter sind nach dem Tod des Vaters zu einem Onkel mütterlicherseits nach Kabul gezogen und dann nach 5 Jahren in den Iran gegangen. Dort hat der Bf ca. 5 bis 6 Jahre gelebt und als Schneiderhelfer gearbeitet. Der Bf wurde ca. 2 Jahre vor seiner Ausreise nach Europa vom Iran nach Afghanistan abgeschoben.

Seine Mutter lebt derzeit bei einem Onkel mütterlicherseits im Iran. Der Bf hat regelmäßig Kontakt zu ihr.

Ein Onkel väterlicherseits und Cousins leben im Herkunftsort in Afghanistan, mit ihnen besteht eine Feindschaft wegen eines Grundstücksstreits. Der Bf wollte nach seiner Abschiebung aus dem Iran nach Afghanistan das Grundstück für sich reklamieren, wurde aber vom Onkel und den Cousins bedroht, sodass er das Vorhaben aufgab.

Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Er ist erwerbsfähig und derzeit körperlich gesund und in keiner Psychotherapie. Zu seinem psychischen Gesundheitszustand wurde ein Gutachten eingeholt:

Lt. Gutachten vom 17.05.2021 von DDr.in Wörgötter leidet er zusammengefasst an einer Anpassungsstörung (Angst und depressive Störung gemischt). Es handle sich um eine psychogene Reaktion mit Zuständen von subjektiver Bedrängnis, emotionaler Beeinträchtigung mit Symptomen von Angst und Depression. Eine medikamentöse Behandlung wäre zu empfehlen, ebenso eine Psychotherapie. Der Bf sei aufgrund seines psychischen Zustandes etwas eingeschränkt, eine relevante Einschränkung seiner Erwerbstätigkeit bestehe nicht. Eine Überstellung nach Afghanistan würde den Wünschen und Hoffnungen des Bf entgegenlaufen und somit zumindest zu einer vorübergehenden Verschlechterung seines psychischen Zustandes führen, eine entscheidende Verschlechterung seines Gesundheitszustandes sei nicht zu erwarten. Der Bf sei weder selbst – noch fremdgefährdend, es bestünde – soweit gutachterlich beurteilbar – auch im Falle einer Abschiebung keine Gefahr der Eigen- oder Fremdgefährdung.

Der Beschwerdeführer lebt seit fast 6 Jahren in Österreich. Er hat in Salzburg den Pflichtschulabschluss gemacht. Er hat das Fach „Deutsch – Kommunikation und Gesellschaft“ positiv abgeschlossen.

Er hat eine Einstellungszusage des Unternehmens HUBER CLEAN, 5020 Salzburg, als Reinigungskraft. Diese Vollzeittätigkeit wird seine Selbsterhaltungsfähigkeit begründen.

Der Bf spricht fließend Deutsch, eine Unterhaltung war mit ihm in der mündlichen Verhandlung über alle angesprochenen Themen möglich. Diese Tatsache erhöht seine Chancen am Arbeitsmarkt.

Er hat in Österreich sowohl an seinem ersten Wohnort, Tamsweg, als auch am zweiten, der Stadt Salzburg, nach Möglichkeit umfangreiche Freiwilligenarbeit geleistet und Freundschaften geschlossen.

Der Bf ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2 Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Der Bf hat in Afghanistan eine Feindschaft mit einem Onkel väterlicherseits und seinen Cousins wegen eines Grundstücks. Der Bf wollte nach seiner Abschiebung vom Iran nach Afghanistan das Grundstück für sich beanspruchen, wurde aber vom Onkel und dessen Söhnen bedroht, sodass er das Vorhaben aufgab.

Es besteht in Afghanistan keine Verfolgungsgefahr für ihn aus Gründen, die in der GFK aufgezählt sind.

1.3 Länderfeststellungen

Vorbemerkung: Im gegenständlichen Verfahren wurde am 15.07.2021 das Erkenntnis gemäß § 29 Abs. 1 und Abs. 2 VwGVG mündlich verkündet. Die belangte Behörde hat gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG einen Antrag auf Ausfertigung gestellt.

Festgehalten wird, dass sich die Lage in Afghanistan seit der mündlichen Verkündung dieses Erkenntnisses am 15.07.2021 maßgeblich verändert hat. Der im gegenständlichen Fall eingebrachte Ausfertigungsantrag gemäß § 29 Abs 4 VwGVG zielt auf eine schriftliche Ausfertigung der Entscheidung vom 15.07.2021 ab, vgl. auch VwSlg 19.216 A/2015 mwN, wonach die mündliche Verkündung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung der Zustellung einer Entscheidung gleichzuhalten ist. Mit der mündlichen Verkündung wird die Entscheidung – unabhängig von der in § 29 Abs. 4 VwGVG geforderten Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung – rechtlich existent, vgl. auch Fischer/Pabel/Raschauer, Handbuch der Verwaltungsgerichtsbarkeit Kap.11 (Stand 30.10.19, rdb.at), RZ 85).

