TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/5 W118 2175388-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.10.2021
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Entscheidungsdatum

05.10.2021

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W118 2175388-1/25E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. ECKHARDT über die Beschwerde von XXXX auch XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die Rechtsanwälte Dr. Martin Dellasega und Dr. Max Kapferer, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I.       Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

II.      Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.

III.    In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der damals noch minderjährige Beschwerdeführer ist in die Republik Österreich eingereist und hat am 04.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

2.       Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 07.12.2015 und der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 21.08.2017 begründete der Beschwerdeführer die Antragstellung im Wesentlichen mit Furcht vor Taliban bzw. mit der Sicherheitslage in seiner Heimatregion und einer Bedrohung aufgrund seiner Volksgruppen- bzw. Religionszugehörigkeit.

3.       Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Weiters wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Es wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

In der Begründung hielt die belangte Behörde fest, dass der Beschwerdeführer keiner Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. In seiner Heimatprovinz Ghazni liege eine relevante Gefährdungslage vor, die Sicherheitslage in Kabul sei aber relativ sicher und der Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr auch nicht in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten.

4.       Hiegegen wurde Rechtsmittel erhoben und der Bescheid zur Gänze angefochten. In der Begründung wurde insbesondere auf eine Vulnerabilität des minderjährigen Beschwerdeführers und eine drohende Zwangsrekrutierung hingewiesen.

5.       Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 03.11.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

6.       Aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses wurde die Rechtssache mit Datum vom 10.07.2019 neu zugewiesen.

7.       Am 17.02.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der das Bundesamt nicht teilnahm. Der – bereits volljährige – Beschwerdeführer wurde im Beisein seines rechtsfreundlichen Vertreters und eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt.

8.       Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.09.2020 wurden dem Beschwerdeführer aktuelle Länderberichte betreffend die generelle Lage in Afghanistan einschließlich der derzeitigen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zur Kenntnis gebracht und Gelegenheit eingeräumt, hiezu Stellung zu nehmen. Der Beschwerdeführer wurde überdies aufgefordert, innerhalb der genannten Frist auch etwaige Änderungen in persönlicher Hinsicht (Integration, Familienleben, etc.) anzugeben, die seit der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 17.02.2020 gegebenenfalls eingetreten sind.

9.       Im Rahmen der hiezu eingebrachten Stellungnahme vom 25.09.2020 erstatte der Beschwerdeführer insbesondere Vorbringen zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sowie zu der weiterhin bestehenden Bedrohung durch Taliban und wies überdies bezugnehmend auf die Interessensabwägung iSd Art. 8 EMRK darauf hin, dass der erfolgreiche Schul- bzw. Lehrbesuch von Minderjährigen eine erhebliche Integration darstelle und Minderjährigen der ungewisse Aufenthaltsstatus nicht wie einem Erwachsenen ausgelegt werden könne.

10.      Mit Erkenntnis vom 16.10.2020, GZ W118 2175388-1/17E, wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.10.2017 zur Gänze ab.

11.      Der Verwaltungsgerichtshof wies mit Erkenntnis vom 18.03.2021, Zl. Ra 2020/18/0496-10, die hiegegen eingebrachte außerordentliche Revision insoweit, als sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wendet, zurück und hob im Übrigen das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den vorliegenden Verwaltungsakt und in den Gerichtsakt, durch Befragung des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und Einsichtnahme in die in der Verhandlung vorgelegten Unterlagen sowie durch Einsicht insbesondere in folgende Länderberichte: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan, 11.06.2021; European Asylum Support Office (EASO), Country Guidance Afghanistan, Dezember 2020; EASO, Afghanistan: Security Situation, September 2020; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 15.07.2021; Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018; EASO, Afghanistan: Sozioökonomische Schlüsselindikatoren – Mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat, August 2020; UNHCR, Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 16.08., 23.08., 30.08. und 06.09.2021; BFA, Kurzinformationen der Staatendokumentation vom 17.08. und 20.08.2021, EASO, Security situation update, September 2021 sowie aktuelle Medienberichte.

1. Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, der Volksgruppe der Hazara zugehörig und bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Er ist in das Bundesgebiet eingereist und hat am 04.12.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Der Beschwerdeführer ist in einem Dorf im Distrikt XXXX der afghanischen Provinz Ghazni geboren und hat dort bis zu seiner Reise nach Europa gelebt. Der Beschwerdeführer hat dort fünf Jahre lang die Schule besucht und kann in der Sprache Dari lesen und schreiben.

Der Beschwerdeführer hat keinen Kontakt zu seiner Familie in Afghanistan und kennt deren aktuellen Aufenthaltsort nicht.

