TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/25 W152 2169750-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.10.2021
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Entscheidungsdatum

25.10.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §13 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
NAG §81 Abs36
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1

Spruch


W152 2169750-1/13E

W152 2177559-1/13E
W152 2177560-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Walter KOPP über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , und 3. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Volksrepublik China, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.08.2017, Zl. 830569603-1648165 (ad 1.), und jeweils vom 23.10.2017, Zlen. 830569505-1648173 (ad 2.) und 1050350801-150067523 (ad 3.), nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.10.2021

A)

beschlossen:

I. Die Verfahren werden wegen Zurückziehung der Beschwerden gemäß § 13 Abs. 7 AVG idgF iVm §§ 28 Abs. 1 und 31 Abs. 1 VwGVG idgF hinsichtlich der jeweiligen Spruchpunkte I und II der angefochtenen Bescheide eingestellt.

zu Recht erkannt:

II. Den Beschwerden wird jeweils hinsichtlich der Spruchpunkte III der angefochtenen Bescheide stattgegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung jeweils gemäß
§ 52 FPG idgF iVm § 9 BFA-VG idgF auf Dauer unzulässig ist. XXXX wird gemäß §§ 58 Abs. 2, 54 Abs. 1 Z 1 und 55 Abs. 1 AsylG 2005 idgF iVm § 81 Abs. 36 NAG idgF und XXXX und XXXX werden jeweils gemäß §§ 58 Abs. 2, 54 Abs. 1 Z 1 und 55 Abs. 1 AsylG 2005 idgF iVm § 9 Abs. 4 letzter Satz IntG idgF iVm § 10 Abs. 2 Z 3 IntG idgF jeweils der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt.

III. Die jeweiligen Spruchpunkte IV der angefochtenen Bescheide werden gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG idgF ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist jeweils gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG idgF nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

Der Erstbeschwerdeführer stellte nach drei „Dublin“-Verfahren am 02.05.2013 abermals einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer, die bereits im Bundesgebiet geboren wurden und ihr gesamtes Leben in Österreich verbrachten, stellten am 02.05.2013 (Zweitbeschwerdeführerin) bzw. 22.01.2015 (Drittbeschwerdeführer) jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, wies dann mit den im Spruch genannten Bescheiden jeweils die Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des bzw. der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm
§ 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 wurden jeweils die Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des bzw. der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Volksrepublik China abgewiesen (Spruchpunkt II), wobei weiters ausgesprochen wurde, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Antragsteller gemäß § 46 FPG in die Volksrepublik China zulässig sei (Spruchpunkt III). Gemäß
§ 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise jeweils 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV).

Gegen die zuletzt genannten Bescheide wurden fristgerecht Beschwerden erhoben.

Im Rahmen der vor dem Bundesverwaltungsgericht am 15.10.2021 vorgenommenen Verhandlung zog der Vertreter des Erstbeschwerdeführers und gesetzlichen Vertreters der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers die Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte I und II der angefochtenen Bescheide zurück.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Feststellungen (Sachverhalt):

Der strafgerichtlich unbescholtene Erstbeschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Volksrepublik China, hält sich mit Unterbrechungen seit dem Jahre 2005 in Österreich auf, wobei er seit Oktober 2010 durchgehend im Bundesgebiet aufhältig ist. Nachweislich ist der Erstbeschwerdeführer jedenfalls seit April/Mai 2013 durchgehend im Bundesgebiet aufhältig, wobei dem Aufenthalt im zuletzt genannten Zeitraum das gegenständliche Verfahren zu Grunde lag.

Der Erstbeschwerdeführer ist der Vater der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers, die beide bereits in Österreich geboren wurden, wo sie ihr gesamtes Leben verbrachten. Der Erstbeschwerdeführer lebt mit Frau XXXX , geb. XXXX , StA. Volksrepublik China, die die Mutter der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers ist und die den Erstbeschwerdeführer bereits seit zwölf Jahren kennt, in einer Lebensgemeinschaft, wobei bereits seit acht Jahren ein gemeinsamer Haushalt besteht. Der Erstbeschwerdeführer, seine Lebensgefährtin, die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer sind nunmehr jeweils an der Adresse XXXX Wien, XXXX , gemeldet, wo sie gemeinsam mit dem über eine „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“ verfügenden Vater der Lebensgefährtin – XXXX , geb. XXXX , StA. Volksrepublik China – wohnen. Der Erstbeschwerdeführer hat auch ein gutes Verhältnis zum Vater sowie zum über eine Karte „Daueraufenthalt EU“ verfügenden Bruder, XXXX , geb. XXXX , StA. Volksrepublik China, seiner Lebensgefährtin, die sich gegenwärtig in einem Verfahren hinsichtlich deren am 08.03.2019 gestellten Erstantrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 befindet, das mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, vom 25.11.2020, Zl. 781152101-190237991, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Anträge der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 38 AVG ausgesetzt wurde.