Die Ausfertigung hat daher auf Basis der Sachlage, d.h. auch der Situation im Herkunftsstaat, zum Zeitpunkt der mündlichen Erlassung des Erkenntnisses zu erfolgen. Es kann daher in dieser Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses auf die seit 15.07.2021 erfolgten grundlegenden und wesentlichen Änderungen in Afghanistan nicht eingegangen werden, wie z.B. die aktuellen Informationen der Staatendokumentation (LIB, Version 4; samt Kurzinformationen) und UNHCR-Empfehlungen.

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren in der mündlichen Verkündung auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung, Stand 02.04.2021 (LIB)

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Mazar-e Sharif)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)

-        ACCORD-Bericht vom 05.06.2020

-        ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Scharif vom 16.10.2020

1.3.1 Sicherheitslage, Parwan – LIB, Version 3

Parwan liegt im zentralen Teil Afghanistans. Die Provinz grenzt an Baghlan im Norden, Panjshir und Kapisa im Osten, Kabul und Wardak im Süden und Südosten und Bamyan im Westen (NPS Parwan o.D.; vgl. UNOCHA Parwan 4.2014). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Bagram, der Provinzhauptstadt Charikar, Syahgird (oder Ghurband), Jabulussaraj, Koh-e-Safi, Salang, Sayyid Khel, Shaykh Ali, Shinwari und Surkhi Parsa (NSIA 1.6.2020; vgl. UNOCHA Parwan 4.2014, OPr Parwan 1.2.2017, IEC Parwan 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Parwan im Zeitraum 2020/21 auf 737.700 Personen (NSIA 1.6.2020). Ethnische Gruppen in der Provinz umfassen Paschtunen, Tadschiken, Usbeken, Qizilbash, Kutschi und Hazara (NPS o.D.pw). Die Zahl der Dari-Sprecher ist etwa 2,5-mal höher als die der Paschtu-Sprecher. Die Population der Kutschi-Nomaden beträgt ca. 30.000 im Winter und ca. 120.000 im Sommer. Von den Kutschi in Parwan sind 2/3 Kurzstreckennomaden und 1/3 Fernwanderer (MoF/ADB 7.2019).

Ein Abschnitt der Ring Road (MoPW 16.10.2015; vgl ESCAP 8.8.2019) führt durch die Distrikte Charikar, Jabulussaraj und Salang (UNOCHA 4.2014pw). Der auf dieser Strecke liegende 2,7 km lange Salang-Tunnel zwischen den Provinzen Parwan und Baghlan ist die einzige Straßenverbindung Kabuls mit Nordafghanistan (TN 15.9.2020; vgl. USAID 5.12.2019, DR o.D.). Die Zulaufstrecken sind in schlechtem Zustand und die Straßenerhaltungsarbeiten mangelhaft (Telegraph 10.6.2020; vgl. XI 17.9.2019, DR o.D.). Es kommt häufig zu Unfällen und zu Sperren aufgrund von Lawinenabgängen (DR o.D.; vgl. LCA 24.4.2019). Im Zuge des Trans-Hindukush Road Connectivity Project wird die Straße über den Salang-Pass mitsamt dem Tunnel bis 2022 renoviert werden (WB 4.2020)

Eine weitere Hauptverbindungsstraße verbindet Parwan mit der Nachbarprovinz Bamyan und verläuft durch das Ghorband-Tal und die Distrikte Charikar, Jabalussaraj, Shinwari, Syahgird, Shaykh Ali zum Shibar-Pass (UNOCHA Parwan 4.2014; vgl. MoPW 16.10.2015, ESCAP 8.8.2019). Diese Straße ist asphaltiert und in gutem Zustand (OTWA 5.2.2020). Daran anschließend wird die derzeit unbefestigte, 152 km lange Sekundärstraße zwischen Baghlan und Bamyan (auch: B2B-Straße) asphaltiert (WB 4.2020; vgl. TN 15.9.2020) und als Ausweichroute für den Salang-Pass ausgebaut (TN 15.9.2020).

Die Luftwaffenbasis Bagram, die größte NATO-Militärbasis in Afghanistan, befindet sich in der Provinz Parwan (LWJ 5.8.2018; vgl. NYT 12.1.2020, USDOD 1.7.2020). Vor 2014 resultierten 80% der Wirtschaftsleistung der Stadt Bagram aus der Luftwaffenbasis und mehr als 3.000 lokale Arbeitnehmer waren dort beschäftigt. Aufgrund von Sicherheitsbedenken und der Reduktion der Truppenstärke wurden ab 2014 die meisten afghanischen Arbeiter durch ausländische Auftragnehmer ersetzt (NYT 12.1.2020).