Der Beschwerdeführer ist gesund, volljährig, ledig und hat keine Kinder. Er hat in Österreich keine nahen Familienangehörigen oder sonstige enge Bindungen. Der Beschwerdeführer ist nicht straffällig im Sinne des Asylgesetzes. Er hat in Österreich Deutschkurse und die vierte Klasse einer Neuen Mittelschule besucht, die Übergangsstufe an BMHS abgeschlossen, die Integrationsprüfung (Sprachniveau B1) bestanden und eine einjährige Wirtschaftsfachschule (9. Schulstufe) mit gutem Erfolg abgeschlossen. Der Beschwerdeführer hat am 03.09.2018 eine dreijährige Tischlerlehre begonnen. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt von seinem Einkommen und kommt auch selbst für die Miete seiner Wohnung auf. Er hat in Österreich einen Bekannten- bzw. Freundeskreis, ist aber nicht legal in das Bundesgebiet eingereist und hatte nie ein nicht auf das Asylverfahren gegründetes Aufenthaltsrecht in Österreich.

1.2.    Zur Situation im Falle einer Rückkehr:

Der Beschwerdeführer wäre unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der aktuell instabilen Sicherheitslage im Zusammenhang mit der Machtübernahme durch die Taliban und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Dem Beschwerdeführer ist es auch nicht möglich und nicht zumutbar, sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen, zumal insbesondere auch die Städte Kabul und Mazar-e Sharif ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden.

1.3.    Zur allgemeinen Lage in Afghanistan:

1.3.1.  Bevölkerungsstruktur:

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Schätzungen zufolge sind 40 bis 42 % Paschtunen, 27 bis 30 % Tadschiken, 9 bis 10 % Hazara, 9 % Usbeken, ca. 4 % Aimaken, 3 % Turkmenen und 2 % Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen allerdings fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen können weiterhin in Konflikten und Tötungen resultierten.

Etwa 99,7 % der Bevölkerung Afghanistans sind Muslime, die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 10 bis 19 % der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3 % der Bevölkerung aus.

1.3.2.  Hazara:

Die schiitische Minderheit der Hazara besiedelt traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich die Lage grundsätzlich verbessert, gesellschaftliche Spannungen bestehen aber fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf. Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – an.

1.3.3.  Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermieden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert waren – wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu. Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen „taktischen Rückzug“ angetreten hatten. Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge hatten die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung. Ende Mai bzw. Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über weitere Distrikte. Die Taliban verstärkten den Druck in allen Regionen des Landes, auch in Laghman, Logar und Wardak – drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen. Damit hatten die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 01.05.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert.

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen kompensiert. In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan entraten, wurden landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten. Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15 % (21 % laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht. Bei den von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, handelt es sich um IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe.

Während sich die Taliban inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung mit der afghanischen Regierung um ein versöhnlicheres Image bemühten, berichteten Afghanen, die bereits unter der Kontrolle der Taliban lebten, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert. Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die begründete Sorge, dass die Taliban zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt.

In den Großstädten Afghanistans ist auch Straßenkriminalität ein Problem. Im Jahr 2020 wurden in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif Tausende von Fällen von Straßenraub und Hausüberfällen gemeldet. Nach einem Anstieg der Kriminalität und der Sicherheitsvorfälle in Kabul kündigte der Vizepräsident Amrullah Saleh im Oktober 2020 an, auf Anordnung von Präsident Ashraf Ghani für einige Wochen die Verantwortung für die Sicherheit in Kabul zu übernehmen und hart gegen Kriminalität in Kabul vorzugehen.

1.3.4.  Lage in den Provinzen Ghazni, Kabul und Balkh:

Die Provinz Ghazni liegt im Südosten Afghanistans und hat etwa 1,4 Millionen Einwohner. Fast die Hälfte der Bevölkerung von Ghazni sind Paschtunen, etwas weniger als die Hälfte Hazara und rund 5 % Tadschiken. Die Stadt Ghazni liegt an der Ring Road, die die Hauptstadt Kabul mit dem großen Ballungszentrum Kandahar im Süden verbindet.

Ghazni gehörte im August 2020 zu den relativ volatilen Provinzen im Südosten Afghanistans. Taliban-Kämpfer waren in einigen der unruhigen Distrikte der Provinz aktiv, wo sie oft versuchen, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen durchzuführen. Im September 2020 waren die Hauptstraßen, die Kabul mit Ghazni, Kabul mit Bamyan, Ghazni mit Kandahar und Ghazni mit Paktika verbinden, nach wie vor unsicher, da die Zusammenstöße zwischen den Regierungskräften und Aufständischen andauerten, was die zivilen Bewegungen weiterhin beeinträchtigte. Die Taliban unterhielten Berichten zufolge entlang der Ring Road in Ghazni Straßenkontrollen. Das Long War Journal schätzte im Mai 2021 die Distrikte Ajristan, Andar, Deh Yak, Giro, Nawa, Nawur, Rashidan, Waghaz, Wali M. Shahid und Zanakhan als unter Talibankontrolle stehend ein, während Ab Band, Gelan, Ghazni City, Jaghatu, Jaghuri, Khwaja Omari, Malistan, Muqur und Qara Bagh als umkämpft galten. Seit Ende August 2021 wird davon ausgegangen, dass alle Distrikte unter der Kontrolle der Taliban stehen. Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 418 zivile Opfer (183 Tote und 235 Verletzte) in der Provinz Ghazni. Dies entspricht einem Rückgang von 38 % gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen.

