TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/25 W211 2235035-1

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Veröffentlicht am 25.08.2021
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Entscheidungsdatum

25.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W211 2235035-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a SIMMA LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Syrien, gegen den Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die beschwerdeführende Partei ist ein männlicher Staatsangehöriger Syriens. Sie stellte am XXXX 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Bei ihrer Erstbefragung am XXXX 2020 gab die beschwerdeführende Partei an, sie stamme aus dem Ort XXXX in der Nähe von Al Hasaka. Ihre Eltern, ihre Ehefrau, ihr Sohn und mehrere Geschwister würden sich in Syrien aufhalten. Ein Bruder würde als Asylberechtigter in Österreich leben. Zwei Schwestern und ein Bruder würden als Asylberechtigte in der Schweiz leben. Syrien habe sie illegal über die Grenze zur Türkei verlassen. Als Fluchtgrund führte die beschwerdeführende Partei aus, dass sie Syrien wegen des dort herrschenden Krieges, und weil sie für sich und ihre Familie dort keine Perspektiven mehr gesehen habe, verlassen habe.

3. Am XXXX .2020 fand eine Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt, in deren Zuge die beschwerdeführende Partei soweit wesentlich angab, sie sei Kurde und moslemischen Glaubens. Sie sei in XXXX geboren worden und sei auch dort aufgewachsen. Mit ihrer Ehefrau habe sie jedoch in einem Dorf in der Nähe von XXXX , namens XXXX gelebt. Sie habe vier Kinder. Ihre Ehefrau und Kinder, ihre Eltern sowie mehrere Geschwister würden sich nach wie vor in Syrien aufhalten. Ein Bruder lebe als Asylberechtigter in Österreich, ein weiterer als Asylberechtigter in der Schweiz. Zwei Schwestern hätten in Deutschland Asyl erhalten. In den Jahren von 1993 bis 1996 habe sie ihren Grundwehrdienst bei der syrischen Armee als einfacher Soldat im Wachdienst abgeleistet. In den Jahren von 1999 bis 2001 habe sie sodann in Damaskus als Taxifahrer gearbeitet. Danach sei sie in ihr Heimatdorf zurückgekehrt und habe als LKW- bzw. Taxifahrer und in der Landwirtschaft gearbeitet. Im Jahr 2006 habe sie dann ihre jetzige Ehefrau geheiratet. Im April des Jahres 2020 sei sie illegal über die Grenze zur Türkei aus Syrien ausgereist. Die beschwerdeführende Partei gab an, in Syrien weder politisch tätig gewesen, noch von den syrischen Behörden verfolgt, gefoltert oder inhaftiert worden zu sein. Sie sei weder von der syrischen Regierung wieder einberufen, noch von sonstigen Gruppierungen aufgefordert worden, sich ihnen anzuschließen. In Syrien habe Krieg und Armut geherrscht. Auch Schulbesuche ihrer Kinder seien nicht mehr möglich gewesen, weshalb sie sich entschlossen habe Syrien zu verlassen. Sodann legte die beschwerdeführende Partei dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Kopien ihres syrischen Reisepasses, des syrischen Personalausweises ihrer Ehefrau, und von Auszügen aus dem Familienbuch sowie ihren syrischen Personalausweis im Original vor.

4. Am XXXX 2020 legte die beschwerdeführende Partei dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Originale ihres syrischen Militärbuchs, ihres syrischen Führerscheins und ihres syrischen Reisepasses vor.

5. Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Antrag der beschwerdeführenden Partei bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.), ihr gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG erteilt (Spruchpunkt III). Das Bundesamt stellte die Identität, die syrische Staatsangehörigkeit und die kurdische Volksgruppenzugehörigkeit der beschwerdeführenden Partei fest. Eine asylrelevante Verfolgung in Syrien wurde nicht festgestellt.

