TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/28 W184 2215643-2

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Veröffentlicht am 28.09.2021
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Entscheidungsdatum

28.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §68 Abs1
BFA-VG §21 Abs3
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W184 2215643-2/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner PIPAL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.07.2021, Zl. 1210620909/210588768, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 68 Abs. 1 AVG iVm § 3 Abs.1 AsylG 2005 abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II., III., IV., V., VI. und VII. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG stattgegeben und der angefochtene Bescheid in diesem Umfang aufgehoben.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die beschwerdeführende Partei, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, brachte am 04.05.2021 den vorliegenden Folgeantrag auf internationalen Schutz ein. Sein vorheriges Verfahren wurde am 11.01.2020 bereits rechtkräftig negativ entschieden. Befragt, was sich seit der Rechtskraft nunmehr gegenüber seinem bereits entschiedenen Verfahren in persönlicher Hinsicht und im Hinblick auf die Gefährdungslage verändert habe, führte die beschwerdeführende Partei an, dass sich die Lage in seiner Heimat verschlechtert habe und die Taliban noch mächtiger geworden seien. Bei einer Rückkehr habe er Angst vor den Taliban.

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde folgende Entscheidung über diesen Antrag getroffen:

„I. Der Antrag auf internationalen Schutz vom 04.05.2021 wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.

II. Der Antrag auf internationalen Schutz vom 04.05.2021 wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiären Schutzes gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sacher zurückgewiesen.

III. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird Ihnen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt.

IV. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wird gegen Sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen.

V. Es wird gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist.

VI. Gemäß § 55 Abs. 1a FPG besteht keine Frist für die freiwillige Ausreise.

VII. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG wird gegen Sie ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.“

Die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens wurden im angefochtenen Bescheid folgendermaßen zusammengefasst (gekürzt und teilweise anonymisiert durch das Bundesverwaltungsgericht):

„Angaben zum Fluchtgrund:

LA: Sie haben am 24.10.2018 einen ersten Asylantrag gestellt, der mit Rechtskraft vom 11.01.2020 abgewiesen wurde. Warum stellen Sie einen neuerlichen Antrag?

VP: Die Taliban haben unser Dorf angegriffen und erobert. Derzeit wird das ganze Gebiet von den Taliban kontrolliert. Sogar fünf oder sechs Dorfbewohner wurden getötet. Dann sind die Taliban zu den Weißbärtigen gegangen und fragten nach einigen Personen, auch nach mir, Kommandant XXXX und Herr XXXX . Die Weißbärtigen sagten, dass wir auf der Flucht sind und niemand weiß, wo wir sind. Dann haben die Kutschi, die eigentlich Taliban sind, unsere Felder, Obstbäume und Landwirtschaft in Besitz genommen. Ich habe deswegen jetzt nichts mehr in Afghanistan.

LA: Woher haben Sie dieses Wissen?

VP: Alle Jugendliche haben aus Angst vor den Taliban das Dorf verlassen. Jetzt leben dort nur alte Leute. Einige gingen nach Pakistan und andere in den Iran. Ich hörte es von Jugendlichen aus dem Iran.

LA: Von Ihrer Frau oder von wem hörten Sie das?

VP: Meine Frau hat es von den Jugendlichen gehört und hat es mir erzählt.

LA: Haben Sie mit Ihrer Schwester, dem Schwager oder dem Onkel in Ghazni gesprochen?

VP: Meine Schwester hat es bestätigt. Sie lebt zwar in der Stadt Ghazni, aber sie hörte auch, dass unser Dorf erobert wurde und was die Taliban dort machen.

LA: Lebt jemand von Ihren Angehörigen in dem Dorf?

VP: Alle leben in der Stadt Ghazni. Im Dorf habe ich keine Angehörigen.

LA: Gibt es noch andere Gründe, warum Sie einen weiteren Antrag gestellt haben, oder nur wegen der Eroberung des Dorfes?