Ghazni gehörte im Mai 2019 zu den relativ volatilen Provinzen im Südosten Afghanistans. Taliban-Kämpfer sind in einigen der unruhigen Distrikte der Provinz aktiv, wo sie oft versuchen, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen durchzuführen. Gleichzeitig führen die Regierungskräfte regelmäßig Operationen in Ghazni durch, um die Aufständischen aus der Provinz zu vertreiben. Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 653 zivile Opfer (253 Tote und 400 Verletzte) in Ghazni. Dies entspricht einer Steigerung von 84 % gegenüber 2017. Im ersten Halbjahr 2019 zählte UNAMA Ghazni zu den fünf Provinzen mit den größten Auswirkungen des Konflikts auf Zivilisten in Afghanistan.

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 4,5 Millionen Personen für den Zeitraum 2020-21. Die genaue Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten und Schätzungen reichen von 3,5 Millionen bis zu 6,5 Millionen Einwohnern. Kabul ist zu einer der am schnellsten wachsenden Städte der Welt geworden, deren Einwohnerzahl sich seit 2001 vervierfacht hat. Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand Mai 2021 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist.

Die Wirtschaft der Provinz Kabul hat einen weitgehend städtischen Charakter, wobei die wirtschaftlich aktive Bevölkerung in Beschäftigungsfeldern, wie dem Handel, Dienstleistungen oder einfachen Berufen tätig ist. Kabul-Stadt hat einen hohen Anteil an Lohnarbeitern, während Selbstständigkeit im Vergleich zu den ländlichen Gebieten Afghanistans weniger verbreitet ist. Zu den wichtigsten Arbeitgebern in Kabul gehört der Dienstleistungssektor, darunter auch die öffentliche Verwaltung. Die Gehälter sind in Kabul im Allgemeinen höher als in anderen Provinzen, insbesondere für diejenigen, welche für ausländische Organisationen arbeiten. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul am größten (49,6 %). Im Jahr 2018 lebten Berichten zufolge schätzungsweise 70 % der Bevölkerung in Kabul in informellen Siedlungen, die definiert sind als „Wohngebiete, die entweder auf Grundstücken errichtet wurden, auf die die Bewohner keinen Rechtsanspruch haben, und/oder Gebiete mit Wohneinheiten, die nicht den Planungs- und Bauvorschriften entsprechen“. Die COVID-19-Pandemie hatte im Allgemeinen keine besonderen Auswirkungen auf die Miet- und Kaufpreise von Wohnungen in Kabul.

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 817 zivile Opfer (255 Tote und 562 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 48 % gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren gezielte Tötungen, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Selbstmordanschlägen. Während des zweiten Quartals 2020 hat die Gewalt Berichten zufolge wieder zugenommen und im letzten Quartal 2020 stieg die Gewalt weiter an und war weit höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. In Kabul wurden in den ersten Wochen des Jahres 2021 mehrere Anschläge mit kleinen „sticky bombs“ verübt, die unter Fahrzeugen angebracht und ferngesteuert oder mit Zeitzündern gezündet wurden. Die Gruppe „Islamischer Staat“ (ISKP) hat die Verantwortung für einige der Anschläge übernommen, während die afghanische Regierung einige den Taliban zuschrieb. Im Mai 2021 explodierte eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi in Kabul, einem mehrheitlich von schiitischen Hazara bewohntem Gebiet, und tötete bis zu 85 Menschen, darunter auch Schülerinnen, und verletzte mindestens 150.

Mazar-e Sharif ist die Hauptstadt der Provinz Balkh im nördlichen Teil Afghanistans. Die Bevölkerung von Balkh ist heterogen, wobei Tadschiken und Paschtunen die größten Gruppen bilden, gefolgt von Usbeken, die in bestimmten Distrikten der Provinz sowie in mehreren Nachbarprovinzen die Mehrheit stellen, sowie Hazara, Turkmenen, Arabern, Belutschen, Aimaq und sunnitischen Hazara (Kawshi). Nach Schätzungen leben nahezu 1,5 Millionen Menschen in der Provinz Balkh, davon etwa 480.000 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen.

