TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/20 W191 2196578-1

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Veröffentlicht am 20.10.2021
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Entscheidungsdatum

20.10.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W191 2196578-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.04.2018, Zahl 1118174204-160809969, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 07.06.2021 zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 wird XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 09.06.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

1.2. Eine EURODAC-Abfrage ergab drei Übereinstimmungen bezüglich der erkennungsdienstlichen Daten des BF. Dieser war in Leros (Griechenland) am 19.02.2016 und in Hercegszantohrk bzw. in Szeged (Ungarn) am 04.06.2016 bzw. am 06.06.2016 erkennungsdienstlich behandelt worden.

1.3. In seiner Erstbefragung am 09.06.2016 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen an, er stamme aus Kabul, sei Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, sunnitischer Moslem und ledig. Er habe zehn Jahre die Schule besucht und sei zuletzt als Taxifahrer erwerbstätig gewesen. Sein Vater würde in Afghanistan leben, seine Mutter sei bereits verstorben.

Als Fluchtgrund gab der BF an, dass sein Vater bei der afghanischen Nationalarmee beschäftigt sei. Die Taliban hätten diesen aufgefordert, sich ihnen anzuschließen, sonst würden sie ihn und den BF umbringen. Der BF sei von ihnen entführt und sein Vater erpresst worden. Es sei ihm aber die Flucht gelungen und er hätte sich bis zu seiner Ausreise bei seinem Onkel versteckt, weswegen die Taliban auch diesen bedroht hätten. Im Falle einer Heimkehr habe der BF Angst vor den Taliban. Zudem sei ein Bruder des BF aufgrund seiner Tätigkeit als Polizist von den Taliban getötet worden.

Als Geburtsdatum des BF wurde aufgrund seiner Altersangaben der 06.09.1998 festgehalten.

1.4. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) führte aufgrund der Übereinstimmungen bei der EURODAC-Abfrage Konsultationen gemäß Dublin-Übereinkommen bezüglich der Zuständigkeit für das Asylverfahren des BF mit dem Mitgliedstaat Ungarn, die negativ verliefen.

1.5. Aufgrund von Zweifeln an dem vom BF angegebenen Alter (Aktenvermerk „Indikatoren für Altersfeststellung“ vom 15.06.2016, Schreiben von Röntgen am Ring vom 17.06.2016 bezüglich der Bestimmung des Knochenalters anhand einer Röntgenuntersuchung der linken Hand des BF) veranlasste das BFA eine sachverständige medizinische multifaktorielle Altersschätzung. Laut Gutachten vom 20.09.2016 ergab die medizinische Begutachtung vom 03.08.2016 ein höchstmögliches Mindestalter von 19 Jahren und daraus folgend als „fiktives“ Geburtsdatum den XXXX .

1.6. Mit Verfahrensanordnung vom 27.09.2016 stellt das BFA fest, dass der BF am XXXX geboren und volljährig sei.

1.7. Am 03.11.2017 stellte die Bundesrepublik Deutschland ein Laissez-Passer für die Rücküberstellung des BF nach Österreich zwecks Durchführung des Asylverfahrens aus, nachdem der BF nach Deutschland gegangen war.

1.8. Bei seiner Einvernahme vor dem BFA am 28.03.2018 im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben. Er erklärte jedoch, zum Zeitpunkt der Erstbefragung sehr müde gewesen zu sein.

Der BF führte zu seinem Gesundheitszustand aus, dass er wegen psychischer Probleme in ärztlicher Behandlung stehe und Medikamente einnehme. Der BF legte ein Konvolut medizinischer Unterlagen vor, darunter einen handschriftlichen ärztlichen Kurzbericht, einen Kurzarztbrief vom 11.12.2017 und eine Aufenthaltsbestätigung vom 12.12.2017 des Klinikums Klagenfurt am Wörthersee über die stationäre Behandlung des BF vom 06.12.2017 bis zum 12.12.2017. Diagnostiziert wurde eine Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) und eine Abnorme Gewohnheit und Störung der Impulskontrolle (F63.9). Medikation wurde verordnet.