VP: In Deutschland war ich in einem Flüchtlingscamp. Einige Flüchtlinge hatten dort Bibeln gelesen. Sie hatten bemerkt, dass ich Stress habe, und sie nahmen mich zur Kirche mit. Solange ich in Deutschland war, ging ich zur Kirche und sah mir christliche Filme an und bekam Bibelunterricht. Ich fühlte mich ruhiger in dem Unterricht.

LA: Haben Sie in Österreich auch schon einen Kontakt zur Kirche gesucht oder hergestellt?

VP: Ich bin auf der Suche. Ich habe keine Kirche gefunden, weil ich das Camp nicht verlassen durfte.

LA: Haben Sie mit irgendjemandem darüber gesprochen, dass Sie eine Kirche suchen?

VP: Ich habe mit jemandem darüber gesprochen. Er hat mir versprochen, dass er mich zur Kirche mitnimmt.

LA: Mit wem haben Sie gesprochen?

VP: Einem Iraner namens XXXX . Er spricht Farsi.

LA: Zu welcher Kirche will er sie mitnehmen?

VP: Das weiß ich nicht. Er sagte mir, dass ich alle sehen werde, wenn ich dort bin.

LA: Zu welchem Zweig der Christen will Sie dieser Iraner mitnehmen?

VP: Laut XXXX sind es Protestanten.

LA: Warum wollen Sie gerade zu den Protestanten?

VP: Die Leute in Deutschland gingen zu dieser Kirche. Ich ging mit, einfach so.

LA: Sie hatten Bibelunterricht. Gibt es Unterschiede bei den Zweigen der Christen?

VP: Ich weiß nur, dass die Kirchen unterschiedlich beten. Mehr weiß ich nicht.

LA: Kennen Sie irgendwelche christlichen Feiertage?

VP: Das weiß ich noch nicht. Ich weiß nur, dass die Geburt von Jesus gefeiert wird.

LA: Jesus ist auch im Islam sehr angesehen. Wo ist für Sie der Unterschied?

VP: Als ich noch ein Kind war, habe ich gehört, dass Jesus ein heiliger Prophet ist. Er ist nicht gestorben und wird zurückkommen am Ende der Welt. Er wird uns alle retten.

LA: Als Sie ein Kind waren, da waren Sie noch in Afghanistan, oder?

VP: Ja. Jetzt als Erwachsener habe ich eine eigene Meinung. Alle anderen Propheten sind gestorben und können uns nicht mehr helfen. Nur Jesus lebt noch und kann uns helfen.

LA: Was wissen Sie sonst über Jesus?

VP: Ich habe gelernt, dass Jesus wegen uns gestorben ist. Er wurde wegen der Menschheit gekreuzigt.

LA: Wie ging die Geschichte nach der Kreuzigung weiter?

VP: Man dachte, dass er tot wäre. Die Leute haben auf das Kreuz aufgepasst, auch die Polizei. Ein paar Tage später war Jesus nicht mehr dort. Sie sagten, dass er in den Himmel gefahren ist.

LA: Wird dieser Vorfall gefeiert?

VP: Ich weiß es nicht. Ich werde es nachfragen.

LA: Sie hatten Bibelunterricht. Erzählen Sie mir eine Geschichte aus der Bibel.

VP: Ich kann nicht lesen und schreiben. Ich sah nur die Filme. Ich kann nichts erzählen.

LA: Auch nicht von den Filmen?

VP: Eine Frau kam zu Jesus und sagte ihm, dass ihr Bruder krank war und Hilfe benötigt. Als Jesus hinkam, war er tot. Jesus hat ihn lebendig gemacht. Das war faszinierend.

LA: Wie hieß der tote Mann?

VP: Ich habe es vergessen.

LA: Kennen Sie noch eine Geschichte?

VP: Nein.

LA: Haben Sie diese Geschichten hier in Österreich, z. B. im Camp, anderen Flüchtlingen erzählt?

VP: Ich habe nur mit einem Flüchtling aus Tadschikistan gesprochen. Wir sind in einem Zimmer.

LA: Warum erzählen Sie sonst niemandem diese Geschichten aus der Bibel und von den Christen?

