TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/28 W154 2198707-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.10.2021
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Entscheidungsdatum

28.10.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W154 2198707-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. KRACHER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.5.2018, Zl. 1113940000 – 160638064/BMI-BFA_SBG_AST_01_TEAM_04, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. In Erledigung der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 28.10.2022 erteilt.

IV. Der Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und diese ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 6.5.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen seiner Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 7.5.2016 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, afghanischer Staatsangehöriger, ledig, in Teheran im Iran geboren und Tadschike zu sein. Er gehöre dem sunnitischen Glauben an, in Teheran habe er von 2005 bis 2010 die Grundschule und von 2010 bis 2012 die allgemeinbildende höhere Schule besucht. Seine Muttersprache sei Dari. Berufsausbildung habe er keine, zuletzt sei er Verkäufer gewesen. Seine Eltern, ein Bruder und zwei Schwestern befänden sich nach wie vor im Iran.

Der Beschwerdeführer legte eine Kopie seiner Tazkira vor und gab zu seinem Fluchtgrund an, er habe den Iran verlassen, weil die Schule für afghanische Staatsbürger viel Geld verlange und er als Afghane von der iranischen Polizei schlecht behandelt werde.

In weiterer Folge wurde der Beschwerdeführer am 23.6.2016 einer Altersfeststellung unterzogen und mittels Verfahrensanordnung vom 20.7.2016 die Feststellung der Volljährigkeit durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt oder belangte Behörde) bestätigt.

Am 12.4.2018 wurde der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen, gab dabei zunächst an, gesund zu sein sowie keine Medikamente zu nehmen und legte neben der Kopie seiner Tazkira diverse Integrationsunterlagen vor (BFI Lehrgang Basisbildung vom 3.4.2018, drei Deutschkurs-Teilnahmebestätigungen bis zum Niveau A2/1 sowie ein Deutschzertifikat A1 vom 21.11.2017).

Weiters erklärte der Beschwerdeführer, der Volksgruppe der Tadschiken und der Religion des sunnitischen Islam anzugehören. Sein Vater sei religiös gewesen, er selbst habe Respekt zu jeder Religion sei aber nicht religiös aktiv. Geboren sei er in Teheran, er sei ledig und kinderlos, spreche Dari, Farsi und ein bisschen Deutsch.

In Teheran habe er gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern in einer Mietwohnung gelebt, seine Eltern wohnten nach wie vor an der selben Adresse. Der Beschwerdeführer habe zwei Brüder und zwei Schwestern. Im Iran befänden sich noch eine Tante mütterlicherseits, eine weitere lebe in Schweden. Zwei Taten väterlicherseits lebten im Iran, ebenso wie zwei Onkel väterlicherseits und zwei Onkel mütterlicherseits. Einer seiner Brüder befinde sich in Deutschland, ebenso wie eine der Schwestern. Der Beschwerdeführer habe regelmäßigen Kontakt mit seinen Eltern und Geschwistern. In Afghanistan gebe es keine Verwandten.

Im Iran habe der Beschwerdeführer acht Jahre lang eine auf afghanische Privatschule besucht, für diese hätten sie nicht so viel bezahlen müssen.

Sein Vater habe Afghanistan vor 28 Jahren wegen der verbotenen Liebe zur Mutter des Beschwerdeführers, die einem anderen Mann versprochen gewesen wäre, verlassen. Die Eltern seien über Pakistan, wo sie geheiratet hätten, in den Iran geflohen.

Im Iran habe die Familie als der Beschwerdeführer noch ein Kind gewesen sei zunächst eine provisorische Aufenthaltsgenehmigung gehabt. Seine Eltern hätten zwar viel gearbeitet, aber für die Verlängerung nicht mehr das Geld aufbringen können.

Er selbst habe im Iran fünf Jahre lang gearbeitet, zunächst zwei Jahre als Tischler, sei dann krank geworden (Lungenentzündung) und nach seiner Genesung als Verkäufer in einem Lebensmittelgeschäft tätig gewesen. Sein Vater sei Tischler ohne eigenes Geschäft, die Mutter Hausfrau, habe jedoch in den ersten Jahren im Iran als Schneiderin gearbeitet. Die Familie habe genug Geld und keine finanziellen Probleme gehabt. Vorgehalten, warum sie dann die Aufenthaltstitel nicht habe finanzieren können, antwortete der Beschwerdeführer, sein Vater habe die Miete bezahlen und auch die Familie ernähren können. Auch die Hälfte seines eigenen Einkommens habe seiner Familie gehört.

Im Bundesgebiet habe der Beschwerdeführer keine Verwandten.