1.3.1.1 Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Im Mai 2019 wurde die Provinz Parwan zu den relativ friedlichen Provinzen Afghanistans gezählt (KP 8.5.2019). Im Juni 2019 wurde berichtet, dass sich die Sicherheitslage in manchen Distrikten der Provinz in den vergangenen Jahren verschlechtert hätte (KP 12.6.2019). Für 2020 wird die Sicherheitslage in der Provinz Parwan als „nicht stabil“ bezeichnet (IFRC 8.9.2020).

Aufständische, insbesondere Taliban, sind in den Distrikten Siya Gird, Shinwari, Koh e Safi und Bagram präsent (IFRC 8.9.2020). Die Präsenz der Taliban im Distrikt Koh-e-Safi wurde im Juli 2020 als zwar klein, jedoch wachsend angegeben (AAN 18.7.2020).

Die Anwesenheit der Luftwaffenbasis Bagram hat gemäß Aussagen der lokalen Bevölkerung negative Auswirkungen auf die Sicherheitslage im Distrikt (NYT 12.1.2020). Es kommt zu Angriffen auf die Basis durch den Islamischen Staat (AJ 9.4.2020; vgl. USDOD 1.7.2020) und die Taliban (NYT 11.12.2019) und auch afghanische Arbeiter auf der Basis werden angegriffen (TN 17.4.2020)

Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Parwan im Verantwortungsbereich des 201. ANA Corps, das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - Ost (TAAC-E) untersteht, welches vorwiegend aus US-amerikanischen und polnischen Truppen besteht (USDOD 1.7.2020).

1.3.1.2 Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 76 zivile Opfer (47 Tote und 29 Verletzte) in der Provinz Parwan. Dies entspricht einem Rückgang von 69% gegenüber 2019. Die Hauptursachen für die Opfer waren gezielte Tötungen, gefolgt von Bodenkämpfen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) (UNAMA 2.2021).

In der Provinz werden Sicherheitsoperationen (RY 4.7.2020, PAJ 28.4.2020, BN 4.2.2020) und Luftschläge durch die afghanischen Sicherheitskräfte durchgeführt (XI 30.6.2020). Auch kommt es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Aufständischen und afghanischen Streitkräften (TN 13.7.2020, ArN 29.5.2020). Es kommt zu Angriffen durch Aufständische auf Kontrollpunkte der Sicherheitskräfte entlang der Fernstraßen (IFRC 8.9.2020).

1.3.2 Gesundheitssystem und COVID-19 – LIB, Version 3, letzte Änderung 01.04.2021

Die COVID-19-Pandemie hat sich negativ auf die Bereitstellung und Nutzung grundlegender Gesundheitsdienste in Afghanistan ausgewirkt, und zwar aufgrund von COVID-19-bedingten Bewegungseinschränkungen, des Mangels an medizinischem Material und persönlicher Schutzausrüstung sowie der Abneigung der Gemeinschaft, Gesundheitseinrichtungen aufzusuchen. Die Zahl der Krankenhauseinweisungen und Überweisungen ging von April bis Juni 2020 im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2019 um fast 25% zurück, während die Zahl der chirurgischen Eingriffe laut WHO um etwa 33% sank. Darüberhinaus ging die Rate der Routineimpfungen für Frauen und Kinder unter zwei Jahren im Laufe des Jahres zurück. Infolgedessen geht die WHO davon aus, dass die Sterblichkeit durch behandelbare und durch Impfung vermeidbare Gesundheitszustände im Jahr 2021 ansteigen könnte (USAID 12.01.2021).

Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten mit Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan seit März 2020 Anzeichen und Symptome von COVID-19 (IOM 23.09.2020). Die Infektionen steigen weiter an, und bis zum 17.03.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.03.2021; WHO 17.03.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.03.2021).