6. In der gegen den Spruchpunkt I. des Bescheides rechtzeitig eingebrachten Beschwerde wurde ausgeführt, dass sich aus den Länderberichten ergebe, dass die beschwerdeführende Partei im Falle einer Rückkehr nach Syrien Gefahr laufe als Reservist von der syrischen Regierung einberufen zu werden. Weiter würde Familienmitgliedern von Deserteuren bzw. Wehrdienstverweigerern willkürliche Konsequenzen seitens der syrischen Regierung drohen. Der beschwerdeführenden Partei drohe somit eine Reflexverfolgung, da mehrere Brüder im Ausland asylberechtigt seien. Schließlich wurde darauf verwiesen, dass die beschwerdeführende Partei aufgrund ihrer illegalen Ausreise aus Syrien bzw. Asylantragstellung im Ausland einer Verfolgung durch die syrische Regierung unterliege.

7. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt und langten am 14.09.2020 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

8. Mit schriftlicher Stellungnahme der Vertretung der beschwerdeführenden Partei vom XXXX 2021 wurde ausgeführt, dass die beschwerdeführende Partei Syrien verlassen habe, um sich dem Wehrdienst zu entziehen. Der in Österreich lebende Bruder der beschwerdeführenden Partei habe Syrien ebenso aus Angst, dass er und sein Sohn einberufen würden, verlassen und in Österreich den Status von Asylberechtigten zugesprochen bekommen. Ein weiterer Bruder der beschwerdeführenden Partei sei, nachdem ihm die Einberufung zum Militärdienst zugestellt worden sei, desertiert und im Jahr 2016 in die Schweiz geflüchtet, wo er als Asylberechtigter lebe. Da in Syrien die Sippenhaftung nach wie vor einen festen Bestandteil der Behördenpraxis darstelle, sei die beschwerdeführende Partei in Folge der Desertion des Bruders regelmäßig durch die syrische Polizei aufgesucht worden. Aus Angst, mitgenommen zu werden, habe sich die beschwerdeführende Partei versteckt. Die beschwerdeführende Partei habe zudem zwei Schwestern, die beide als Asylberechtigte in Deutschland wohnen würden. Der Ehemann einer der beiden Schwestern habe ebenso die Einberufung zur Reserve erhalten, woraufhin die Familie der Schwester geflüchtet sei.

9. Am XXXX 2021 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die arabische Sprache und in Anwesenheit der beschwerdeführenden Partei und ihrer Vertretung eine mündliche Verhandlung durch, bei der die beschwerdeführende Partei im Detail zu ihren Fluchtgründen befragt wurde. Die belangte Behörde entschuldigte sich mit Schreiben vom XXXX 2021 für die Teilnahme an der Verhandlung. Im Rahmen der Verhandlung wurden außerdem das aktuelle Länderinformationen ins Verfahren eingeführt.

10. Mit schriftlicher Stellungnahme der Vertretung der beschwerdeführenden Partei vom XXXX 2021 zu den in der mündlichen Verhandlung zusätzlich ins Verfahren eingebrachten Länderberichten wurde ausgeführt, dass sich aus diesen ergebe, dass die Ergreifung von Wehrdienstverweigerern mit einer Foltergarantie bzw. einem Todesurteil einherginge. Wehrdienstverweigerung werde als Ausdruck von politischem Dissens gesehen und Wehrdienstverweigerer bzw. Deserteure seien Ziel einer umfassenden Anti-Terrorgesetzgebung der syrischen Regierung. Auch von Repressalien gegen Familienmitglieder würde berichtet. Schließlich komme es im kurdisch kontrollierten Gebiet zu Zwangsrekrutierungen, Entführungen, Inhaftierungen und Misshandlungen durch kurdische Milzen (YPG). Es seien mehrfach Männer zwangsrekrutiert worden, die älter als 30 Jahre gewesen seien.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur beschwerdeführenden Partei:

1.1.1. Die beschwerdeführende Partei ist ein Staatsangehöriger Syriens, der am XXXX 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich stellte.