Mazar-e Sharif und die Provinz Balkh sind historisch betrachtet das wirtschaftliche und politische Zentrum der Nordregion Afghanistans. Mazar-e Sharif profitierte dabei von seiner geografischen Lage, einer vergleichsweise effektiven Verwaltung und einer relativ guten Sicherheitslage. Balkh ist landwirtschaftlich eine der produktivsten Regionen Afghanistans wobei Landwirtschaft und Viehzucht die Distrikte der Provinz dominieren. Mazar-e Sharif ist ein regionales Handelszentrum für Nordafghanistan und ein Industriezentrum mit großen Produktionsbetrieben und einer riesigen Zahl von KMU, die Kunsthandwerk, Vorleger und Teppiche anbieten. Die Arbeitsmarktsituation ist auch in Mazar-e Sharif eine der größten Herausforderungen. Auf Stellenausschreibungen melden sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne sehr viele Bewerber und ohne Kontakte ist es schwer, einen Arbeitsplatz zu finden. In den Distrikten ist die Anzahl der Arbeitslosen hoch; die meisten Arbeitssuchenden begeben sich nach Mazar-e Sharif, um Arbeit zu finden. In Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Verfügung. Auch eine Person, die in Mazar-e Sharif keine Familie hat, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden, wenn finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Des Weiteren gibt es in Mazar-e Sharif eine Anzahl von Hotels sowie Gast- oder Teehäusern, welche unter anderem von Tagelöhnern zur Übernachtung benutzt werden.

Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert, da militante Taliban versuchten, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen. Ziel der Anschläge waren oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kam es auch zu zivilen Opfern. Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 712 zivile Opfer (263 Tote und 449 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 157 % gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (IEDs; ohne Selbstmordattentate). Ungeachtet der Friedensgespräche fanden weiterhin sicherheitsrelevante Vorfälle in der Hauptstadt und den Distrikten statt. Es kam zu direkten Kämpfen und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren.

1.3.5.  Aktuelle Entwicklungen:

Den Taliban ist es gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte sollen Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden sein. Am 15.08.2021 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Präsident Ashraf Ghani ist zusammen mit seiner Familie und Verbündeten außer Landes geflohen, andere Regierungsmitglieder wie u.a. Mohammad Mohaqiq, Karim Khalili, Ahmad Zia Massoud und Yunus Qanooni sind am 15.08.2021 nach Islamabad/Pakistan ausgereist. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban ist relativ ruhig verlaufen – bis auf den Flughafen in Kabul, von dem aus sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Alle kommerziellen Flüge wurden bis auf weiteres eingestellt und Hunderte Afghanen belagerten den Flughafen.

Mit Stand vom 20.08.2021 gingen die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan weiter, es kam aber immer wieder zu Problemen. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich handelt es sich dabei um ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet. Am 02.08.2021 bezichtigten die Regierungen der USA und GBR die Taliban Kriegsverbrechen in den Provinzen Kandahar (Grenzübergang Spin Boldak) an Zivilpersonen und an den Hazara im Distrikt Malistan in der Provinz Ghazni begangen zu haben. Am 04.08.21 meldete die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission (AIHRC), dass in den letzten drei Monaten 900.000 Menschen inländisch vertrieben worden seien. Am selben Tag sei eine junge Frau in der Provinz Balkh von den Taliban für ihren fehlenden Schleier, enge Kleidung und fehlende männliche Begleitung erschossen worden.

Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtet, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen auftreten. Dazu kommen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO hat zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz musste wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden.

Ein landesweit einheitliches Vorgehen der Taliban war nicht erkennbar. Am 17.08.2021 haben Taliban in ihrer ersten Pressekonferenz zwar für alle Beamten der Republik eine Generalamnestie verkündet und Frauen dazu aufgerufen, sich an der Regierung zu beteiligen. Laut einem Bericht des Norwegian Center for Global Analyses im Auftrag der UN vom 18.08.2021 würden die Taliban jedoch in Kabul und anderen Städten von Haus zu Haus gehen und gezielt nach Personen suchen, die mit westlichen Staaten zusammengearbeitet oder zentrale Positionen im afghanischen Militär, der Polizei und den Ermittlungsbehörden innegehabt hätten. Auch Familienmitglieder dieser Personen sollen in Haft genommen worden sein. Die Taliban erklärten am 22.08.2021, dass ihre Kämpfer auf dem Weg in die nordwestlich von Kabul gelegene Provinz Panjshir seien. Es handelte sich hierbei um die einzige Provinz, die noch nicht unter Kontrolle der Taliban stand. Die dortigen afghanischen Sicherheitskräfte und Milizen unter der Führung von Ahmad Massoud seien zu Verhandlungen bereit. In der nördlichen Provinz Baghlan sollen Anti-Taliban-Kräfte drei Distrikte zurückerobert haben.

In Kabul sind Pressemeldungen zufolge Ministerien, Passämter und Banken weiterhin geschlossen. Die Lage am Flughafen ist nach wie vor angespannt, es kommt zu gelegentlichen Schusswechseln mit unbekannten Angreifern, in die neben amerikanischen auch deutsche Soldaten verwickelt sind. Bei Tumulten kamen nach NATO-Angaben in den letzten Tagen mindestens 20 Menschen ums Leben (Stand 23.08.2021). Taliban sollen die Zugänge zum Flughafen kontrollieren. Die Verantwortung für die Sicherheit in Kabul sollen die Taliban dem Haqqani-Netzwerk übertragen haben. Diesem werden gute Beziehungen zu al-Qaida nachgesagt und das Netzwerk wird für zahlreiche Anschläge in den letzten Jahren, insbesondere in Kabul, verantwortlich gemacht.