Einige der Regional- und Provinzkrankenhäuser in den Großstädten wurden im Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. Menschen mit Anzeichen von COVID-19 werden getestet und die schwer Erkrankten im Krankenhaus in Behandlung genommen. Die Kapazität solcher Krankenhäuser ist jedoch aufgrund fehlender Ausrüstung begrenzt. In den anderen Provinzen schicken die Gesundheitszentren, die nicht über entsprechende Einrichtungen verfügen, die Testproben in die Hauptstadt und geben die Ergebnisse nach sechs bis zehn Tagen bekannt. Im Großteil der Krankenhäuser werden nur grundlegende Anweisungen und Maßnahmen empfohlen, es gibt keine zwingenden Vorschriften, und selbst die Infizierten erfahren nur grundlegende und normale Behandlung (RA KBL 20.10.2020). […]

1.3.2.1 Auswirkungen auf das Gesundheitssystem – ACCORD-Bericht vom 05.06.2020

Die Kapazitäten Afghanistans zur Bekämpfung des Coronavirus seien einem Bericht des Central Asia-Caucasus Analyst vom 26. Mai 2020 zufolge eingeschränkt. Die Gesundheitsinfrastruktur sei schon immer fragil und schlecht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung vorbereitet gewesen. Der Mangel an Einrichtungen sei nun umso mehr spürbar. Ein akuter Mangel an Testsets, Medikamenten und persönlicher Schutzausrüstung (personal protection equipment, PPE) lege die afghanischen Kapazitäten zum Kampf gegen Covid-19 lahm. (Central Asia-Caucasus Analyst, 26. Mai 2020)

Die Johanniter International Assistance erwähnt in einem Bericht vom 27. Mai 2020, dass es in Kabul das Central Public Health Lab und Veterinärlabore gebe, die Covid-19-Tests vornehmen würden. Zudem gebe es Labore in Herat, Jalalabad, Kandahar, Masar-e Scharif und Paktya. Ein weiteres veterinärmedizinisches Labor in Herat solle bald seine Arbeit aufnehmen. In Herat gebe es ein neues Covid-19-Krankenhaus mit 100 Betten. In Kabul seien der Darulaman Palace (mit 300 Betten) und die Studentenwohnheime zu Isolationseinrichtungen umfunktioniert worden. (Johanniter International Assistance, 27. Mai 2020, S. 17)

Als Reaktion auf die oben bereits genannten Proteste von ÄrztInnen und MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens habe ein Sprecher des afghanischen Gesundheitsministeriums gesagt, dass er den Zorn über nicht ausbezahlte Löhne verstehe, so Reuters im Mai 2020. Der Sprecher habe angegeben, dass die ÄrztInnen und MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens dringend benötigt würden. Die Löhne würden in wenigen Tagen ausbezahlt. Die Proteste würden Reuters zufolge zusätzlichen Druck auf die fragile medizinische Infrastruktur Afghanistans ausüben. Wenige Wochen zuvor seien bereits Hunderte ÄrztInnen und MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens in Kabul positiv auf das Coronavirus getestet worden. Viele seien zur häuslichen Selbstisolation gezwungen gewesen. (Reuters, 19. Mai 2020)

Auch der andauernde Krieg wirke sich auf die Kapazitäten zur Bekämpfung des Coronvirus aus. Die Reichweite der Regierung für Tests und Behandlung auf von Aufständischen kontrollierte Gebiete sei aufgrund der andauernden Angriffe der Taliban und des Islamischen Staates stark eingeschränkt. Zusätzlich sei die Regierung auf die Unterstützung der Sicherheitskräfte zur Umsetzung der Lockdownmaßnahmen sowie den Transport grundlegender Güter angewiesen. Jedoch könnten diese nicht zur Bekämpfung des Coronavirus eingesetzt werden, solange Angriffe von Aufständischen weiter andauern würden. (Central Asia-Caucasus Analyst, 26. Mai 2020)

Einem Artikel von The New Humanitarian (TNH) vom 3. Juni 2020 zufolge sei das afghanische Gesundheitssystem nach dem jahrzehntelangen Krieg ruiniert („in tatters“) und werde durch internationale Hilfsfonds gestützt. Gesundheitskliniken in umstrittenen Gebieten, die oftmals von örtlichen NGOs im Auftrag der Regierung betrieben würden, seien sogar noch schlechter ausgestattet („even more basic“). Es werde befürchtet, dass insbesondere Frauen keinen Zugang zu Tests und Gesundheitsversorgung haben könnten. Bereits vor der Pandemie seien die afghanischen Gesundheitsdienste nicht angemessen gewesen. Einem Gründer der afghanischen NGO PenPath, Attaullah Wesa, zufolge sei die Lage entsetzlich. Die NGO habe vor Kurzem eine Kampagne zu öffentlicher Gesundheit in ländlichen Gebieten gestartet, darunter auch in von den Taliban kontrollierten Gebieten. Attaullah zufolge würde es den Kliniken oftmals an grundlegender Ausrüstung und angemessen ausgebildeten MitarbeiterInnen mangeln. (TNH, 3. Juni 2020)