VP: Es ist eine Vorsichtsmaßnahme. Ich weiß nicht, wie die reagieren. Wir brauchen im Camp Ordnung.

LA: Gibt es irgendwelche Änderungen bei den im Erstverfahren angegeben Fluchtgründen?

VP: Nein. Das ist unverändert.

LA: Das heißt, die Fluchtgründe für den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz sind dieselben Gründe, welche Sie bereits in Ihrem Erstasylverfahren angegeben haben. Neu ist nur die Eroberung des Dorfes durch die Taliban/Kutschi und dieses Interesse am Christentum. Ist das so richtig?

VP: Ja.

LA: Haben Sie seit der ersten Antragstellung Österreich verlassen?

VP: Ja. Ich bin nach Deutschland nach der negativen Entscheidung.

LA: Haben Sie in Österreich Verwandte oder sonstige Personen, zu denen ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis bzw. eine besonders enge Beziehung besteht?

VP: Nein. Ich kenne nur ein paar Leute in Österreich, die auch aus der Provinz Ghazni stammen.

LA: Haben Sie irgendwo in Europa Verwandte oder sonstige Personen, zu denen ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis bzw. eine besonders enge Beziehung besteht?

VP: Nein.

LA: Haben Sie in Österreich seit der Rechtskraft des Vorverfahrens gearbeitet, Deutschkurse besucht oder haben Sie irgendwelche sonstige Ausbildungen absolviert?

VP: Nein. Vorher war ich in XXXX und habe für die Gemeinde gearbeitet.

LA: Wie schätzen Sie Ihre Deutschkenntnisse ein?

VP: Die Caritas hat mir keinen Deutschkurs angeboten. Ich habe nur mit Youtube einiges gelernt.

LA: Sind Sie arbeitsfähig?

VP: Ja. Ich bin ein gelernter Fliesenleger. Das habe ich im Iran und in Afghanistan gearbeitet. Die Gemeinde XXXX war mit meiner Arbeit sehr zufrieden. Wenn ich hier arbeiten darf, dann kann ich selbstständig für meinen Unterhalt sorgen. Ich will keine Sozialhilfe. Ich habe seit meiner Kindheit gearbeitet und mir wäre es lieber zu arbeiten.

LA: Wie bestreiten Sie hier in Österreich Ihren Lebensunterhalt? Werden Sie vom Staat versorgt, erhalten Sie sich selbst oder werden Sie von irgendjemandem finanziell unterstützt?

VP: Ich werde vom Staat versorgt. Ich helfe aber im Camp beim Putzen.

LA: Verfügen Sie über finanzielle Mittel, um selbstständig für Ihren Unterhalt hier sorgen zu können?

VP: Nein. Ich habe mit meinen Ersparnissen einen Anwalt bezahlt. Jetzt habe ich nichts mehr.

LA: Haben Sie soziale Kontakte/Aktivitäten in Österreich, z. B. ehrenamtliche Tätigkeiten, Mitgliedschaft in einem Verein, usw.?

VP: Nein.