Zu seinen Altersangaben im bisherigen Verfahren befragt gab der BF an, dass er auf Rat hin angegeben habe, minderjährig zu sein. In Ungarn sei er nämlich sehr schlecht behandelt worden und habe nicht dorthin zurückgeschickt werden wollen.

Der BF sei in der Stadt Kabul geboren. Seine Familie habe zuerst im Distrikt Bagrami, Provinz Kabul gelebt und sei dann zurück in die Stadt Kabul gezogen. Finanziell sei es seiner Familie gut gegangen. Der BF habe zehn Jahre die Schule besucht und danach als Schneider bzw. Taxifahrer gearbeitet. Den Aufenthaltsort seines Vaters kenne er nicht. In Kabul würden die anderen Familienangehörigen des BF wohnen, mit denen er in Kontakt stehe. Zudem habe er Cousins in Österreich und in Deutschland.

Befragt zu seinen Fluchtgründen brachte der BF vor, dass er einerseits wegen der schlechten Sicherheitslage Kabul verlassen habe, andererseits wegen der Bedrohung durch die Taliban aufgrund der Tätigkeit seines Vaters als Kommandant bei der Nationalarmee. Die Taliban hätten seinen Vater bedroht und verlangt, dass dieser seine Beschäftigung beende und sich ihnen anschließe. Auch seien der BF und andere Familienmitglieder von unbekannten Personen überwacht worden. Die Taliban hätten den BF entführt und seinen Vater deswegen erpresst. Der Sohn eines Arbeitskollegen seines Vaters sei ebenfalls entführt und anschließend getötet worden. Darüber hinaus sei der BF bei einem Selbstmordanschlag verletzt worden und seien zwei seiner Schulkollegen bei einem anderen Anschlag in Kabul umgekommen.

Wenn er nach Afghanistan zurückkehren würde, würde er für die Regierung gegen andere Gruppierungen kämpfen müssen und er würde wegen der schlechten Sicherheitslage verletzt oder getötet werden.

Als Beweismittel für sein Fluchtvorbringen legte der BF Fotos aus Afghanistan (zeigend seinen Vater, seine verstorbene Mutter und seinen verstorbenen Bruder) vor.

Zu seiner Integration in Österreich befragt gab der BF an, dass er Deutsch mithilfe von Youtube lerne, Bücher über die österreichische Kultur und das Alltagsleben lese sowie Sport betreibe. Mit seinen Cousins in Österreich telefoniere er. Der BF wolle die Sprache lernen und danach als Schneider, Taxifahrer oder Tischler arbeiten.

Der BF verzichtete auf die Einsicht in „die Länderfeststellungen zur Situation in seinem Heimatland“ und die Möglichkeit der Abgabe einer Stellungnahme dazu.

1.9. Am 03.04.2018 brachte der BF eine Kopie seiner Tazkira (afghanisches Personaldokument) und eines Schreibens eines Dorfverantwortlichen zu seiner Identität und seinem Fluchtvorbringen aus dem Jahre 2018 in das Verfahren vor dem BFA ein.

Laut der vom BFA veranlassten Übersetzung (Aktenvermerk vom 05.04.2018) bestätigt der Dorfverantwortliche in seinem Schreiben, dass der BF bei einem Selbstmordanschlag verletzt worden sei.

1.10. Mit Bescheid vom 19.04.2018 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 09.06.2016 ab und erkannte ihm weder gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) noch gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt II.). Das BFA erteilte dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (in der Folge BFA-VG) wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.). Zudem stellte das BFA gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse – im Gegensatz zu seinen Altersangaben und seinem Fluchtvorbringen – glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Sein Fluchtvorbringen beurteilte das BFA als unglaubhaft. Die Flucht des BF sei vielmehr aufgrund der allgemeinen Lage in Kabul erfolgt. Zwar sei glaubhaft, dass der Vater des BF für die Nationalarmee gearbeitet habe, die Angaben des BF zur Bedrohung durch die Taliban wegen der Tätigkeit seines Vaters und zu seiner Entführung seien jedoch sehr vage, wenig detailreich und nicht nachvollziehbar. Der BF habe sich in zeitliche und inhaltliche Widersprüche verstrickt. Insbesondere habe sich die behauptete Entführung nie ereignet.