Friederike Stahlmann weist in ihrem Vortrag vom Mai 2020 auf eine weitere Belastung des afghanischen Gesundheitssystems hin. Viele Menschen, die ansonsten in Indien und Pakistan medizinische Hilfe in Anspruch nehmen würden, könnten diese Länder aufgrund der Covid-19-Maßnahmen nicht mehr erreichen. (Stahlmann, 11. Mai 2020)

1.3.2.2 Auswirkungen auf Versorgungslage – ACCORD-Bericht vom 05.06.2020

Am 7. April 2020 erwähnt The New Humanitarian (TNH), dass Grenzschließungen und Ausfuhrbestimmungen Auswirkungen auf die Versorgungslage hätten und die Nahrungsmittelpreise in die Höhe trieben. Während des Anstiegs der Covid-19-Fälle in den letzten beiden Märzwochen seien die Preise für Weizenmehl landesweit gestiegen, darunter um 20 Prozent in der nordöstlichen Stadt Faizabad. (TNH, 7. April 2020)

Anfang Mai 2020 erwähnt Save the Children ebenfalls die steigenden Nahrungsmittelpreise und weist zudem auf die sinkenden finanziellen Möglichkeiten der Tagelöhner zum Kauf von Nahrungsmitteln hin, da es aufgrund der landesweiten Covid-19-Beschränkungen weniger Gelegenheitsarbeit gebe. Ein großer Teil der afghanischen Arbeitskräfte sei auf den informellen Arbeitsmarkt angewiesen, der bei Arbeitsmangel keine Sicherheitsnetze biete. (Save the Children, 1. Mai 2020)

Auch die Nachrichtenagentur Reuters erwähnt am 5. Mai 2020 die steigenden Nahrungsmittelpreise. Im April 2020 sei die Nahrungsmittelinflation in Kabul dem Ökonomen Omar Joya zufolge bei 16,7 Prozent gelegen. Joya habe als Mitarbeiter des afghanischen Think-Tanks Biruni Institute Zugang zu den neusten Regierungsdaten zur Preisentwicklung. Parvathy Ramaswami vom Welternährungsprogramm in Afghanistan habe angegeben, dass sich die Covid-19-Lage in Afghanistan von einem Gesundheitsnotfall zu einer Nahrungsmittel- und Lebensunterhaltskrise entwickle. (Reuters, 5. Mai 2020)

Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF schätzt Ende Mai 2020, dass in Afghanistan 11,9 Millionen Menschen vom Entzug der Nahrungsmittelsicherheit bedroht sein könnten, was wiederum zum Anstieg der multidimensionalen Armut (Einzelindikatoren zur Bemessung: Bildung, Gesundheit und Lebensstandard, Anm. ACCORD) von 51,7 auf 61,4 Prozent führen könnte. (UNICEF, 29. Mai 2020)

Aktuelle Daten und Informationen zu den Nahrungsmittel- und Treibstoffpreisen finden sich in folgendem Dokument: FEWS Net - Famine Early Warning Systems Network: Afghanistan Price Bulletin, May 2020, 30. Mai 2020 (https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Afghanistan_2020_05_PB.pdf).

Berichte würden UNOCHA zufolge zudem darauf hinweisen, dass die Lockdown-Maßnahmen weiterhin Auswirkungen auf die Mobilität humanitärer Organisationen hätten, Hilfslieferungen verzögern würden und Auswirkungen auf den Zugang zu humanitärer Hilfe hätten. Humanitäre Partnerorganisationen würden jedoch weiterhin landesweit aktiv auf Krisen reagieren. (UNOCHA, 31. Mai 2020, S. 3) […]

1.3.2.3 Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt – LIB, Version 3, letzte Änderung 31.03.2021

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

1.3.2.4 Reaktionen der Taliban – ACCORD-Bericht vom 05.06.2020

Anfang März habe der Talibansprecher Zabiullah Mujahid das Coronavirus noch als göttliche Fügung („decree of Allah“) zur Bestrafung des „Ungehorsams und der Sünden der Menschheit“ bezeichnet. Die Antwort der Taliban auf die Pandemie habe sich in den vergangenen Wochen jedoch verändert und MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens wurde in Gebieten unter Taliban-Kontrolle sichere Durchfahrt zugesichert. (Central Asia-Caucasus Analyst, 26. Mai 2020)