Der Erstbeschwerdeführer besuchte mehrere Deutschkurse und erwarb bereits am 01.09.2015 das ÖSD-Zertifikat A2 Deutsch, wobei er die diesbezügliche Prüfung mit dem Kalkül „gut“ absolvierte.

Die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer besuchen derzeit die Volksschule in XXXX Wien, XXXX .

Für den Erstbeschwerdeführer liegen bereits zwei (aufschiebend bedingte) Dienstverträge der Gastronomiebetriebe „ XXXX “, XXXX Wien XXXX , und „ XXXX .“, XXXX Wien, XXXX , vor, die bei einer Arbeitswoche von 40 Stunden jeweils einen Bruttomonatslohn von € 1.700,-- vorsehen. In jedem Fall wäre schon allein dadurch die Existenz für den Erstbeschwerdeführer und auch seiner Familie gesichert.

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und durch die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 15.10.2021.

Die Feststellungen zu den Beschwerdeführern ergeben sich neben der Einsichtnahme in die jeweiligen Verwaltungsakten des Bundesamtes insbesondere aus dem im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung erstatteten glaubwürdigen Vorbringen des Erstbeschwerdeführers und gesetzlichen Vertreters der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers, der in der Verhandlung vorgenommenen zeugenschaftlichen Einvernahme der Lebensgefährtin des Erstbeschwerdeführers und Mutter der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers, XXXX , geb. XXXX , StA. Volksrepublik China, und den in den Verfahren vorgelegten Urkunden, wobei insbesondere der (auch im Original) vorgelegte chinesische Reisepass des Erstbeschwerdeführers, die Kopien der chinesischen Reisepässe der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers, die Geburtsurkunden der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers, das in Kopie im Verwaltungsakt des Bundesamtes einliegende entscheidungswesentliche ÖSD-Zertifikat A2 Deutsch vom 01.09.2015 des Erstbeschwerdeführers und sein diesbezüglicher (auch im Original) vorgelegter Ausweis, die entscheidungswesentlichen Bestätigungen des Schulbesuches der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers im Schuljahr 2021/2022 der Volksschule in XXXX Wien, XXXX , und die in den Feststellungen angeführten (aufschiebend bedingten) Dienstverträge des Erstbeschwerdeführers hervorzuheben sind.

Die strafgerichtliche Unbescholtenheit des Erstbeschwerdeführers ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister (SA).

Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz, BGBl. I Nr. 10/2013 (BVwGG), entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I 33/2013 idgF (VwGVG), geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, unberührt.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991, BGBl. 51/1991 (AVG), mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961 (BAO), des Agrarverfahrensgesetzes, BGBl. Nr. 173/1950 (AgrVG), und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984, BGBl. Nr. 29/1984 (DVG), und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.

Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.

Zu Spruchpunkt A):

I.)

Gemäß § 13 Abs. 7 AVG können Anbringen in jeder Lage des Verfahrens zurückgezogen werden.

In welchen Fällen das Verfahren einzustellen ist, regelt das VwGVG nicht. Die Einstellung steht am Ende jenes Verfahrens, in denen ein Erledigungsanspruch nach Beschwerdeeinbringung verloren geht, worunter auch der Fall der Zurückziehung der Beschwerde zu subsumieren ist (vgl. Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren, 2. Aufl. [2018] § 28 VwGVG, Anm. 5).

Ein beim Verwaltungsgericht anhängiges Beschwerdeverfahren ist mit Beschluss einzustellen, wenn die Beschwerde rechtswirksam zurückgezogen wird (z.B. VwGH 29.04.2015,
Fr 2014/20/0047).

Da der Vertreter des Erstbeschwerdeführers und gesetzlichen Vertreters der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers die Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte I und II der angefochtenen Bescheide zurückgezogen hat, sind diese rechtskräftig geworden und die diesbezüglichen Verfahren gemäß § 13 Abs. 7 AVG iVm §§ 28 Abs. 1 und 31 Abs. 1 VwGVG mit Beschluss einzustellen.

II.)