Bei zwei der Gruppierung „Islamischer Staat“ zugeschrieben Bombenanschlägen am Flughafen Kabul sind am 26.08.2021 laut Berichten mehr als 170 Personen getötet worden.

UNHCR und Human Rights Watch berichteten, dass es trotz der von den Taliban verkündeten Amnestie in verschiedenen Landesteilen zu Massenhinrichtungen von früheren afghanischen Regierungsmitarbeitern und ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte gekommen sei. Weiterhin sei laut UNHCR der Bewegungsspielraum von Frauen in manchen Regionen eingeschränkt worden, Mädchen dürften teilweise nicht mehr zur Schule gehen. Außerdem sollen Minderjährige zum Waffendienst geholt worden sein. Berichten eines Nachrichtensenders zufolge wurde am 25.08.21 in Kabul ein Journalist von Taliban geschlagen und seiner Ausrüstung beraubt. Auch zuvor soll es schon mehrere Übergriffe gegeben haben.

Experten befürchten, dass das BIP in diesem Jahr um 9,7 % sinken wird und die steigenden Preise sowie der Verfall der Landeswährung die Wirtschaftskrise verstärken. Banken und Regierungsbüros sind noch geschlossen, viele Menschen haben ihre Arbeit verloren. Hilfsorganisationen warnen vor einer Hunger- und Versorgungskrise. Laut UN seien 18 Mio. Menschen, fast die Hälfte der Bevölkerung, auf humanitäre Hilfe angewiesen. Erste Hilfslieferungen mit Medikamenten und anderen medizinischen Hilfsmitteln sind am 30.08.2021 auf dem Flughafen Mazar-e Sharif eingetroffen. Gegenwärtig sind allerdings viele NGOs gezwungen, aus Mangel an finanziellen und anderen Mitteln Gesundheitseinrichtungen zu schließen oder Hilfen einzuschränken. Hierzu gehören Impfungen für Kinder, Schwangerenbetreuung, postnatale Betreuung und Entbindungen für Schwangere, Betreuung bei Unterernährung, COVID-19-Behandlungszentren und andere wichtige Gesundheitsdienste, von denen Frauen, Kinder und ältere Menschen unverhältnismäßig stark betroffen sein werden.

Die Bildung einer neuen Regierung der Taliban ist bisher nicht in Sicht. Es gibt Anzeichen für Machtkämpfe innerhalb der Taliban zwischen verschiedenen paschtunischen Ghilzai- und Durrani-Führern, zwischen östlichen und südlichen Netzwerken, zwischen Hardlinern und denen, die mehr Flexibilität wünschen. Verschiedene Netzwerke innerhalb der Taliban haben nach der Eroberung der Stadt Kämpfer nach Kabul verlegt, um keine Positionen oder Macht zu verlieren. Derzeit kann jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen. Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist.

Verhandlungen zwischen Taliban und dem Widerstand im Panjshir-Tal blieben erfolglos. Es wurde von Kämpfen berichtet und am 05.09.2021 reklamierten beide Seiten jeweils für sich, die Kontrolle in der Provinz zu haben. Am selben Tag äußerte der USGeneralstabschef Milley die Sorge, das Land könne in einen Bürgerkrieg abgleiten, wenn die Taliban ihre Macht nicht gegenüber anderen Gruppen wie al-Qaida oder ISKP konsolidieren könnten. Am 04.09.2021 haben Berichten zufolge Taliban-Kämpfer im ganzen Land Schüsse abgegeben, um den angeblichen Sieg über die Provinz Panjshir zu feiern. Dabei seien bis zu 70 Zivilisten entweder getötet oder verletzt worden. Die Taliban-Führung verurteilte dies und kündigte Konsequenzen an.

2. Beweiswürdigung:

2.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, zum Gesundheitszustand, Alter und zur Schulbildung des Beschwerdeführers sowie zu seinen Familienangehörigen und deren Aufenthaltsorten beruhen auf den diesbezüglich im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und der mündlichen Verhandlung dem Bundesverwaltungsgericht.

Die Feststellungen zur Einreise, Antragstellung und dem Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich ergeben sich aus dem Inhalt des Verwaltungsaktes und dem damit in Einklang stehenden Vorbringen des Beschwerdeführers.

Hinsichtlich der Feststellungen zu dem aktuellen Privat- und Familienleben sowie insbesondere der Selbsterhaltungsfähigkeit und der Integration des Beschwerdeführers in Österreich wurden die Angaben des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung sowie die vorgelegten Nachweise und Empfehlungsschreiben den Feststellungen zugrunde gelegt. In der Stellungnahme vom 25.09.2020 wurde kein substantiiertes neues Vorbringen zu weiteren Integrationsschritten des Beschwerdeführers erstattet.

