Index
001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
AsylG 2005 §18 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. September 2020, Zl. W256 2199192-1/4E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: M M, vertreten durch L A als gesetzliche Vertreterin, beide in M), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Am 25. April 2018 stellten die Eltern als gesetzliche Vertreter für den bereits in Österreich geborenen minderjährigen Mitbeteiligten, alle somalische Staatsangehörige, gemäß § 34 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) einen schriftlichen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde damit begründet, dass der Mitbeteiligte keine eigenen „Asylgründe“ habe und sich dem Verfahren seiner Eltern anschließe.
2 Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 4. Mai 2018 wurde den Eltern sowie dem Bruder des Mitbeteiligten der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.
3 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 25. Mai 2018 wurde der Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz - ohne niederschriftliche Einvernahme - in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.) und diesem gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) sowie eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 und 5 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.).
4 Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, der Mitbeteiligte habe keine individuellen, seine Person betreffenden Fluchtgründe vorgebracht und dem Fluchtvorbringen seiner Eltern sei bereits in dem sie betreffenden Bescheid bzw. Erkenntnis die Glaubwürdigkeit versagt worden.
5 Mit Schreiben vom 21. Juni 2018 erhob der Mitbeteiligte, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH, Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides und führte auf das Wesentliche zusammengefasst (erstmals) aus, er werde im Falle seiner Rückkehr nach Somalia aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der von Zwangsrekrutierung bedrohten Kinder sowie aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Minderheit verfolgt.
6 Mit dem angefochtenen Beschluss behob das BVwG den angefochtenen Bescheid in seinem Spruchpunkt I. gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurück (Spruchpunkt A). Eine Revision erklärte es gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B).
7 In seiner Begründung verwies das BVwG darauf, dass jeder Antrag eines Familienangehörigen gesondert zu prüfen sei. Das Vorliegen eigener Fluchtgründe sei für jeden Antragsteller separat zu ermitteln. Erst wenn solche Gründe nicht hervorkommen würden, sei derselbe Schutz zu gewähren, der bereits einem anderen Familienangehörigen gewährt worden sei. Daher wäre das BFA dazu verpflichtet gewesen, amtswegig zu ermitteln, ob hinsichtlich des Mitbeteiligten eigene Fluchtgründe vorliegen würden. Zwar würde § 19 Abs. 2 AsylG 2005 anordnen, dass von einer Einvernahme abgesehen werden könne, wenn der Asylwerber aufgrund in seiner Person gelegenen Umstände nicht in der Lage sei, durch Aussagen zur Sachverhaltsfeststellung beizutragen. Allerdings sei damit das BFA nicht von der amtswegigen Pflicht entbunden, unter Umständen zur Einvernahme befähigte Personen zu befragen. Im fortgesetzten Verfahren müsse das BFA daher etwa die Eltern des Mitbeteiligten einvernehmen und das in der Beschwerde dargelegte Fluchtvorbringen berücksichtigen.
8 Die Amtsrevision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, der Beschluss weiche von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu Zurückverweisungen gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG ab. Die von der Rechtsprechung geforderten krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken lägen nicht vor, weil keine Verpflichtung bestanden habe, die Eltern des Mitbeteiligten einzuvernehmen. Gemäß § 19 Abs. 2 AsylG 2005 könne eine Einvernahme dann unterbleiben, wenn ein Asylwerber nicht in der Lage sei, zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen. Die Gesetzesmaterialien würden klarstellen, dass der Gesetzgeber mit dieser Bestimmung vor allem schwerwiegend psychisch Kranke und Minderjährige vor Augen gehabt habe. Wäre man der Ansicht, dass in diesen Fällen die gesetzlichen Vertreter jedenfalls einzuvernehmen seien, so wäre der Bestimmung der Anwendungsbereich entzogen. Für die Frage nach einer verpflichtenden Einvernahme der Eltern des Mitbeteiligten sei sodann auch § 18 Abs. 1 AsylG 2005 maßgeblich. Nach der dazu ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sei nicht jeglicher denkmögliche Sachverhalt zu ermitteln. Im gegenständlichen Fall habe der Mitbeteiligte - vertreten durch seine Eltern - explizit keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht, weshalb der Antrag nur so gedeutet werden könne, dass er keine Verfolgung befürchte.
9 Selbst wenn man bejahen würde, dass das BFA zu weiteren Ermittlungen verpflichtet gewesen wäre, sei dieser Verfahrensmangel nicht wesentlich und habe die Beschwerde mit ihrem unsubstantiierten Vorbringen weder aufgezeigt, welcher Sachverhalt festzustellen gewesen wäre, noch, dass krasse bzw. besonders gravierende Ermittlungslücken vorliegen würden. Abgesehen davon hätte das BVwG die für notwendig erachteten Ermittlungsschritte selbst durchführen müssen, weil es zur Entscheidung in der Sache verpflichtet sei.
Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens - der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung - in einem nach § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.
11 Mit Erkenntnis vom 13. September 2021, Ra 2021/01/0090, erkannte der Verwaltungsgerichtshof, dass der Gesetzgeber bei der Einvernahme nach § 19 AsylG 2005 davon ausgegangen sei, dass Asylwerber selbst in der Lage seien, einen Beitrag zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes zu leisten, was nicht erwartet werden könne, wenn sie aufgrund einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung oder aufgrund ihres Alters dazu nicht in der Lage seien. Diese Auslegung ist auch vor dem Grundsatz, das dem Vorbringen des Asylwerbers - wie auch aus § 18 Abs. 1 AsylG 2005 deutlich hervorgeht - zentrale Bedeutung zukommt (vgl. für viele etwa VwGH 9.2.2021, Ra 2020/01/0405-0406, mwN), geboten. Dagegen würde eine Auslegung, wonach in jedem Fall die gesetzlichen Vertreter prozessunfähiger Asylwerber einzuvernehmen seien, der Bestimmung des § 19 Abs. 2 AsylG 2005 jeden Anwendungsbereich nehmen. Eine derartige - im Ergebnis sinnlose - Regelung erlassen zu haben, könne dem Gesetzgeber des AsylG 2005 aber nicht unterstellt werden. Davon ausgehend sprach der Verwaltungsgerichtshof im genannten Erkenntnis weiter aus, das BFA habe zu Recht davon ausgehen dürfen, dass der (in diesem Revisionsverfahren) Mitbeteiligte im Verfahren vor dem BFA keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht habe, weshalb auch nicht zu erkennen gewesen sei, dass der Bescheid an besonders krassen bzw. gravierenden Ermittlungslücken gelitten habe, die eine Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 VwGVG rechtfertigen würden.
12 Der vorliegende Revisionsfall gleicht in sachlicher und rechtlicher Hinsicht im Wesentlichen jenem, der mit dem zitierten Erkenntnis entschieden wurde; auf dessen Entscheidungsgründe wird gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen.
13 Der angefochtene Beschluss war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 17. November 2021
Schlagworte
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020010387.L00Im RIS seit
13.12.2021Zuletzt aktualisiert am
20.12.2021