§ 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG idgF lautet:

„(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1.       die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2.       das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3.       die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4.       der Grad der Integration,

5.       die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6.       die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7.       Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8.       die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9.       die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.“

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem auch, dass das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer „Familie“ voraussetzt.

Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität erreichen. Als Kriterien hiefür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 31110/67, Yb 11, 494(518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde auch von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

Art. 8 EMRK macht zwischen ehelicher und nichtehelicher Familie keinen Unterschied (EGMR 13.06.1979, 6833/74, Marckx gg Belgien, Z 31; EGMR 27.10.1994, 18535/91, Kroon und andere gg die Niederlande). Familienleben ist jedoch nicht auf Beziehungen beschränkt, die auf einer Ehe beruhen (EGMR 26.05.1994, 16.969/90, Keegan vs Irland, EGMR 13.07.2000, 25.735/94, Elsholz gg Deutschland) und umfasst daher auch eheähnliche Lebensgemeinschaften zwischen Mann und Frau.

Bei der Prüfung der Zulässigkeit von Ausweisungen und dem damit verbundenen Eingriff in das Privat- und Familienleben hat eine Einzelfallprüfung zu erfolgen, die sich nicht in der formelhaften Abwägung iSd Art. 8 EMRK erschöpfen darf, sondern auf die individuelle Lebenssituation des von der Ausweisung Betroffenen eingehen muss. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 29.09.2007, B328/07, dargelegt hat, lassen sich aus der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes eine Vielzahl von Kriterien ableiten, die bei der gebotenen Interessensabwägung zu beachten sind. Dazu zählen vor allem die Aufenthaltsdauer, die an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft ist (EGMR vom 31.01.2006, 50.435/99), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR vom 28.05.1985, 9214/80, 9473/81, 9474/81 ua.) und dessen Intensität (EGMR vom 02.08.2001, 54.273/00), der Grad der Integration, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schul- oder Berufsausbildung, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (EGMR vom 04.10.2001, 43.359/98 ua.), die Bindung zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und die Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR vom 24.11.1998, 40.447/98 ua.) und die Frage, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (EGMR vom 24.11.1998, 40.447/98 ua.).

Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (VwGH 26.02.2015, Ra 2015/22/0025; VwGH 19.11.2014, 2013/22/0270). Auch in Fällen, in den die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag, hat der VwGH eine entsprechende Berücksichtigung dieser langen Aufenthaltsdauer gefordert (VwGH 16.12.2014, 2012/22/0169; VwGH 09.09.2014, 2013/22/0247; VwGH 30.07.2014, 2013/22/0226). Im Fall, dass ein insgesamt mehr als zehnjähriger Inlandsaufenthalt für einige Monate unterbrochen war, legte der VwGH seine Judikatur zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehnjährigen Inlandaufenthalt des Fremden zugrunde (VwGH 26.03.2015, Ra 2014/22/0078 bis 0082).

Da der strafgerichtlich unbescholtene Erstbeschwerdeführer nunmehr bereits seit
Oktober 2010 – somit seit mehr als zehn Jahren – ohne Unterbrechung in Österreich lebt, wobei dem Aufenthalt des Erstbeschwerdeführers seit 02.05.2013 das gegenständliche Verfahren zu Grunde lag, und die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer bereits im Bundesgebiet geboren wurden und ihr gesamtes Leben in Österreich verbrachten, der Erstbeschwerdeführer bereits am 01.09.2015 das ÖSD-Zertifikat A2 Deutsch mit dem Kalkül „gut“ erwarb und die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer in Wien die Volksschule besuchen und für den Erstbeschwerdeführer bereits auch zwei (aufschiebend bedingte) Dienstverträge vorliegen, die die Existenzsicherung der Beschwerdeführer gewährleisten, wobei die Interessen der Beschwerdeführer insbesondere angesichts der bereits sehr langen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet somit die öffentlichen Interessen überwiegen, würde eine Rückkehrentscheidung jeweils eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen. Daraus ergibt sich, dass die vorliegenden Umstände nicht bloß vorübergehende sind, weshalb die Rückkehrentscheidungen auf Dauer als unzulässig festzustellen sind.

Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 ist von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird.