…“

Es folgten im angefochtenen Bescheid die Sachverhaltsfeststellungen, die Beweiswürdigung und die rechtliche Beurteilung zu den einzelnen Spruchpunkten. Der Status des Asylberechtigten könne nicht zuerkannt werden, weil es der beschwerdeführenden Partei nicht gelungen sei, die vorgebrachte Konversion glaubhaft und in sich schlüssig darzulegen. Als Indiz für einen unwahren Sachverhalt würden die Angaben der beschwerdeführenden Partei bzw. das Fehlen von Angaben angeführt werden. Bei der Erstbefragung am 04.05.2021 habe er zur Frage der Religionsausübung den Islam angegeben, obwohl er bereits hier die Möglichkeit bzw. Interesse gehabt habe, eine mögliche Konversion anzugeben. Bei der Einvernahme am 01.06.2021 habe er zur Frage der Religionszugehörigkeit erneut angegeben, schiitischer Moslem zu sein. Die beschwerdeführende Partei habe ein weiteres Mal die Möglichkeit gehabt, ein Interesse bzw. eine mögliche Konversion anzugeben. Doch er habe erneut geschwiegen. Es sei wenig glaubhaft, dass ein Asylwerber ein derartiges reales Vorbringen zwei Mal zurückhalte und die Möglichkeit der Verhinderung der Abschiebung nicht sofort nutzen würde. Dass er niemandem von seinem Interesse am Christentum erzähle, sei ein Indiz, dass er selbst nicht zu seinem angeblichen Interesse stehe. Es sei nicht nachvollziehbar, dass er sich angeblich vom Bibelunterricht beruhigt fühle, aber nichts vom Bibelunterricht angeben habe können. Die beschwerdeführende Partei habe nur gewusst, dass in den verschiedenen Zweigen des Christentums unterschiedlich gefeiert werde. Er habe jedenfalls nicht gewusst, ob die Auferstehung Jesu von Christen gefeiert werde. Die beschwerdeführende Partei habe angegeben, nicht lesen und schreiben zu können und nur die christlichen Filme gesehen zu haben, was widersprüchlich zu seiner Angabe sei, dass er Bibelunterricht gehabt habe. Hätte er tatsächlich Interesse am Christentum gehabt, würde er sich an einige Erzählungen des Unterrichts erinnern können. Überdies habe er sich auch nur an eine einzige Filmgeschichte erinnern können. Zusammengefasst würden die Angaben der beschwerdeführenden Partei nur den Schluss zulassen, dass es sich dabei um ein konstruiertes Vorbringen bzw. eine Steigerung seines ursprünglichen Vorbringens handle.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher im Wesentlichen das bisherige Vorbringen wiederholt wurde. Die belangte Behörde habe insgesamt nur drei Fragen in Zusammenhang mit der Konvertierung gestellt, somit habe es die belangte Behörde unterlassen, sich gehörig mit der Konversion zum Christentum zu beschäftigen. Die Behörde gehe davon aus, dass das Interesse der beschwerdeführenden Partei am Christentum nicht glaubhaft sei, es sei jedoch nicht nachvollziehbar, wie die belangte Behörde zu dieser Ansicht komme, ohne die beschwerdeführende Partei ausführlich über den Konversionsprozess befragt zu haben. Es existiere keine innerstaatliche Fluchtalternative und es wäre für die beschwerdeführende Partei eine solche gar nicht zumutbar. Die Länderberichte zu Afghanistan seien öffentlich zugänglich und einfach zu recherchieren. Die beschwerdeführende Partei würde nach vielen Jahren nach Afghanistan zurückkehren, was es unmöglich mache, dort Fuß zu fassen und ein sicheres Leben zu führen. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zu dem bisherigen Verfahren:

Der erste Antrag der beschwerdeführenden Partei auf internationalen Schutz vom 24.10.2018 wurde mit Bescheid des BFA vom 01.02.2019, Zl. 1210620909/181017895, bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.) und dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für eine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

Gegen diesen Bescheid erhob die beschwerdeführende Partei am 04.03.2019 fristgerecht Beschwerde. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.12.2019, GZ W208 2215643-1/9E, wurde die Beschwerde vom 04.03.2019 als unbegründet abgewiesen. Dieses Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts erwuchs in Rechtskraft.

Am 04.05.2021 brachte die beschwerdeführende Partei den (gegenständlichen) zweiten Antrag auf internationalen Schutz ein, den die beschwerdeführende Partei mit dem Angriff der Taliban, der Einverleibung seiner Felder durch die Kutschi sowie sein Interesse am Christentum begründete.

Zur Person und den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt:

Die beschwerdeführende Partei ist Staatsbürger Afghanistans und gehört der Volksgruppe der Hazara sowie der Glaubensrichtung des schiitischen Islam an. Er spricht Dari und stammt aus der Provinz Ghazni. Die beschwerdeführende Partei hat keine Schul- oder Berufsausbildung absolviert und war als Landarbeiter bzw. Schafhirte tätig. Die beschwerdeführende Partei war in Afghanistan sowie dem Iran auch als Fliesenleger beschäftigt.