Eine Zwangsrekrutierung durch den afghanischen Staat im Falle einer Rückkehr schloss das BFA gestützt auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA aus. Die Herkunftsprovinz des BF erscheine hinreichend sicher und er verfüge über dort ansäßige Familienangehörige, weswegen dem BF eine Niederlassung in Kabul möglich sei.

1.11. Gegen diesen Bescheid erhob der BF mit Schreiben seiner damaligen Vertreterin vom 17.05.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit, unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie „der Verletzung von Verfahrensvorschriften“.

In der Beschwerdebegründung wurde zusammengefasst ausgeführt, dass die Taliban dem BF wegen seiner Familienzugehörigkeit eine feindliche Gesinnung unterstellen würden und der BF deswegen verfolgt werde. Darüber hinaus drohe dem BF aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Tadschiken, seines Gesundheitszustandes und der Unterstellung einer westlichen Gesinnung wegen seines mehrjährigen Aufenthaltes in Europa Diskriminierung bzw. Verfolgung. Das BFA habe sich nicht ausreichend mit dem Fluchtvorbringen des BF auseinandergesetzt. Zudem sei die Sicherheitslage in Kabul weiterhin volatil und eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe ihm nicht offen. Deswegen hätte dem BF internationaler Schutz nach § 3 AsylG bzw. § 8 AsylG gewährt werden müssen.

Des Weiteren habe das BFA ungeachtet des Verhaltens des BF während der Einvernahme und der vorgelegten medizinischen Unterlagen weder ein fachärztliches Gutachten zur Abklärung seines psychischen Gesundheitszustandes eingeholt noch geklärt, ob eine Behandlung in Afghanistan möglich sei.

In seiner unschlüssigen Beweiswürdigung habe sich das BFA unreflektiert auf Widersprüche zwischen der Erstbefragung und der Einvernahme gestützt und hätte die psychische Verfassung des BF berücksichtigen müssen. Hinsichtlich der ausgeführten Verstrickung in zeitliche Ungereimtheiten sei anzumerken, dass Zeitangaben in Afghanistan nicht mit österreichischen Maßstäben zu messen seien. Weiters sei die Heranziehung des Gefühlsausdrucks des BF zur Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit aus psychologischer Sicht nicht indiziert. Das BFA hätte auch die Identität des BF feststellen und die Unterstützungsfähigkeit bzw. -willigkeit seiner Verwandten konkret prüfen müssen.

Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

1.12. Das BFA legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor und verzichtete mit Schreiben vom 24.05.2018 vorab auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung und stellte keinen Antrag auf Abweisung der gegenständlichen Beschwerde.

1.13. Das BVwG führte am 07.06.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung in Anwesenheit eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF mit seiner Vertreterin zu Beginn der Verhandlung persönlich erschien. Letztere war im weiteren Verlauf an der Teilnahme an der Verhandlung verhindert, und der BF verzichtete auf ihre weitere Anwesenheit.

Auf richterliche Befragung machte der BF Angaben zu seiner Person, seiner Herkunft und zu seinen Lebensumständen, die mit seinen bisher im Verfahren gemachten Aussagen weitgehend übereinstimmten. Allerdings gab der BF an, im Herkunftsstaat nicht gearbeitet zu haben. Sein Vater sei für den Unterhalt der Familie aufgekommen.

Er sei in Afghanistan im Dorf SHINA, Distrikt Bagrami, Provinz Kabul geboren. Als er ein Kind gewesen sei, sei die Familie dann in die Stadt Kabul gezogen. Mit seinem Vater habe der BF keinen Kontakt mehr, weil er ihn nicht erreiche.

Der BF gab zu seinem Gesundheitszustand befragt an, dass er Depressionen habe, regelmäßig zum Arzt gehen und die Medikamente Trittico Retard und Sertralin einnehme. Diese legte er dem erkennenden Richter vor sowie eine Bestätigung über ein psychotherapeutisches Erstgespräch vom 15.10.2020.