Aufgefordert, seine Fluchtgründe im Detail zu schildern, brachte der Beschwerdeführer vor, er habe im Iran nicht weiter zur Schule gehen können. Er wolle eine bessere Zukunft, habe im Iran keine Rechte und keine eigene Identität gehabt und hätte kein Recht, in Afghanistan oder im Iran zu leben. Dies seien die Gründe für seine Ausreise nach Europa. Es habe keine Möglichkeit gegeben, eine Ausbildung zu machen und die Menschen im Iran seien gegenüber Afghanen unfreundlich und beleidigten sie. Junge Afghanen würden entweder nach Syrien geschickt um dort zu kämpfen oder nach Afghanistan abgeschoben. Die Behörden im Iran hätten zu „uns“ gesagt, wenn wir nach Syrien gingen, erhielten wir Aufenthaltstitel und bekämen Geld. Aber junge Leute würden in Syrien einfach getötet. Er selbst habe keine Hoffnung im Iran gehabt und deshalb die Entscheidung getroffen, nach Österreich auszureisen, um hier ein gutes Leben aufbauen zu können. Er sei nicht wegen eines Krieges nach Österreich geflüchtet, sondern wegen der Gesamtsituation aus dem Iran ausgereist und wolle nicht das gleiche Schicksal wie seine Eltern erleiden. Dies seien alle seine Fluchtgründe.

Ein paar Freunde des Beschwerdeführers seien vor drei Jahren von Polizisten aufgefordert worden, nach Syrien zu gehen und alle nicht mehr zurückgekehrt. Auch er selbst sei einmal von Polizisten festgenommen worden, die zu ihm gesagt hätten, er solle entweder nach Syrien gehen oder gegen viel Geld wieder freikommen. Sein Vater habe ihn dann aus der Haft freigekauft. Verhaftet worden sei er wegen seines illegalen Aufenthaltes im Iran. Konkret nach Afghanistan oder Syrien abgeschoben worden sei der Beschwerdeführer nicht.

Afghanistan sei für ihn wie eine Wüste, er habe dort niemanden. Zudem sei es kein sicheres Land, er könnte dort keine Arbeit finden und er kenne auch niemanden. Er habe in ein sicheres Land gewollt, deshalb sei er nach Österreich gekommen. Nachgefragt, ob er nach Österreich ausgereist sei, um besser leben zu können, bestätigte er ausdrücklich: „Ja, wegen meiner Zukunft.“

Sein Vater habe ihm erzählt, dass er aufgrund des Krieges in Afghanistan nicht mehr habe weiterleben können. Er habe auch die Mutter des Beschwerdeführers heiraten wollen, wozu es keine Möglichkeiten gegeben habe. Die Familie stamme aus der Provinz Kabul.

Mit gegenständlichem Bescheid des Bundesamtes wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Unter Spruchpunkt III. wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) Unter Spruchpunkt VI. wurde festgehalten, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Dagegen wurde rechtzeitig Beschwerde in vollem Umfang erhoben. In dieser wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer wegen der Tatsache, dass er sich im wehrfähigen Alter befinde, sein gesamtes Leben im Iran verbracht habe, nach Europa geflüchtet sei und sich den westlichen Werten angepasst habe in mehrere Risikoprofile der UNHCR Richtlinie falle. Daher läge wegen der Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur sozialen Gruppe der Afghanen, die nicht in Afghanistan, sondern im Iran gelebt hätten, eine asylrelevante Verfolgung vor. Gerade der Umstand, dass der Beschwerdeführer im Iran geboren und aufgewachsen sei und sich später im westlich geprägten Österreich aufgehalten habe, könnte ihn aufgrund einer unterstellten politischen Gesinnung zur Zielscheibe von Übergriffen in Afghanistan machen.

Mit Schriftsatz vom 16.1.2020 wurden dem Bundesverwaltungsgericht das ÖSD Zeugnis zur Integrationsprüfung Niveau A2 vom 12.10.2018, eine Kursbestätigung Deutsch B1 Teil1 einer Volkshochschule, die Teilnahmebestätigung des BFI am Lehrgang Basisbildung, ein Kompetenznachweis des Lehrgangs Basisbildung sowie diverse Bestätigungen über die Leistung freiwilliger Tätigkeiten vorgelegt.

Am 2.9.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht die mit 5.3.2020 datierte Bestätigung eines österreichischen Magistrats über den Austritt des Beschwerdeführers aus der islamischen Religionsgemeinschaft ein.

Am 11.10.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der das Bundesamt als Verfahrenspartei entschuldigt nicht teilnahm.