1.1.2. Die beschwerdeführende Partei gehört der Volksgruppe der Kurden an.

1.1.3. Die beschwerdeführende Partei stammt aus XXXX in der Nähe von XXXX . In den Jahren 1993 bis 2001 lebte die beschwerdeführende Partei in Damaskus. Danach kehrte sie nach XXXX zurück und zog nach der Heirat mit ihrer jetzigen Ehefrau in XXXX von XXXX im Gouvernement Al Hasaka, wo sie bis zu ihrer Ausreise lebte.

Die beschwerdeführende Partei ist Vater von vier Kindern. Die Ehefrau und Kinder, ihre Eltern, vier Brüder und zwei Schwestern halten sich noch in Syrien auf.

Ein Bruder der beschwerdeführernden Partei lebt als Asylberechtigter in Österreich, ein weiterer Bruder lebt als Asylberechtigter in der Schweiz. Zwei Schwestern der beschwerdeführenden Partei leben als Asylberechtigte in Deutschland.

Die beschwerdeführende Partei besuchte in Syrien zwei Jahre lang die Grundschule und arbeitete dann als LKW- bzw. Taxifahrer, in der Landwirtschaft und Automechaniker.

Die beschwerdeführende Partei verließ Syrien illegal im April des Jahres 2020 über die Grenze zur Türkei.

1.1.4. Die beschwerdeführende Partei ist gesund und strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Syrien:

1.2.1. Syrien: Gebiete unter kurdischer Kontrolle; Korruption; Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen, Wehrdienstverweigerung / Desertion; Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG/YPJ); Allgemeine Menschenrechtslage; Rückkehr:

Gebiete unter kurdischer Kontrolle

Die kurdischen Behörden setzen in den von ihnen kontrollierten Gebieten einen Rechtskodex,

basierend auf einer „Sozialcharta“, durch. In Berichten wird diese „Sozialcharta“ beschrieben als eine Mischung aus syrischem Straf- und Zivilrecht mit Gesetzen, die sich in Bezug auf Scheidung, Eheschließung, Waffenbesitz und Steuerhinterziehung an europäischem Recht orientieren. Allerdings fehlen gewisse europäische Standards für faire Verfahren, wie das Verbot willkürlicher Festnahmen, das Recht auf gerichtliche Überprüfung und das Recht auf einen Anwalt. Das Justizsystem in den kurdisch kontrollierten Gebieten besteht aus Gerichten, Rechtskomitees und Ermittlungsbehörden (USDOS 11.3.2020). Es wurde eine von der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) geführte Verwaltung geschaffen, die neben diesen Rechtsinstitutionen auch eine eigene Polizei, Gefängnisse und Ministerien umfasst (AI 12.7.2017). Die in den Gebieten unter kurdischer Kontrolle geschaffenen Institutionen erscheinen zwar fortschrittlicher als jene des syrischen Regimes, sind in der Realität allerdings nicht demokratisch und stehen unter der strikten Kontrolle der PYD (BS 29.4.2020; vgl. FH 4.3.2020).

Die kurdischen Behörden haben den sogenannten „Defense of the People Court“ eingerichtet,

der über ehemalige Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in kurdischer Gefangenschaft urteilen soll. Das Gericht wird jedoch weder von den syrischen Behörden noch von der internationalen Gemeinschaft anerkannt. Die Höchststrafe, die dieses Gericht verhängt, ist eine lebenslange Freiheitsstrafe, wobei es sich de facto um eine zwanzigjährige Haftstrafe handelt.

Gerichtsurteile werden bei guter Führung oder wenn sich der Angeklagte selbst den kurdischen Behörden gestellt hat, gemildert. Diese „mildere Vorgehensweise“ hat zum einen den Zweck, der arabischen Mehrheitsbevölkerung Ost-Syriens, die den kurdischen Machthabern misstraut, guten Willen zu zeigen, zum anderen soll dadurch die Regierungskompetenz hervorgehoben und internationale Legitimität gewonnen werden. Das System weist jedoch auch gravierende Mängel auf, so haben die Angeklagten keinen Zugang zu einem Verteidiger und es gibt keine Möglichkeit, Berufung einzulegen (Ha’aretz 8.5.2018).