Befragt zu seinen Fluchtgründen hielt der BF grundsätzlich seine Angaben vor dem BFA aufrecht. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan sei sein Leben nicht sicher, weil er von den Taliban immer wieder angerufen und bedroht worden sei. Diese würden ihn wegen der Tätigkeit seines Vaters für die Nationalarmee suchen, verfolgen und verlangen, dass er Selbstmordattentate durchführe. Hin und wieder sei er sich verfolgt vorgekommen. Der Arbeitskollege seines Vaters sei von den Taliban erpresst und dessen Sohn entführt und getötet worden. Seine Leiche sei mitten in Kabul vor deren Haus geworfen worden.

Der BF brachte bezüglich seines Fluchtvorbringens weitere zwei Fotos, welche seinen Vater in Uniform bzw. in Begleitung anderer Soldaten zeigen würden, in das Verfahren ein.

Ebenfalls legte der BF eine Kopie seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 28.03.2018 vor, in der er handschriftlich Protokollierungsfehler markiert habe. Diese wurden im Rahmen der Beschwerdeverhandlung besprochen und erwiesen sich als nicht entscheidungswesentlich.

Zu einer Integration in Österreich befragt führte der BF aus, Deutschkurse besucht zu haben und dass er die Prüfung auf Niveau A1 ablegen werde. Zudem habe er gemeinnützige Tätigkeiten für eine Gemeinde ausgeübt und helfe österreichischen Freunden mehrmals wöchentlich, zum Beispiel bei Gartenarbeiten. Sie würden ihm Deutsch beibringen. Überdies spiele der BF Fußball mit Freunden, gehe Laufen und Spazieren und vernetze sich auf Facebook. Aufgrund seiner psychischen Verfassung sei er aber in seinen Aktivitäten eingeschränkt.

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Dem BF wurde zur Vorlage von Integrationsbelegen und diverser Belege zu seinem Gesundheitszustand eine Frist eingeräumt.

Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt. Es hat keine Stellungnahme abgegeben.

1.14. Mit Schreiben vom 21.06.2021 legte der BF zu seinem Gesundheitszustand einen Ambulanzbefund des LKH Villach, Abteilung Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin vom 11.05.2021 vor, wonach er an einer Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) leide, und es wurden ihm Psychopharmaka verschrieben. Im Rahmen der Anamnese wurde festgehalten, dass sich er in regelmäßiger psychologischen Betreuung und in Psychotherapie bei ASPIS befinde. Weiters legte der BF bezüglich seiner Integration eine Bescheinigung über seine Mitarbeit im Wirtschaftshof einer Gemeinde und ein Empfehlungsschreiben seiner ehemaligen ehrenamtlichen Betreuerin vor, wonach der BF mit ihr weiterhin freundschaftlich verbunden sei.

Auch diese Eingabe wurde dem BFA übermittelt.

1.15. Am 02.08.2021 legte der BF betreffend seine Integration eine Bestätigung über seine Mitarbeit im Rahmen eines Vereins sowie betreffend seinen Gesundheitszustand einen Ambulanzbefund des LKH Villach, Abteilung Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin vom 14.06.2021 vor, in dem unter anderem die Steigerung der Medikation empfohlen wurde.

Diese Eingabe wurde ebenfalls dem BFA übermittelt.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

?        Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 09.06.2016 und der Einvernahme vor dem BFA am 28.03.2018, die vom BF vorgelegten Belege zu seinem Fluchtvorbringen und zu seinem Gesundheitszustand, den angefochtenen Bescheid sowie die gegenständliche Beschwerde

?        Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA, Aktenseiten 282 bis 361)

?        Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 07.06.2021 sowie Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren vorgelegten Belege zu seinem Fluchtvorbringen, seinem Gesundheitszustand und zu seiner Integration in Österreich

?        Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 07.06.2021 zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

o        Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat (Auszüge aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA, Stand 02.04.2021)

o        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Sippenhaft durch Taliban von Familienmitgliedern von (angeblichen) Unterstützern der Regierungstruppen, insbesondere in der Provinz Nangarhar (Personengruppen, die von der Sippenhaft betroffen bzw. ausgeschlossen sind; Ausnahmen für Kinder [ggf. Altersgrenze] und geistig bzw. körperlich behinderte männliche Personen) [a-10266-v2] vom 30.08.2017

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Das BVwG geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen, glaubhaft gemachten Sachverhalt aus:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an, bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam und ist ledig. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht zudem auch etwas Paschtu und Deutsch. Die Mutter des BF und ein Bruder sind verstorben. In der Heimatprovinz des BF leben seine Stiefmutter, zwei Schwestern und ein Bruder sowie ein Halbbruder, eine Halbschwester und seine Großeltern.

