Index
E3L E19103010Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des A A, vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Jänner 2020, W151 2187679-1/31E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 4. August 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, er habe in Afghanistan islamkritische Vorträge gehalten, weil seiner Ansicht nach der Islam für die aktuelle Situation in Afghanistan verantwortlich sei. Man habe ihn deshalb mit dem Tod bedroht.
2 Mit Bescheid vom 13. Februar 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, dem Revisionswerber sei es nicht gelungen, eine asylrelevante Verfolgung glaubhaft darzutun. Zwar sei der Revisionswerber seit 6. November 2018 Mitglied der „Atheistischen Religionsgemeinschaft in Österreich“ und mit 18. Dezember 2018 aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten. Er habe jedoch nicht glaubhaft gemacht, aus innerer Überzeugung vom islamischen Glauben abgefallen und aus diesem Grund einer Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt zu sein. So habe der Revisionswerber im Laufe des Verfahrens divergierende Angaben zum Inhalt seines Vortrages an einer Universität gemacht. Es sei zudem nicht glaubhaft, dass sich der Revisionswerber durch islamkritische Äußerungen im Zuge dieses Vortrages bewusst exponiert habe, nachdem er bereits aus seiner Heimatprovinz auf Grund von Verfolgung wegen islamkritischen Äußerungen geflohen sei. Ebenso sei die vom Revisionswerber behauptete Apostasie nicht glaubhaft, weil er einen derartigen Glaubensabfall vom Islam im Zuge seiner Erstbefragung nicht erwähnt habe. Für das Vorbringen einer Apostasie aus „asyltaktischen Gründen“ spreche zudem, dass der Revisionswerber erst knapp ein Jahr nach seiner Einreise damit begonnen habe, islamkritische Beiträge auf Facebook zu veröffentlichen und der Beitritt zur atheistischen Religionsgemeinschaft sowie der Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft jeweils nach Erhalt der negativen Entscheidung des BFA und zeitnah zur mündlichen Verhandlung erfolgt sei. Die in der mündlichen Verhandlung einvernommenen Zeugen hätten keine Wahrnehmung zur inneren Überzeugung des Revisionswerbers darlegen können.
5 Mit Beschluss vom 10. März 2020, E 624/2020-5, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerde ab und trat die Beschwerde mit Beschluss vom 1. April 2020, E 624/2020-7, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
6 Daraufhin erhob der Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision.
7 Diese macht zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem geltend, dass sich das BVwG in seiner Begründung nur unzureichend mit dem Vorbringen des Revisionswerbers zu seiner atheistischen Glaubensüberzeugung auseinandergesetzt habe. Die ablehnende Haltung des Revisionswerbers gegenüber dem Islam sei zentral von der öffentlichen Verbreitung seiner Einstellung geprägt. Das BVwG hätte Feststellungen zur öffentlich nachvollziehbaren Kritik des Revisionswerbers am Islam treffen müssen. Ferner habe sich das BVwG nicht ausreichend mit den Aussagen der Zeugen beschäftigt.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen das Erkenntnis des BVwG erhobene (außerordentliche) Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revision ist zulässig und auch begründet.
10 Die Verfolgung aus Gründen der Religion, wozu auch atheistische Glaubensüberzeugungen zählen, kann zur Gewährung von Asyl führen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Asylwerber auf Grund seiner atheistischen Lebensweise im Herkunftsstaat tatsächlich Gefahr läuft, verfolgt zu werden. Dies setzt allerdings voraus, dass der Asylwerber seine Konfessionslosigkeit als innere Überzeugung und identitätsstiftendes Merkmal versteht, die er auch im Herkunftsstaat leben wird. Die Tatsache, dass einem Asylwerber im Herkunftsstaat etwa auf Grund eines Gesetzes über Apostasie eine Todes- oder Freiheitsstrafe droht, kann für sich genommen eine asylrelevante Verfolgung darstellen, sofern eine solche Strafe in dem Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird (vgl. VwGH 30.4.2020, Ra 2020/18/0124, mwN).
11 Der Verwaltungsgerichtshof ist als Rechtsinstanz tätig, zur Überprüfung der Beweiswürdigung ist er im Allgemeinen nicht berufen. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG liegt - als Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 25.9.2020, Ra 2020/19/0145).