Die Feststellung der strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus einer aktuellen Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich.

2.2.    Zur Situation im Falle einer Rückkehr und zur allgemeinen Lage in Afghanistan:

Die Länderfeststellungen beruhen insbesondere auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation mit Stand 11.06.2021 – das basierend auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger unbedenklicher Quellen einen in den Kernaussagen schlüssigen Überblick über die aktuelle Lage in Afghanistan gewährleistet. Ergänzend wurden die EASO-Berichte Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 und Afghanistan: Sozioökonomische Schlüsselindikatoren – Mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat vom August 2020 sowie der Bericht des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 15.07.2021 herangezogen. Betreffend die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan stützen sich die Feststellungen – unter Berücksichtigung tagesaktueller Medienberichterstattung – auf die letzten Kurzberichte der Staatendokumentation und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie auf den EASO-Bericht „Security situation update“ vom September 2021.

Angesichts der Seriosität der genannten Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, sodass sie den Feststellungen zur Situation in Afghanistan zugrunde gelegt werden konnten.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt dabei nicht, dass aufgrund der aktuellen Ereignisse im Rahmen der Machtübernahme durch die Taliban Teile der gegenständlich herangezogenen Länderberichte die gegenwärtige Situation noch nicht zur Gänze berücksichtigen können bzw. noch keine verlässliche Grundlage darstellen, um langfristige Entwicklungen abzuschätzen. Aufgrund der zum Entscheidungszeitpunkt verfügbaren Informationen und der Berichte über die Situation in Gebieten, die schon länger unter der Kontrolle der Taliban stehen, ist im Ergebnis aber davon auszugehen, dass eine Rückkehr für den Beschwerdeführer zum aktuellen Zeitpunkt eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt vor dem Hintergrund der Einnahme sämtlicher wichtiger Städte durch die Taliban für das gesamte Staatsgebiet Afghanistans, zumal hinsichtlich allfälliger innerstaatlicher Fluchtalternativen bereits deren sichere Erreichbarkeit anhand der zurzeit vorliegenden Informationen nicht festgestellt werden kann.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1.    Zuständigkeit und anzuwendendes Recht:

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet über Beschwerden Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl das Bundesverwaltungsgericht.

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt Einzelrichterzuständigkeit vor.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der BAO, des AgrVG und des DVG und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn 1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist (§ 28 Abs. 2 VwGVG).

Gegenständlich steht der maßgebliche Sachverhalt im Sinne von § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG fest. Das Bundesverwaltungsgericht hat folglich in der Sache selbst zu entscheiden.

Zu A)

3.2.    Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides:

3.2.1   Wird ein Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, so ist dem Fremden gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 AsylG 2005 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 AsylG 2005 zu verbinden.

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht.

Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 2005 der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen (§ 11 Abs. 2 AsylG 2005).

Gemäß Art. 2 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Die Protokolle Nr. 6 und Nr. 13 zur Konvention beinhalten die Abschaffung der Todesstrafe.

§ 8 Abs. 1 Asylgesetz 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003, verwies auf § 57 Fremdengesetz, BGBl. I Nr. 75/1997 idF BGBl. I Nr. 126/2002 (im Folgenden: FrG) wonach die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig ist, wenn dadurch Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder das Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 57 FrG – welche in wesentlichen Teilen auf § 8 Abs. 1 AsylG 2005 übertragen werden kann – ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, dass eine konkrete, den Berufungswerber (Beschwerdeführer) betreffende, aktuelle, durch staatliche Stellen zumindest gebilligte oder (infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt) von diesen nicht abwendbare Gefährdung bzw. Bedrohung vorliegt. Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, 2000/20/0141). Die Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen (VwGH 30.06.2005, 2002/20/0205, mwN). Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird – auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören –, der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre, so kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen (VwGH 17.09.2008, 2008/23/0588). Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 18.10.2005, 2005/01/0461).

Unter Gefahr in diesem Sinne ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (vgl. etwa VwGH 19.02.2004, 99/20/0573). Es müssen stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass eine Person einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre und es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade die betroffene Person einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde. Die bloße Möglichkeit eines realen Risikos oder Vermutungen, dass der Betroffene ein solches Schicksal erleiden könnte, reichen nicht aus. Gemäß der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes erfordert die Beurteilung des Vorliegens eines tatsächlichen Risikos eine ganzheitliche Bewertung der Gefahr an dem für die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK auch sonst gültigen Maßstab des „real risk“, wobei sich die Gefahrenprognose auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. VwGH 31.03.2005, 2002/20/0582; 31.05.2005, 2005/20/0095).

Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung erkannt, dass der Asylwerber das Bestehen einer aktuellen Bedrohung der relevanten Rechtsgüter, hinsichtlich derer der Staat nicht willens oder nicht in der Lage ist, Schutz zu bieten, glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (VwGH 17.07.2008, 2007/21/0366). Diese Mitwirkungspflicht des Asylwerbers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind, und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 18.10.2005, 2005/01/0461).