Der BF war zuerst mit seiner Familie im Distrikt Bagrami in der Provinz Kabul wohnhaft. Als er noch ein Kind war, zog seine Familie in die Stadt Kabul, wo er bis zu seiner Ausreise lebte. Zehn Jahre lang besuchte der BF die Schule. Sein Vater arbeitete bei der afghanischen Nationalarmee und kam so für den Unterhalt der Familie auf.

3.1.2. Der BF verließ Afghanistan aus angegebenen Gründen und reiste nach Europa, wo er am 09.06.2016 in Österreich gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

3.1.3. Laut aktuellen Ambulanzbefunden des LKH Villach, Abteilung Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin vom 11.05.2021 bzw. 14.06.2021, leidet der BF an einer Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1). Diese wurde bei dem BF bereits im Jahre 2017 diagnostiziert, und er befand sich damals auch in stationärer Behandlung. Ihm wurden Psychopharmaka verordnet, und er steht in regelmäßiger ärztlicher Behandlung.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat nicht inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit Probleme. Er war nicht politisch tätig und gehörte nicht einer politischen Partei an.

3.2.2. Der BF hat sein Vorbringen, dass er wegen der Tätigkeit seines Vaters bei der afghanischen Nationalarmee von den Taliban bedroht und entführt worden sei, nicht hinreichend glaubhaft gemacht.

3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

3.3.1. Es konnte vom BF nicht glaubhaft gemacht werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung – etwa aus den oben in Punkt 3.2.2. angeführten Gründen – aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.

3.3.2. Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein relevanter Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig.

Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land, und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.

Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Es liegen keine Gründe vor, nach denen der BF von der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auszuschließen wäre.

3.4. Zur Integration des BF in Österreich:

3.4.1. Der BF ist seit Juni 2016 in Österreich aufhältig. Er ist als relativ junger Mann nach Österreich gekommen und hat trotz seiner psychischen Probleme ernsthaft und erfolgreich Integrationsbemühungen gesetzt.

Der BF hat sich um seine Weiterbildung bemüht. Der BF bildet sich über Youtube fort und liest Bücher über die österreichische Kultur und das hiesige Alltagsleben. Er arbeitete 19 Monate gemeinnützig im Wirtschaftshof einer Gemeinde. Seit April 2021 hilft der BF in einem Verein bei diversen Arbeiten. Derzeit ist er bestrebt, seine Deutschprüfung auf Niveau A1 abzulegen. Auch unterstützt er seine österreichischen Freunde, zum Beispiel indem er Gartenarbeiten für sie erledigt. Diese unterstützen ihn auch beim Erlernen der deutschen Sprache. In seiner Freizeit betreibt der BF Sport, insbesondere geht er Laufen und Spazieren und spielt mit Freunden Fußball. Er vernetzt sich ebenfalls auf Facebook. Aufgrund seiner vorliegenden psychischen Situation ist er aber in der Ausübung von Aktivitäten eingeschränkt.

Mit seinem Vater in Afghanistan hat der BF keinen Kontakt.

3.4.2. Der BF ist irregulär in das Bundesgebiet eingereist. Das Vorliegen schwerwiegender Verwaltungsübertretungen ist nicht bekannt. Er ist strafgerichtlich unbescholten.

3.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

3.5.1. Sonderkurzinformation der Staatendokumentation [des BFA] vom 17.08.2021 zur aktuellen Lage in Afghanistan (Schreibfehler teilweise korrigiert):

„Anbei eine Zusammenfassung zur derzeitigen Lage in Afghanistan. Diese kann sich aufgrund der derzeit sehr volatilen Lage im Land jederzeit rasch ändern!