Die Taliban würden einem Bericht der Johanniter International Assistance vom 27. Mai 2020 zufolge eine eigene Anti-Corona-Kampagne verfolgen. Im Bezirk Shindand in der Provinz Herat, der überwiegend von den Aufständischen kontrolliert werde, habe sich etwa eine Gesundheitskommission der Taliban versammelt, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern und ein öffentliches Bewusstsein dafür zu schaffen. Dem Talibansprecher Zabihullah Mujahed zufolge sei die Verbreitung von Covid-19 ein wichtiges Thema für die Taliban. Sie hätten deshalb Maßnahmen ergriffen und würden über einen strukturierten Plan verfügen. Die Gruppe habe laut eigenen Angaben bereits mehrere Personen unter Quarantäne gestellt und würde mithilfe von Motorrädern in abgelegenen Gebieten Flugblätter, Seife und Desinfektionsmittel verteilen. Die Taliban würden ihren Fokus insbesondere auf RückkehrerInnen aus dem Iran legen und diese zur Selbstisolation auffordern. (Johanniter International Assistance, 27. Mai 2020, S. 9-10)

The New Humanitarian (TNH) berichtet am 3. Juni 2020 über Kooperationen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung. Eine formelle Zusammenarbeit sei selten, auf Provinzebene habe es jedoch Versuche gegeben, direkt mit den Taliban zusammenzuarbeiten. So etwa in der Provinz Faryab. Jedoch würden sich diese Bemühungen, abhängig von den Beziehungen zu den Taliban vor Ort, von Bezirk zu Bezirk unterscheiden. Ein Experte der International Crisis Group, Andrew Watkins, habe angegeben, dass die Taliban es zwar nie zugeben würden, die Gruppe aber weder über die technischen Kapazitäten noch über ausreichend Mittel verfüge, um eigenständig effektiv Hilfe zu leisten. TNH erwähnt weiters, dass bei einem Treffen von GesundheitsmitarbeiterInnen der Provinzregierung von Faryab und Talibanvertretern im April 2020 etwa die Desinfektion öffentlicher Bereiche und die Umsetzung eines Lockdowns zur Eindämmung des Virus besprochen worden seien. Konvois mit MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens und Mitgliedern der Taliban seien sowohl in von den Taliban als auch in von der Regierung kontrollierten Gebieten von Ortschaft zu Ortschaft gefahren, um gesundheitliche Ratschläge zu erteilen. Solche koordinierten Einsätze seien jedoch selten. In Badghis etwa hätten die örtlichen Taliban MitarbeiterInnen der Regierung in zwei Bezirken den Zugang verweigert. (TNH, 3. Juni 2020)

1.3.2.5 Stigmatisierung – ACCORD-Bericht vom 05.06.2020

Einem Bericht des United States Institute of Peace (USIP) vom April 2020 zufolge würden einige AfghanInnen aufgrund der religiösen Stigmatisierung (als Strafe Gottes, Anm. ACCORD) des Virus ihre Symptome verheimlichen und sich weigern medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Regierung und religiöse Anführer hätten sich diesem Thema gewidmet und jene mit Symptomen ermuntert, medizinische Hilfe aufzusuchen. (USIP, 16. April 2020)

Ein Artikel der New York Times (NYT) vom April 2020 erwähnt in Verbindung mit der Stigmatisierung des Coronavirus, dass in Afghanistan MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens angegriffen worden und PatientInnen aus den Fenstern geklettert seien, um einer Quarantäne zu entgehen. An einem Tag im März 2020 etwa seien in Herat MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens in einem Krankenhaus von 40 PatientInnen angegriffen worden, bevor diese aus der Quarantäne geflohen seien. (NYT, 14. April 2020)

Friederike Stahlmann erwähnt in ihrem Vortrag vom Mai 2020 Stigmatisierung von RückkehrerInnen aus dem Iran oder Europa in Verbindung mit der Übertragung von Covid-19. Abgesehen von ihren eigenen Erfahrungen, betont sie aber, dass es sich dabei bisher um nicht überprüfbare Berichte handle. Ein Mitarbeiter eines Krankenhauses habe gegenüber einem Informanten Stahlmanns angegeben, dass RückkehrerInnen aus dem Iran nicht behandelt würden. Zudem komme es auf der Straße zu Übergriffen. (Stahlmann, 11. Mai 2020)

Die Internationale Organisation für Migration (International Organization for Migration, IOM) berichtet im April 2020 nicht speziell auf Afghanistan bezogen, dass in steigendem Ausmaß über Stigmatisierung und Diskriminierung von MigrantInnen in Ziel-, Transit- und bei Rückkehr in Heimatdestinationen aufgrund von Ängsten hinsichtlich der Übertragung von Covid-19 berichtet werde. (IOM, 20. April 2020)

1.3.2.6 Auswirkungen auf RückkehrerInnen – ACCORD-Bericht vom 05.06.2020

Einem Vortrag von Friederike Stahlmann im Mai 2020 zufolge seien RückkehrerInnen aufgrund der Covid-19-Maßnahmen mit fehlenden Übernachtungsmöglichkeiten konfrontiert. Hotels und Teehäuser seien geschlossen. Stahlmann wisse von drei im März 2020 abgeschobenen Personen, die obdachlos geworden seien. (Stahlmann, 11. Mai 2020)