Es bedarf im Rahmen einer Einzelfallprüfung einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz – bezogen auf den Einzelfall – nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095; 25.05.2016, Ra 2016/19/0036; 25.04.2017, Ra 2016/01/0307, jeweils mit mwN).

Nach einer Amtsrevision hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 08.08.2017, Ra 2017/19/0118, darauf hingewiesen, dass weder in den UNHCR-Richtlinien vom April 2016 noch in den dazu ergangenen Anmerkungen vom Dezember 2016 die Rede von einem „gesicherten“ Zugang zu den genannten Kriterien ist und völlig offen bleibt, worin ein solcher besteht oder von wem ein solcher erteilt werden könnte. Weiters mag es zutreffen, dass alleinstehende Rückkehrer ohne familiären Rückhalt sowie finanzieller Unterstützung in Kabul (anfangs) mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert seien. Jedoch entsprechen die konkret auf die Person des Mitbeteiligten (im entsprechenden VwGH-Verfahren) bezogenen Feststellungen den von UNHCR geforderten „bestimmten Umständen“, nach denen es alleinstehenden, leistungsfähigen Männern im berufsfähigen Alter ohne spezifische Vulnerabilität möglich sei, auch ohne Unterstützung durch die Familie in urbaner Umgebung zu leben.

Gemäß dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 06.11.2018, Ra 2018/01/0106, widerspricht es der Statusrichtlinie, den in dieser Richtlinie vorgesehenen Schutz Drittstaatsangehörigen zuzuerkennen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck dieses internationalen Schutzes aufweisen, etwa aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, die insbesondere auf Art. 3 EMRK gestützt sind. Aus dem Wortlaut des § 8 Abs. 1 AsylG 2005, ist (im Sinne der bisherigen Non-refoulement-Prüfung) ableitbar, dass für die Gewährung des subsidiären Schutzstatus bereits jegliche reale Gefahr (real risk) einer Verletzung von Art. 3 EMRK an sich, unabhängig von einer Verursachung von Akteuren oder einer Bedrohung in einem bewaffneten Konflikt im Herkunftsstaat ausreicht. Insofern hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben der Statusrichtlinie zur Gewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Sinne der dargelegten Auslegung der Bestimmung des Art. 15 lit. b der Statusrichtlinie iVm Art. 3 Statusrichtlinie entgegen der Rechtsprechung des EuGH und somit fehlerhaft umgesetzt.

Mit Erkenntnis vom 21.05.2019, Ro 2019/19/0006, hat der Verwaltungsgerichtshof klargestellt, dass eine Interpretation, mit der die Voraussetzungen der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 mit dem in der Judikatur des EuGH dargelegten Verständnis des subsidiären Schutzes nach der Statusrichtlinie in Übereinstimmung gebracht würde, die Grenzen der Auslegung nach den innerstaatlichen Auslegungsregeln überschreiten und zu einer – unionsrechtlich nicht geforderten – Auslegung contra legem führen würde. Damit würde der Statusrichtlinie zu Unrecht eine ihr im gegebenen Zusammenhang nicht zukommende unmittelbare Wirkung zugeschrieben. Der Verwaltungsgerichtshof halte daher an seiner Rechtsprechung fest, wonach eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK durch eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat – auch wenn diese Gefahr nicht durch das Verhalten eines Dritten (Akteurs) bzw. die Bedrohungen in einem bewaffneten Konflikt verursacht wird – die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 begründen kann.

3.2.2.  Jedenfalls bis zur Machtübernahme durch die Taliban war davon auszugehen, dass die allgemeine Situation in Afghanistan nicht dergestalt ist, dass schon alleine die Rückkehr eines Antragstellers eine ernsthafte Bedrohung für die durch Artikel 3 EMRK geschützten Rechte bedeuten würde (vgl. VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095; EGMR Husseini gg. Schweden vom 13.10.2011, Beschwerdenummer 10611/09, Ziffer 84, sowie das Erkenntnis des EGMR, wonach die allgemeine Situation in Afghanistan nicht so gelagert ist, dass die Ausweisung dorthin automatisch gegen Artikel 3 EMRK verstoße würde: EGMR A.G.R. gg. die Niederlande, 12.01.2016, 13.442/08 – dazu Bezug habend VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134; sowie jüngst – seine bisherige Rechtsprechung fortsetzend – EGMR 11.7.2017, E.P. und A.R. gg. Niederlande, Nr. 43538/11 und 63104/11; so etwa auch in inhaltlicher Auseinandersetzung mit dem Gutachten von Friederike Stahlmann vom 28.03.2018 der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 11. Senat, 11.04.2018, A 11 S 1729/17).

Betreffend die Heimatregion des Beschwerdeführers im Distrikt XXXX der Provinz Ghazni ist aufgrund der dortigen Sicherheitslage und der Erreichbarkeit allerdings davon auszugehen, dass er im Falle seiner Rückkehr einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit im Sinne von Art. 15 lit. c der Statusrichtlinie ausgesetzt wäre.