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme, und keine Racheakte an irgendjemandem zu begehen (tagesschau.de 15.08.2021).

Am 15.08.2021 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.08.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.08.2021).

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.08.2021a).

Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 07.07.2021 und dem 09.08.2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).

Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.08.2021b).

Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.08.2021).

Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet, und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen, ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.08.2021).

Laut Treffen mit Frontex kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf, die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.08.2021a).

IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.08.2021).

Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.08.2021).“

3.5.2. Kurzinformation der Staatendokumentation [des BFA] vom 20.08.2021 zu aktuellen Entwicklungen und Informationen in Afghanistan (Schreibfehler teilweise korrigiert):

„Aktuelle Lage

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a). Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).

Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.08.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).

Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).

Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach „Kollaborateuren“. In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens zwölf Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d). Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.08.2021).

Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es, die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (£ Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SR- Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17.09.2021 (VN 18.08.2021).

Exkurs:

Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban-Führer auch nach außen auf.

Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu‘minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia-Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird. Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die Taliban-Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht.

Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban-Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an.

Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).

Stärke der Taliban-Kampftruppen

Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b). [...]“

3.5.3. UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021

„Einleitung

1. Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten. Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern. UNHCR ist besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern, sowie an Afghaninnen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung oder den internationalen Streitkräften in Afghanistan oder mit internationalen Organisationen im Land in Verbindung stehen oder standen.

2. Aufgrund des Konflikts sind seit Anfang 2021 Schätzungen zufolge über 550.000 Afghaninnen innerhalb des Landes neu vertrieben worden, davon 126.000 neue Binnenvertriebene allein zwischen 7. Juli und 9. August 2021. Während es bis dato noch keine genauen Zahlen gibt, wie viele Afghaninnen das Land aufgrund der Kampfhandlungen und Menschenrechtsverletzungen verlassen haben, haben Berichten zufolge zehntausende Afghaninnen in den letzten Wochen die Landesgrenzen überschritten.

Zugang zum Staatsgebiet und zu internationalem Schutz

3. Da die Situation in Afghanistan instabil und unsicher bleibt, fordert UNHCR alle Länder dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes durchgehend sicherzustellen. UNHCR weist auf die Notwendigkeit hin zu gewährleisten, dass das Recht, Asyl zu beantragen, nicht eingeschränkt wird, dass Grenzen offengehalten werden und dass Personen, die internationalen Schutzbedarf haben, nicht in Gebiete innerhalb ihres Herkunftslands zurückgedrängt werden, die möglicherweise gefährlich sind. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu berücksichtigen, dass Staaten auch gemäß Völkergewohnheitsrecht verpflichtet sind, die Grenzen für die vor dem Konflikt fliehende Zivilbevölkerung offen zu halten und Flüchtlinge nicht zwangsweise zurückzuführen. Der Non-Refoulement-Grundsatz beinhaltet auch die Nicht-Zurückweisung an der Grenze.

4. Alle Anträge auf internationalen Schutz von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan sollten in fairen und effizienten Verfahren im Einklang mit internationalem und regionalem Flüchtlingsrecht behandelt werden. UNHCR ist besorgt, dass die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan zu einem Anstieg des internationalen Schutzbedarfs von Personen, die aus Afghanistan fliehen, führen - sei es als Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention oder regionalen Flüchtlingsabkommen, sei es als anderweitig international Schutzberechtigte. Das gleiche gilt für diejenigen, die sich bereits vor der jüngsten Eskalation der Gewalt in Afghanistan in Abnahmeländern befanden. Vor dem Hintergrund der volatilen Situation in Afghanistan begrüßt UNHCR den Schritt einiger Aufnahmeländer, Entscheidungen über den internationalen Schutzbedarf von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und zuverlässige Informationen über die Sicherheits- und Menschenrechtslage verfügbar sind, um den internationalen Schutzbedarf der einzelnen Antragsteller*innen zu prüfen. Aufgrund der Unbeständigkeit der Situation in Afghanistan hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- oder Neuansiedlungsperspektive zu verwehren.