Dabei brachte der Beschwerdeführer zunächst vor, in Teheran im Iran geboren und noch nie in Afghanistan gewesen zu sein. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an.

Im Iran habe er insgesamt acht Klassen einer afghanischen Schule besucht, Beruf habe er keinen erlernt, jedoch fünf bis sechs Jahre lang im Iran gearbeitet und zwar zwei Jahre lang gemeinsam mit seinem Vater als Tischler und drei Jahre lang in einem Lebensmittel-Supermarkt.

Er könne in seiner Muttersprache lesen und schreiben, Deutsch habe er A2 erreicht. Die B1 Prüfung sei zweimal wegen Corona abgesagt worden.

Seine Eltern hätten Afghanistan vor ungefähr 31 Jahren verlassen, in Pakistan geheiratet und seien dann in den Iran gereist. Die Mutter des Beschwerdeführers habe auch einen anderen Heiratskandidaten, einen Bekannten seines Vaters, gehabt. Wegen der Eheschließung seien die beiden nun verfeindet, der andere Heiratskandidat habe den Vater des Beschwerdeführers mit dem Tod bedroht, weil seine Mutter seinen Vater habe heiraten wollen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt befänden sich die Eltern des Beschwerdeführers im Iran, in Afghanistan habe er niemanden. Eine Schwester sei verheiratet und lebe ebenso wie ein jüngerer Bruder in Deutschland. Eine weitere Schwester und ein weiterer Bruder befänden sich gemeinsam bei den Eltern im Iran. Er selbst habe nur Kontakt zu seiner Mutter, der Vater meide den Kontakt, weil sich der Beschwerdeführer von der Religion abgewendet habe und nun ohne Bekenntnis sei.

Auslöser für das Verlassen des Irans sei gewesen, dass die Afghanen dort ein sehr schwieriges Leben hätten. Sie hätten keine Dokumente und keine Menschenrechte gehabt. Die Polizei hätte sie entweder nach Afghanistan abgeschoben oder nach Syrien in den Krieg. Als der Beschwerdeführer älter geworden sei, habe er sich gezwungen gefühlt, den Iran zu verlassen.

Gegen ein Leben in Afghanistan spreche, dass er Atheist und Afghanistan eine islamische Republik sei, in der das Schariagesetz gelte. Der Beschwerdeführer würde dort getötet werden.

Grund dafür, dass er sich von seiner Religion losgesagt hätte, wäre, dass der Islam einem gar keine Freiheiten biete und alles aufgezwungen werde. Man müsse beten und fasten und in Afghanistan die täglichen Gebete in der Moschee verrichten. Damit sei er überhaupt nicht einverstanden. Alles werde einem aufgezwungen, Frauenrechte in Afghanistan mit Füßen getreten und im Namen des Islam Menschen getötet.

Er kenne zwar andere Religionen, Christentum, Buddhismus, Judentum, aber keine davon habe ihn bisher überzeugen können. Er wolle sich menschlich verhalten und seine Religion sei die Menschlichkeit.

Zudem hindere ihn die derzeitige Situation in Afghanistan an eine Rückkehr. In einem islamischen Emirat könne er als Person ohne Religionsbekenntnis nicht leben. Außerdem kenne er das Land nicht und sei dort auch nicht aufhältig gewesen. Man werde ihm ganz bestimmt töten, er müsse den Islam akzeptieren und sich an diese Regeln halten. Die Menschen seien alle religiös. Vor ein paar Jahren sei eine Frau zuerst geschlagen und dann lebendig verbrannt worden, weil sie den Koran verbrannt habe.

Nachgefragt, ob es noch weitere Fluchtgründe gebe, erwiderte der Beschwerdeführer, er könnte in Afghanistan zum Beispiel nicht heiraten. Wenn die Menschen erführen, dass er keine Religion habe, würden sie ihn auf der Stelle töten und niemand würde ihn heiraten wollen. Dies seien seine gesamten Gründe.

Der Beschwerdeführer leide an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung. In Österreich wolle er sich sein Leben aufbauen und gerne künftig arbeiten und zwar zunächst einmal ein bis zwei Jahre, und dann eine Lehre starten. Zudem wolle er die deutsche Sprache besser lernen.

Vom Magistrat aus habe er als Straßenkehrer gearbeitet, eine offizielle Arbeit sei ihm mangels Asylstatus nicht erlaubt. Eine Ausbildung habe er in Österreich nicht absolviert. Im Jahr 2018 habe er drei Monate lang die Basisbildung Oberösterreich besucht und im Jahr 2020 einen B1 Kurs besucht.