12 Wie der Verwaltungsgerichtshof schon zu dem gemäß § 17 VwGVG auch von den Verwaltungsgerichten anzuwendenden § 45 Abs. 2 AVG ausgesprochen hat, bedeutet der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht, dass der in der Begründung der (nunmehr verwaltungsgerichtlichen) Entscheidung niederzulegende Denkvorgang der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof nicht unterliegt. Die Bestimmung des § 45 Abs. 2 AVG hat nur zur Folge, dass die Würdigung der Beweise keinen gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Dies schließt aber eine Kontrolle in die Richtung nicht aus, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind, also nicht den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut widersprechen. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof bei Behandlung einer zulässigen Revision auch zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat (vgl. VwGH 30.3.2021, Ra 2020/19/0048, mwN).
13 Diesen Grundsätzen wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht.
14 Im gegenständlichen Fall macht die Revision zu Recht geltend, dass sich das BVwG nur unzureichend mit der islamkritischen Aktivität des Revisionswerbers auf Facebook sowie den Zeugenaussagen zu seiner atheistischen Glaubensüberzeugung auseinandergesetzt habe.
15 Der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses kann nicht entnommen werden, welche Aktivitäten der Revisionswerber auf Facebook tatsächlich gesetzt hat und welche (islamkritischen) Inhalte diese aufweisen. Das BVwG hat sich auch nicht mit der Frage auseinandergesetzt, wie wahrscheinlich ein Bekanntwerden der veröffentlichten Facebook-Beiträge des Revisionswerbers sowie seines in Österreich erfolgten Eintritts in die Atheistische Religionsgemeinschaft im Herkunftsstaat des Revisionswerbers ist. Dies wäre aber vor dem Hintergrund der vom BVwG getroffenen Länderfeststellungen, wonach Apostaten beziehungsweise Konvertiten insbesondere durch das familiäre Umfeld und durch die Gesellschaft Reaktionen bis hin zur Ermordung ausgesetzt seien, geboten gewesen.
16 Das BVwG führte überdies an, dass die Aussagen zweier Mitglieder der Atheistischen Religionsgemeinschaft, die als Zeugen einvernommen wurden, lediglich verdeutlicht hätten, dass einer Mitgliedschaft in dieser Gemeinschaft keinerlei Aussagekraft über die Frage, ob der Revisionswerber seine behauptete Apostasie als identitätsstiftendes Merkmal verstehe, zukomme. Die beiden Zeugen haben jedoch nicht nur Angaben zu den Voraussetzungen einer Mitgliedschaft bei der Atheistischen Religionsgemeinschaft gemacht, sondern im Zuge der Beantwortung der Fragen durch das Verwaltungsgericht auch ausgeführt, welche Eindrücke sie von der inneren Überzeugung des Revisionswerbers hinsichtlich eines Abfalls vom Islam gewonnen hätten. Dabei verwies einer der beiden Zeugen etwa darauf, dass der Revisionswerber dem Islam die Schuld für den „internen Krieg“ in Afghanistan zuschreibe und mit der Gesellschaftsform, in der Frauen als Menschen zweiter Klasse behandelt würden, nicht einverstanden sei. Der andere Zeuge habe wiederum den Eindruck gewonnen, dass der Revisionswerber überzeugter Atheist sei. Auf all diese Argumente ging das BVwG in seiner Beweiswürdigung aber nicht ein. Vielmehr führte es hinsichtlich eines ebenfalls als Zeuge einvernommenen Freundes des Revisionswerbers aus, dass dieser außergewöhnliche Umstände, die über eine kritische Auseinandersetzung mit dem islamischen Glauben hinausgehen würden, nicht dargelegt habe. Aus dem Erkenntnis ergibt sich jedoch nicht, welche - über die von Zeugen umfangreich getätigten Angaben dazu, wie der Revisionswerber seinen Glauben auslebe, hinausgehenden - außergewöhnlichen Umstände einen Abfall des Revisionswerbers vom Islam hätten indizieren können. Das BVwG hat den Zeugen zu solchen Umständen auch nicht näher befragt.
17 Das BVwG hätte jedenfalls im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung bei der Prüfung einer atheistischen Glaubensüberzeugung nicht schlichtweg einzelne Aussagen der Zeugen ausblenden dürfen.
18 Da nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass die Entscheidung des BVwG bei Vermeidung der dargelegten Begründungsmängel anders hätte ausfallen können, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
19 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 22. November 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190207.L00Im RIS seit
13.12.2021Zuletzt aktualisiert am
20.12.2021