Stahlmann erwähnt hinsichtlich RückkehrerInnen zudem, dass eine Flucht nach Europa sehr teuer sei und mit besonderen wirtschaftlichen Risiken verbunden sei, da viele dafür ihr sämtliches Hab und Gut verkauft hätten. Daher seien bei einer Rückkehr oft keine finanziellen Ressourcen mehr vorhanden, auf die sie zurückgreifen könnten. Zudem bedeute die regelmäßige Verweigerung von Familien Betroffene aufzunehmen, dass sie im Zweifelsfall nicht auf ein in Krankheitsfällen essentielles Betreuungsnetzwerk zählen könnten. Selbst wenn sie finanzielle Unterstützung hätten, sei so selbst die Beschaffung von Medikamenten und Zugang zu Pflege unrealistisch (Stahlmann, 11. Mai 2020)

Aufgrund der Covid-19-Maßnahmen seien Stahlmann zufolge zudem die Konsulate nicht erreichbar und deshalb könnten auch keine Visa für europäische Länder, den Iran oder die Türkei beantragt werden. Offizielle Büros und Beratungsstellen seien nicht zugänglich und auch IOM habe keinen Kundenverkehr. (Stahlmann, 11. Mai 2020)

1.3.3 Grundversorgung und Wirtschaft – LIB, Version 3, letzte Änderung am 01.04.2021

Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern (AF 2018; vgl. WB 7.2019). Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (USIP 15.8.2019; vgl. WB 7.2019).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. ACCORD 7.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018).

Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%.

Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9%. Für 2020 geht die Weltbank COVID-19-bedingt von einer Rezession (bis zu -8% BIP) aus (AA 16.7.2020; vgl. WB 4.2020). Eine Reihe von U.S.- Wirtschafts- und Sozialentwicklungsprogrammen haben ihre Ziele für das Jahr 2020, aufgrund COVID-19-bedingter Einschränkungen nicht erreicht (SIGAR 30.1.2021). […]

1.3.4 Arbeitsmarkt – LIB, Version 3, letzte Änderung 01.04.2021

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 10.2020). Der Arbeitsmarkt ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert (STDOK 10.2020; vgl. Ahmend 2018; CSO 2018). 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen (AAN 3.12.2020; vgl.: CSO 2018). Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten sind Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht (AAN 3.12.2020). Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen (AA 16.7.2020; cf. IOM 18.3.2021) ebenso wie die Anzahl der prekär beschäftigten (AAN 3.12.2020), auch wenn es keine offiziellen Regierungsstatistiken über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt gibt (IOM 23.9.2020). Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt (NSIA 1.6.2020; vgl STDOK 10.2020). Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (STDOK 4.2018). Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020, CSO 2018). In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar.

Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich (STDOK 4.2018; vgl. CSO 2018).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet.

Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (CSO 8.6.2017). Im Rahmen einer Befragung an 15.012 Personen gaben rund 36% der befragten Erwerbstätigen an, in der Landwirtschaft tätig zu sein (AF 2018).

Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig (STDOK 21.7.2020; vgl. STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018). Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt (STDOK 13.6.2019). Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (STDOK 4.2018).

In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (CSO 2018; vgl. IOM 18.3.2021). Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Für das Anmeldeverfahren sind das Ministerium für Arbeit und Soziale Belange und die NGO ACBAR zuständig; Rückkehrende sollten ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (STDOK 4.2018).

Laut dem Afghanistan National Peace and Development Framework (ANPDF) hat die Regierung geplant, sich auf mehrere Sektoren zu konzentrieren, um Arbeitsplätze zu schaffen. Insbesondere konzentriert sie sich auf umfassende Programme zur Entwicklung der Landwirtschaft und des Privatsektors. Laut ANPDF steigt und fällt das afghanische BIP mit der Leistung der Landwirtschaft, die für mindestens 40% der Bevölkerung Arbeitsplätze schafft und einen bedeutenden Anteil der aktuellen Exporte ausmacht (IOM 18.3.2021; vgl. GoIRA 2021).

Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor (CSO 2018; vgl. Haider/ Kumar 2018): Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind (CSO 2018).

Während Frauen am afghanischen Arbeitsmarkt eine nur untergeordnete Rolle spielen, stellen sie jedoch im Agrarsektor 33% und im Textilbereich 65% der Arbeitskräfte (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018).

Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag (IOM 18.3.2021). Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner (IOM 18.3.2021).