Der beschwerdeführenden Partei droht im Herkunftsstaat keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.

Die von der beschwerdeführenden Partei behauptete Verfolgungsgefahr in Afghanistan aufgrund der Bedrohung durch Kutschi bzw. Taliban sowie aufgrund des Nachfluchtgrundes einer Konvertierung zum Christentum konnte nicht festgestellt werden.

Die beschwerdeführende Partei erstattete seit der rechtskräftigen Entscheidung im Erstverfahren kein neues, entscheidungsrelevantes, individuelles Fluchtvorbringen im Hinblick auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten. Es kann keine wesentliche Änderung der bereits im Erstverfahren vorgebrachten Fluchtgründe festgestellt werden.

Die beschwerdeführende Partei führte jedoch seit Rechtskraft des Erstverfahrens ein neues, entscheidungsrelevantes, individuelles Vorbringen betreffend die Beurteilung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten an: Es ist im Herkunftsstaat nunmehr zu einer gravierenden Verschlechterung der Sicherheitslage im Falle der Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der Machtübernahme durch die Taliban gekommen. Es ist daher nach Rechtskraft des Erkenntnisses vom 30.12.2019 von einer maßgeblichen Änderung der Sachlage aufgrund der drastischen Gewalteskalation in Verbindung mit einem Regierungswechsel auszugehen.

Der beschwerdeführenden Partei würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der nunmehr dort vorherrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und der Machtübernahme durch die Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit der beschwerdeführenden Partei wegen der zum Entscheidungszeitpunkt volatilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Der beschwerdeführenden Partei ist es daher in weiterer Folge auch nicht mehr möglich und auch nicht zumutbar, sich im Falle seiner Rückkehr in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen, insbesondere nicht, nachdem die Städte Mazar-e Sharif, Herat und Kabul neben vielen Provinzhauptstädten nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden. In der Folge ist es ihm auch nicht möglich, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können ohne die Gefahr, in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Im Falle einer Verbringung der beschwerdeführenden Partei in seinen Herkunftsstaat droht diesem ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 EMRK.

Zur Lage im Herkunftsstaat schließt sich das Bundesverwaltungsgericht den Länderfeststellungen des angefochtenen Bescheides an. Im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen betreffend die Sicherheitslage wurden ergänzende Quellen herangezogen.

UNHCR, 16.08.2021: Position on returns to Afghanistan (UNHCR Positionspapier)

EASO, September 2021: Afghanistan Security situation update Country of Origin Information Report

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungs¬statistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswe¬sens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).

Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern". Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsminis¬teriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheits¬diensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträch¬tigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfül¬len könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthand¬werk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur so¬zialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt (IPS 12.11.2020; cf. UNAMA 10.8.2020). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; cf. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifi¬sche Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, AAN 1.10.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto 11.2020; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wur¬den auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstran¬ten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).

Quellen:

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ArN - Arab News (27.1.2021): Taliban backs COVID-19 vaccination drive as Afghan government gets funding pledge, https://www.arabnews.com/node/1799141/world, Zugriff 1.2.2020

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Politische Lage

Letzte Änderung: 31.03.2021

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bür¬ger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Es ist geplant die Wahlen in Ghazni im Oktober 2021 nachzuholen (AT 19.12.2020; vgl. TN 19.12.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).

Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäfts¬führer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Gültigkeit von Hunderttausenden von Stimmen (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020) waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berück¬sichtigt worden (FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen bei einer geschätzten Bevölkerungszahl von 35 Millionen (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommission und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020, TN 11.5.2020).

Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandi¬daten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004, USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020). Die Kämpfe zwischen den afghanischen Regierungstruppen, den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen hielten jedoch an und forderten in den ersten neun Monaten des Jahres fast 6.000 zivile Opfer, ein deutlicher Rückgang gegenüber den Vorjahren (HRW 13.1.2021).

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicher¬heitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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