3.2.3.  Zu prüfen bleibt, ob der Beschwerdeführer aufgrund der allgemeinen Gegebenheiten und seiner persönlichen Umstände auf andere Regionen des Landes – nämlich die Städte Kabul oder Mazar-e Sharif – verwiesen werden kann:

Die Zumutbarkeit des Aufenthaltes in dem als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet ist von der Frage der Schutzgewährung in diesem Gebiet zu trennen. Im Sinne einer unionsrechtskonformen Auslegung ist das Kriterium der „Zumutbarkeit“ nach § 11 Abs. 1 AsylG 2005 gleichbedeutend mit dem Erfordernis nach Artikel 8 Abs. 1 Statusrichtlinie, dass vom Asylwerber vernünftigerweise erwartet werden kann, sich im betreffenden Gebiet seines Herkunftslandes niederzulassen (vgl. VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001). Dabei ist wiederum eine Einzelfallprüfung durchzuführen, denn ein Antragsteller kann nur unter Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und seiner persönlichen Umstände auf eine andere Region des Landes verwiesen werden (VfGH 13.09.2013, U 370/2012; 12.03.2013, U 1674/12; 12.06.2013, U 2087/2012).

Bis zur Machtübernahme durch die Taliban war aus den Länderberichten abzuleiten, dass Kabul-Stadt und Mazar-e Sharif für Normalbürger, die nicht mit Ausländern zusammenarbeiten, hinreichend sichere und über den jeweiligen Flughafen gut erreichbare Städte sind. Auch der Zugang zu Unterkunft und grundlegender Versorgung sowie zu Erwerbsmöglichkeiten war für alleinstehende, leistungsfähige Männer im berufsfähigen Alter ohne spezifische Vulnerabilität noch in ausreichendem Umfang gewährleistet.

Wie bereits im Rahmen der Feststellungen und der Beweiswürdigung dargestellt wurde, ist derzeit allerdings aufgrund der jüngsten Entwicklungen in Afghanistan und insbesondere der Machtübernahme durch die Taliban von einer äußerst volatilen Situation und einer Verschlechterung der Sicherheits- und Versorgungslage auszugehen, deren langfristige Auswirkungen zum Entscheidungszeitpunkt kaum abzuschätzen sind. Auch zur Erreichbarkeit

Der EGMR setzte am 02.08.2021 im Fall R.A. gegen Österreich im Lichte der aktuellen Entwicklung der Sicherheitslage und der Entscheidung des afghanischen Ministeriums für Flüchtlinge und Rückführung an die Regierungen der Europäischen Union, vom 08.07.2021 bis 08.10.2021 keine Abschiebungen zu akzeptieren, mittels vorläufiger Maßnahme gemäß Artikel 39 der Verfahrensordnung des EGMR die Abschiebung eines afghanischen Asylwerbers bis 31.08.2021 aus (Appl.no. 38335/21, noch nicht in HUDOC verfügbar – vgl. aber etwa https://deserteursberatung.at/wp-content/uploads/2021/08/IM.pdf, abgerufen am 31.08.2021).

Vor diesem Hintergrund und der nur eingeschränkt verfügbaren Informationen insbesondere zur aktuellen Erreichbarkeit, Sicherheits- und Versorgungslage betreffend eine allfällige Fluchtalternative in einer afghanischen Großstadt führt daher die Prüfung der maßgeblichen Kriterien zu dem Ergebnis, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückführung nach Afghanistan eine Verletzung seiner durch Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechte droht oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Die Rückverbringung des Beschwerdeführers nach Afghanistan steht daher zum Entscheidungszeitpunkt in Widerspruch zu § 8 Abs. 1 AsylG 2005 und es war spruchgemäß der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuzuerkennen.

3.3.    Zur Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung:

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 ist einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.

Im gegenständlichen Fall war dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuzuerkennen. Daher ist ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres zu erteilen (zur Festlegung der Gültigkeitsdauer siehe VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0281, Rn 41).

3.4.    Zur Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides:

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt wird.

Gemäß § 58 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 hat das Bundesamt die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 von Amts wegen zu prüfen, wenn der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.

Gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt.

Gemäß § 52 Abs. 9 FPG ist mit der Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

Aufgrund der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mangelt es den Spruchpunkten III. bis VI. des angefochtenen Bescheides an einer rechtlichen Grundlage, weshalb diese ersatzlos aufzuheben waren.

3.5.    Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung (siehe die oben zitierte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, aber auch des Verfassungsgerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte); weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

befristete Aufenthaltsberechtigung Ersatzentscheidung Rückkehrsituation Sicherheitslage subsidiärer Schutz Verschlechterung Versorgungslage

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W118.2175388.1.00

Im RIS seit

13.12.2021

Zuletzt aktualisiert am

13.12.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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