Derzeit wohne der Beschwerdeführer in einem Camp und erhalte von der Caritas monatlich €186. In einer Beziehung lebe er nicht. 2018 und 2019 habe er freiwillige Arbeit geleistet. Auch habe er österreichische Freunde, die er im Fitnessstudio kennengelernt habe.

Vorgelegt wurden das neue Länderinformationsblatt vom 16.9.2021 sowie die UNHCR Position zur Rückkehrern nach Afghanistan vom August 2021. Dem Beschwerdeführer wurde die Möglichkeit eingeräumt, sich innerhalb einer Frist von zwei Wochen schriftlich dazu zu äußern.

Diese Stellungnahme langte am 12.10.2021 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Seine Muttersprache ist Dari, zudem spricht er Farsi, besuchte Deutschkurse bis zum Niveau B1 und konnte ein ÖSD Zertifikat Niveau A2 vorlegen. Er ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer wurde in Teheran im Iran geboren, wo er auch mit seinen Eltern und Geschwistern aufwuchs, acht Jahre eine afghanische Schule besuchte, zwei Jahre als Tischler und drei Jahre als Verkäufer in einem Lebensmittelmarkt tätig war. Ursprünglich stammt seine Familie aus Kabul.

Der Beschwerdeführer ist volljährig, jung, gesund und arbeitsfähig.

Er ist strafgerichtlich unbescholten.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer übt derzeit keine religiösen Riten, wie Beten oder den Besuch einer Moschee aus und legte eine von einem österreichischen Magistrat ausgestellte Austrittsbescheinigung aus der islamischen Religionsgemeinschaft vor. Der Beschwerdeführer hat jedoch keine Verhaltensweisen verinnerlicht, die bei einer Rückkehr nach Afghanistan als Glaubensabfall gewertet werden würden. Er tritt auch nicht spezifisch gegen den Islam oder gar religionsfeindlich auf. Es ist niemandem in Afghanistan bekannt, dass der Beschwerdeführer in Österreich angegeben hat, kein Moslem mehr zu sein. Dem Beschwerdeführer droht in Afghanistan aufgrund eines auch nur unterstellten Abfalles vom islamischen Glauben keine Gefahr der physischen oder psychischen Gewalt.

Der Beschwerdeführer verließ den Iran aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen für dort lebende Afghanen. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Neuansiedlung in Afghanistan wegen seines Aufwachsens im Iran keine konkret gegen ihn gerichtete, individuelle physische oder psychische Gewalt.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden ist, und die ihn in Afghanistan exponieren würde.

Weitere konkrete persönliche Bedrohungen des Beschwerdeführers wurden nicht substantiiert vorgebracht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.

1.3.    Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keine gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder durch Private vor dem Hintergrund seiner ethnischen Zugehörigkeit, seiner Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung zu erwarten hätte.

Dem Beschwerdeführer würde jedoch bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort derzeit herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und der Machtübernahme durch die Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der zum Entscheidungszeitpunkt instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Dem Beschwerdeführer ist es dementsprechend auch nicht möglich und auch nicht zumutbar, sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Mazar-e Sharif, Herat und Kabul - wo seine Familie herstammt - nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden. In der Folge ist es ihm auch nicht möglich, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. nicht, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem derzeit ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).

1.4.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Aktuelle Lage in Afghanistan Stand 16.9.2021:

Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Version 5 vom 16.9.2021, wiedergegeben:

COVID-19

Letzte Änderung: 16.09.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).

Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).

Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban

Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

Quellen:

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Politische Lage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Quellen:

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AZ - Abendzeitung (17.8.2021): Taliban übernehmen wichtigste Behörden in Afghanistan, https://www.abendzeitung-muenchen.de/politik/taliban-uebernehmen-langsam-behoerden-in-afghanistan-art-750083, Zugriff 9.9.2021

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BZ - Berliner Zeitung (8.9.2021): USA und Deutschland: Keine baldige Anerkennung von Taliban-Regierung, https://www.berliner-zeitung.de/news/usa-und-deutschland-keine-baldige-anerkennung-von-taliban-regierung-li.181782, Zugriff 9.9.2021

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TD - The Diplomat (10.9.2021): What the Taliban’s Interim Government Means for Afghanistan’s Neighbors, https://thediplomat.com/2021/09/what-the-talibans-interim-government-means-for-afghanistans-neighbors/, Zugriff 13.9.2021

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WoM - Worldometers (o.D.): Afghanistan Population, https://www.worldometers.info/world-population/afghanistan-population/, Zugriff 9.9.2021

Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban

Letzte Änderung: 16.09.2021

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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