Juristen, welche unter dem Justizsystem von Rojava agieren, werden von der syrischen Regierung beschuldigt, eine illegale Justiz geschaffen zu haben. Richter und Justizmitarbeiter sehen sich mit Haftbefehlen der syrischen Regierung konfrontiert, verfügen über keine Pässe und sind häufig Morddrohungen ausgesetzt (JS 28.10.2019).

Korruption

Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International für das Jahr 2018, liegt Syrien mit einer Bewertung von 13 (von 100) Punkten (0=highly corrupt, 100=very clean) auf Platz 178 von 180 untersuchten Ländern (je höher desto schlechter) (TI o.D.).

Korruption war bereits vor dem Bürgerkrieg weit verbreitet und beeinflusste das tägliche Leben der Syrer (FH 1.2017). Das Gesetz sieht strafrechtliche Konsequenzen für amtliche Korruption vor, die Regierung setzt diese jedoch nicht effektiv durch. Beamte üben häufig korrupte Praktiken aus, ohne dafür bestraft zu werden. Korruption ist weiterhin ein allgegenwärtiges Problem bei Polizei, Sicherheitskräften, Migrationsbehörden und in der Regierung (USDOS 13.3.2019).

Mitglieder und Verbündete der Herrscherfamilie sollen einen großen Teil der syrischen Wirtschaft kontrollieren oder besitzen. Auch sichert sich die Regierung durch die Bevorzugung bestimmter Firmen und Vergabe von vorteilhaften Verträgen etc. Loyalität. Sogar die grundlegendsten staatlichen Dienstleistungen sind von der demonstrierten Loyalität der Gemeinde zum Assad-Regime abhängig, womit sich Staatsangestellten zusätzliche Möglichkeiten bieten, Bestechungsgelder einzufordern. Der syrische Bürgerkrieg hat neue Möglichkeiten für Korruption in der Regierung, unter regierungstreuen bewaffneten Gruppen und im Privatsektor geschaffen (FH 1.2018).

Regierungstreue Milizen verlangen beispielsweise für das Passieren ihrer Checkpoints Bestechungsgelder. Das Fünfte Korps verlangt laut Experten von lokalen Gemeinden Gelder für die Gewährleistung von Sicherheit (FIS 14.12.2018). Milizen erpressen Unternehmen und konfiszieren privates Eigentum in unterschiedlichem Ausmaß (FH 1.2018). Auch in der syrischen Armee gibt es eine Tradition der Bestechung Ranghöherer, etwa um eine bessere Position oder einfachere Aufgaben zu erhalten, einen Einsatz an der Frontlinie zu vermeiden oder überhaupt den Wehrdienst selbst zu umgehen (FIS 14.12.2018).

Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen

Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB 29.9.2020). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Zusätzlich gibt es die Möglichkeit eines freiwilligen Militärdienstes. Frauen können ebenfalls freiwillig Militärdienst leisten (CIA 12.8.2020; vgl. FIS 14.12.2018). Palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht, dienen jedoch in der Regel in der Palestinian Liberation Army (PLA) unter palästinensischen Offizieren. Diese ist jedoch de facto ein Teil der syrischen Armee (AA 13.11.2018; vgl. FIS 14.12.2018). Auch Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018).

Nach dem Ausbruch des Konfliktes stellte die syrische Regierung die Abrüstung von Rekruten, welche den verpflichtenden Wehrdienst geleistet hatten, ein (DIS 5.2020; vgl. ÖB 7.2019). 2018 wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren. Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch auch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020).

Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden (TIMEP 22.8.2019; vgl. STDOK 8.2017). Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z.B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung). Manche Personen werden wieder zum aktiven Dienst einberufen, andere wiederum nicht, was von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Es ist sehr schwierig zu sagen, ob jemand tatsächlich zum Reservedienst einberufen wird (STDOK 8.2017).

Die syrische Armee hat durch Verluste, Desertion und Überlaufen zu den Rebellen einen schweren Mangel an Soldaten zu verzeichnen (TIMEP 6.12.2018). Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt unverändert hoch, und seit Dezember 2018 haben sich die Rekrutierungsbemühungen aufgrund dessen sogar noch verstärkt (AA 4.12.2020). Während ein Abkommen zwischen den überwiegend kurdischen Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung vom November 2019 die Stationierung von Truppen der syrischen Streitkräfte in vormals kurdisch kontrollierten Gebieten vorsieht, hat die syrische Regierung aufgrund von mangelnder Verwaltungskompetenz bislang keinen verpflichtenden Wehrdienst in diesen Gebieten wiedereingeführt (DIS 5.2020).

Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020).

Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Ein „Herausfiltern“ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints ist weit verbreitet (FIS 14.12.2018). So errichtet die Militärpolizei beispielsweise in Homs stichprobenartig und nicht vorhersehbar Straßenkontrollen. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 3.6.2020). Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z.B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara’a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. EB 3.6.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden. Weiters rekrutieren die syrischen Streitkräfte in Lagern für Binnenvertriebene (DIS 5.2020).

Die Behörden ziehen vornehmlich Männer bis zu einem Alter von 27 Jahren ein, während Ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise angehoben und auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen, bzw. konnten Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen (ÖB 29.9.2020; vgl. FIS 14.12.2018). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab, als von allgemeinen Einberufungsregelungen.

Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020).

Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020).

Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten haben und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in SYP leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2000 USD oder das Äquivalent in SYP nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird als ganzes Jahr gerechnet. Außerdem kann basierend auf einem Beschluss des Finanzministers das bewegliche und unbewegliche Vermögen der Person, die sich weigert den Betrag zu bezahlen, konfisziert werden (SANA 8.11.2017; vgl. SLJ 10.11.2017, PAR 15.11.2017).

Wehrdienstverweigerung / Desertion

Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an oder tauchte unter (DIS 5.2020).

Wehrdienstverweigerer werden laut Gesetz in Friedenszeiten mit ein bis sechs Monaten Haft bestraft [Anm.: die Wehrpflicht besteht dabei weiterhin fort]. In Kriegszeiten wird Wehrdienstverweigerung laut Gesetz mit Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren bestraft (AA 4.12.2020).

Bezüglich der Konsequenzen einer Wehrdienstverweigerung gehen die Meinungen der Quellen auseinander. Während manche die Ergreifung eines Wehrdienstverweigerers mit Foltergarantie und Todesurteil gleichsetzen (Landinfo 3.1.2018), sagen andere, dass Betroffene sofort eingezogen würden (DIS 5.2020; vgl. Landinfo 3.1.2018), was von einer Quelle mit dem Bedarf der syrischen Regierung nach Verstärkung in Verbindung gebracht wird. Quellen berichten jedoch auch, dass gefasste Wehrdienstverweigerer riskieren, von den syrischen Behörden vor der Einberufung inhaftiert zu werden (DIS 5.2020). Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018; vgl. DIS 5.2020).

Im Dezember 2019 trat eine Bestimmung in Kraft, wonach wehrfähige Männer, welche den Wehrdienst bis zu einem Alter von 42 Jahren nicht abgeleistet haben, eine Befreiungsgebühr von 8.000 USD bezahlen müssen, um einer Beschlagnahmung ihres Vermögens, bzw. des Vermögens ihrer Ehefrauen oder Kinder zu entgehen (DIS 5.2020).

Berichten zufolge betrachtet die Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen (STDOK 8.2017). Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vgl. DIS 5.2020).

Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt (Landinfo 3.1.2018).