5. Bei Personen, deren Asylgesuch vor den jüngsten Geschehnissen abgelehnt wurde, kann die aktuelle Situation in Afghanistan zu einer Änderung der Umstände führen, die im Rahmen eines Folgeantrags zu berücksichtigen sind.

6. Es kann Personen geben, die mit Taten in Verbindung stehen, aufgrund derer sie unter die Ausschlussklauseln von Artikel 1 F der Genfer Flüchtlingskonvention fallen. In diesen Fällen wird es notwendig sein, Fragen betreffend die persönliche Verantwortung für Verbrechen, die einen Ausschluss vom Flüchtlingsschutz begründen können, sorgfältig zu prüfen. Um den zivilen Charakter von Asyl zu bewahren, sollten Staaten zudem die Situation der Ankommenden sorgfältig prüfen, um bewaffnete Elemente zu identifizieren und diese von der geflüchteten Zivilbevölkerung zu trennen.

Empfehlung eines Abschiebestopps

7. Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der sich abzeichnenden humanitären Notlage fordert UNHCR die Staaten dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen - auch für jene, deren Asylanträge abgelehnt wurden. Ein Moratorium für zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan sollte bestehen bleiben, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und geprüft wurde, wann die geänderten Umstände im Land eine Rückkehr in Sicherheit und Würde erlauben würden. Die Hemmung von zwangsweisen Rückführungen stellt eine Mindestanforderung dar, die bestehen bleiben muss, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert haben, sodass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde von Personen, bei denen kein internationaler Schutzbedarf festgestellt wurde, gewährleistet werden kann.

8. In Übereinstimmung mit den Zusagen der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen im Rahmen des Globalen Flüchtlingsforums, die Verantwortung für den internationalen Flüchtlingsschutz gerecht aufzuteilen, hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanische Staatsangehörige und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan zwangsweise in Länder in der Region zurückzuführen, auch in Anbetracht der Tatsache, dass Länder wie der Iran und Pakistan jahrzehntelang großzügig die überwiegende Mehrheit der Gesamtzahl afghanischer Flüchtlinge weltweit aufgenommen haben.

9. UNHCR wird die Situation in Afghanistan weiterhin beobachten, um den internationalen Schutzbedarf, der sich aus der aktuellen Situation ergibt, zu prüfen.“

3.5.4. Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 02.04.2021 (Schreibfehler teilweise korrigiert):

„Regierungsfeindliche Gruppierungen

Letzte Änderung: 01.04.2021

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019).

Taliban

Letzte Änderung: 25.02.2021

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019), und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.05.2020, AnA 28.07.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020).

Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jalaluddin Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020, RFE/RL 02.06.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.04.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 05.03.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 09.06.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen absolviert haben und ethnische Paschtunen sind (EASO 8.2020c; vgl. Osman 01.06.2020). Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 (EASO 8.2020c; vgl. NYT 12.09.2019) oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020, UNSC 27.05.2020). Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).

Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40% zurückgegangen. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte sein, dass keine komplexen und Selbstmordattentate in den großen Städten des Landes durchgeführt werden. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.01.2021). […]

Ethnische Gruppen

Letzte Änderung: 01.04.2021

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Mio. Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 16.02.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 16.02.2021). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.07.2020).

Art. 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ,Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (STDOK 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 02.09.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 11.03.2020).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 16.07.2020). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 11.03.2020). […]

Tadschiken

Letzte Änderung: 01.04.2021

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan (MRG o.D.d; vgl. RFE/RL 09.08.2019) und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land (MRG o.D.d). Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.d). Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan (Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul) bilden Tadschiken in weiten Teilen des Landes ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit (GIZ 4.2019).

Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.d). Heute werden unter dem Terminus täjik „Tadschike“ fast alle Dari/Persisch- sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (STDOK 7.2016).

Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten (MRG o.D.d). Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (BI 29.09.2017). […]

COVID-19

Letzte Änderung: 31.03.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation, bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.09.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.01.2021; cf. UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.02.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.03.2021; vgl. HRW 14.01.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 08.02.2021; cf. IOM 18.03.2021).

Die Infektionen steigen weiter an, und bis zum 17.03.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.03.2021; WHO 17.03.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.03.2021)

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.03.2021; vgl. WB 28.06.2020). Allerdings b

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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