Aus den Erläuterungen zur Regierungsvorlage zum FrÄG 2015 ergibt sich hiezu, dass damit zusätzlich klargestellt werden soll, dass auch das Bundesverwaltungsgericht – in jeder Verfahrenskonstellation – über einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 absprechen darf. Es handelt sich hiebei jedoch nicht um eine Einräumung einer amtswegigen Entscheidungszuständigkeit für das Bundesverwaltungsgericht, welche entsprechend dem Prüfungsbeschluss des VfGH vom 26. Juni 2014 (E 4/2014) als unzulässig zu betrachten wäre, da die Frage der Erteilung des Aufenthaltstitels diesfalls vom Prüfungsgegenstand einer angefochtenen Rückkehrentscheidung mitumfasst ist und daher in einem zu entscheiden ist.

Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 ASVG) erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist gemäß Abs. 2 eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.

Gemäß § 81 Abs. 36 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) gilt das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG als erfüllt, wenn Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 68/2017 vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 68/2017 erfüllt haben oder von der Erfüllung ausgenommen waren. Die §§ 7 bis 16 Integrationsgesetz, BGBl. Nr. 68/2017, mit Ausnahme von § 13 Abs. 2 traten mit 01.10.2017 in Kraft.

Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung war gemäß § 14a Abs. 4 NAG idF vor dem Bundesgesetz, BGBl. Nr. 68/2017, erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige einen Deutsch-Integrationskurs besucht und einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über den erfolgreichen Abschluss des Deutsch-Integrationskurses vorlegt (Z 1), einen allgemein anerkannten Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse gemäß § 14 Abs. 2 Z 1 NAG vorlegt (Z 2), über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 des Universitätsgesetzes 2002, BGBl. I 120, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht (Z 3) oder einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte“ gemäß § 41 Abs. 1 oder 2 NAG besitzt (Z 4).

Die Beschwerdeführer erfüllen somit jedenfalls jeweils die Voraussetzung des § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005.

Gemäß § 9 Abs. 4 letzter Satz IntG beinhaltet die Erfüllung des Moduls 2 (§ 10) das Modul 1.

Gemäß § 10 Abs. 2 Z 3 IntG ist das Modul 2 der Integrationsvereinbarung erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige minderjährig ist und im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht eine Primarschule (§ 3 Abs. 3 Schulorganisationsgesetz (SchOG), BGBl. Nr. 242/1962) besucht oder im vorangegangenen Semester besucht hat.

Gemäß § 3 Abs. 3 Z 1 SchOG ist die Volksschule bis einschließlich der 4. Schulstufe eine Primarschule.

Gemäß § 54 Abs. 1 AsylG 2005 werden Drittstaatsangehörigen folgende Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt:

1. „Aufenthaltsberechtigung plus", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG), BGBl. Nr. 218/1975 berechtigt;

2. „Aufenthaltsberechtigung", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt;

3. „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt.

Gemäß Abs. 2 leg. cit. sind diese Aufenthaltstitel für die Dauer von zwölf Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen.

Da der Erstbeschwerdeführer das ÖSD-Zertifikat A2 Deutsch bereits am 01.09.2015 und somit vor dem maßgeblichen 01.10.2017 erwarb, erfüllt er (auch) die Voraussetzung gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm § 81 Abs. 36 NAG zur Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“, weshalb ihm somit gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen ist.

Da die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer jeweils minderjährig sind und im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht jeweils eine Primarschule, d.h. eine Volksschule, besuchen, erfüllen diese gemäß § 10 Abs. 2 Z 3 IntG das Modul 2 der Integrationsvereinbarung und somit iVm § 9 Abs. 4 letzter Satz IntG (auch) die Voraussetzung gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 zur Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“, weshalb diesen somit gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 jeweils der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen ist.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat den Beschwerdeführern die Aufenthaltstitel gemäß § 58 AsylG 2005 auszufolgen. Die Aufenthaltstitel gelten gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 zwölf Monate lang, beginnend mit dem Ausstellungsdatum.

III.)

Im Hinblick auf Spruchpunkt A) II. der gegenständlichen Entscheidung waren die jeweiligen Spruchpunkte IV der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos zu beheben.

Zu Spruchpunkt B):

Gemäß § 25a Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985, BGBl. Nr. 1985/10 idgF (VwGG), hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung; die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Schließlich liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Hiebei wird einerseits auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf die Eindeutigkeit der Rechtslage und andererseits darauf verwiesen, dass der gegenständliche Fall ohnedies maßgeblich auf der Tatsachenebene zu beurteilen war.

Die Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung war iSd § 12 Abs. 1 BFA-VG idgF entbehrlich.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltsdauer Deutschkenntnisse Integration Interessenabwägung Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig Teileinstellung teilweise Beschwerderückziehung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W152.2169750.1.00

Im RIS seit

13.12.2021

Zuletzt aktualisiert am

13.12.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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