1.3.5 Situation für Rückkehrer – LIB, Version 3, letzte Änderung 01.04.2021

In den letzten zehn Jahren sind Millionen von Migranten und Flüchtlingen nach Afghanistan zurückgekehrt. Während der Großteil der Rückkehrer aus den Nachbarländern Iran und Pakistan kommt, sinken die Anerkennungsquoten für Afghanen im Asylbereich in der Europäischen Union und die Zahl derer die freiwillig, unterstützt und zwangsweise nach Afghanistan zurückkehren, nimmt zu (MMC 1.2019). Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, da sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen (IOM 7.5.2020).

IOM (Internationale Organisation für Migration) verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migranten (MENAFN 15.2.2021). Von den mehr als 865.700 Afghanen, die im Jahr 2020 nach Afghanistan zurückkehrten, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan (USAID 12.1.2021; vgl. TNH 26.1.2021). Im gesamten Jahr 2018 kehrten, im Vergleich dazu, aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 Personen nach Afghanistan zurück (IOM 5.1.2019, vgl. AA 16.7.2020).

Die freiwillige Rückkehr nach Afghanistan ist aktuell (Stand 19.3.2021) über den Luftweg möglich. Es gibt internationale Flüge nach Kabul, Mazar-e Sharif und Kandahar (IOM 18.3.2021; vgl. F 24 19.3.2021). Es sei darauf hingewiesen, dass diese Flugverbindungen unzuverlässig sind - in Zeiten einer Pandemie können Flüge gestrichen oder verschoben werden (IOM 18.3.2021).

Seit 12.8.2020 ist der Grenzübergang Spin Boldak an der pakistanischen Grenze sieben Tage in der Woche für Fußgänger und Lastkraftwagen geöffnet (UNHCR 12.9.2020). Der pakistanische Grenzübergang in Torkham ist montags und dienstags für Rückkehrbewegungen nach Afghanistan und zusätzlich am Samstag für undokumentierte Rückkehrer und andere Fußgänger geöffnet (UNHCR 12.9.2020).

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.4.2020, Reach 10.2017). Ohne familiäre Netzwerke kann es sehr schwer sein, sich selbst zu erhalten, da in Afghanistan vieles von sozialen Netzwerken abhängig ist. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.4.2020; vgl. Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert.

Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019). Aufgrund der Sicherheitslage ist es Rückkehrern nicht immer möglich, in ihre Heimatorte zurückzukehren (VIDC 1.2021).

„Erfolglosen“ Rückkehrern aus Europa haftet oft das Stigma des „Versagens“ an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa (VIDC 1.2021; cf. Seefar 7.2018), was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird (VIDC 1.2021). Rückkehrer drückten ihr Bedauern und ihre Scham über die Rückkehr aus, die sie als eine vertane Chance betrachteten, bei der Geld und Zeit verschwendet wurden (Seefar 7.2018; vgl. VIDC 1.2021, MMC 1.2019).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen (STDOK 4.2018; vgl. STDOK 14.7.2020, IOM AUT 23.1.2020, VIDC 1.2021). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (AA 16.7.2020).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (VIDC 1.2021; vgl. IOM KBL 30.4.2020, MMC 1.2019, Reach 10.2017). Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.6.2019, IOM KBL 30.4.2020), auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.6.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (STDOK 4.2018; vgl. VIDC 1.2021).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird (AA 16.7.2020). UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (STDOK 13.6.2019).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (AA 16.7.2020) und auch IOM Kabul sind keine solchen Vorkommnisse bekannt (IOM KBL 30.4.2020). Andere Quellen geben jedoch an, dass es zu tätlichen Angriffen auf Rückkehrer gekommen sein soll (STDOK 10.2020; vgl Seefar 7.2018), wobei dies auch im Zusammenhang mit einem fehlenden Netzwerk vor Ort gesehen wird (Seefar 7.2018). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich (STDOK 13.6.2019; vgl. VIDC 1.2021) und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (STDOK 13.6.2019).

Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen (VIDC 1.2021; vgl. STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018). Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab (VIDC 1.2021; vgl. AA 16.7.2020, IOM KBL 30.4.2020, STDOK 10.2020). Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, bleibt begrenzt und ist weiterhin von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig (USDOS 11.3.2020). Moscheen unterstützen in der Regel nur besonders vulnerable Personen und für eine begrenzte Zeit. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch. Deshalb versuchen sie in der Regel, so bald wie möglich wieder in den Iran zurückzukehren (STDOK 13.6.2019).

Viele afghanische Rückkehrer werden de facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren (UNOCHA 12.2018). Trotz offenem Werben der afghanischen Regierung für Rückkehr sind essenzielle Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit in den grenznahen Provinzen nicht auf einen Massenzuzug vorbereitet (AAN 31.1.2018). Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbst gebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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