Desertion wird gemäß dem Militärstrafgesetz von 1950 in Friedenszeiten mit ein bis fünf Jahren Haft bestraft und kann in Kriegszeiten bis zu doppelt so lange Haftstrafen nach sich ziehen.

Deserteure, die zusätzlich außer Landes geflohen sind (sogenannte „externe Desertion“), unterliegen Artikel 101 des Militärstrafgesetzbuchs, der eine Strafe von fünf bis zehn Jahren Haft in Friedenszeiten und 15 Jahre Haft in Kriegszeiten vorschreibt. Desertion im Angesicht des Feindes ist mit lebenslanger Haftstrafe zu bestrafen. In schwerwiegenden Fällen wird die Todesstrafe verhängt (STDOK 8.2017).

Unterschiedliche Quellen berichten von unterschiedlichen Konsequenzen für Deserteure und Überläufer. Während eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, habe die syrische Regierung jedoch ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an Kräften an der Front festgenommene Deserteure unter Umständen vor dem Militärgericht zu kurzen Haftstrafen verurteilt. Eine andere Quelle berichtet jedoch, dass Deserteure üblicherweise von Einheiten des syrischen Geheimdienstes inhaftiert würden, womit sie dem Risiko von Folter und Verschwindenlassen ausgesetzt sein können. Auch berichtet eine weitere Quelle, dass Tötungen und Exekutionen von Deserteuren weiterhin stattfinden, zum Beispiel während der Offensive in Idlib im Jahr 2020 (DIS 5.2020).

Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von „high profile“-Deserteuren der Fall sein, also z.B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018; vgl. DIS 5.2020). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020).

In Gebieten, welche durch sogenannte Versöhnungsabkommen wieder unter die Kontrolle der syrischen Regierung gebracht wurden, werden häufig Vereinbarungen bezüglich des Wehrdienstes getroffen (STDOK 8.2017; vgl. DIS 5.2020). Berichten zufolge wurden solche Zusagen von der Regierung aber bisweilen auch gebrochen (AA 4.12.2020; vgl. FIS 14.12.2018, DIS 5.2020).

Auch in den „versöhnten Gebieten“ sind Männer im entsprechenden Alter mit der Wehrpflicht oder mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert. In manchen dieser Gebiete drohte die Regierung auch, dass die Bevölkerung keinen Zugang zu humanitärer Hilfe erhält, wenn diese nicht den Regierungseinheiten beitreten (FIS 14.12.2018). In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten zudem einer Quelle zufolge viele Deserteure und Überläufer, denen durch die Versöhnungsabkommen Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020).

Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG/YPJ)

Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG) sind die bewaffneten Einheiten der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) (TNA 17.6.2020; vgl. DZO 13.1.2019). Seit 2014 gibt es in den Gebieten unter Kontrolle der PYD eine gesetzliche Verordnung zum verpflichtenden Wehrdienst für Männer von 18 bis 30 Jahren (MOFANL 7.2019; vgl. EB 7.12.2019). Die Sanktionen für die Wehrdienstverweigerung ähneln denen im von der Regierung kontrollierten Teil und umfassen Haftstrafen sowie eine Verlängerung des Wehrdienstes. Es kommt zu Überprüfungen von möglichen Wehrpflichtigen an Kontrollposten und auch zu Ausforschungen. Die Autonomiebehörden dürften laut der Österreichischen Botschaft Damaskus eine Verweigerung aber nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen (ÖB 29.9.2020). Laut UNHCR kann die Weigerung, den YPG beizutreten, Berichten zufolge schwerwiegende Konsequenzen haben, einschließlich Entführung, Inhaftierung und Misshandlung der inhaftierten Personen sowie Zwangsrekrutierung, da die Verweigerung des Kampfes als Ausdruck der Unterstützung des sogenannten Islamischen Staates oder als Opposition zu PYD/YPG interpretiert werden kann (UNHCR 3.11.2017).

Mehrfach ist es zu Fällen gekommen, in denen Männer von der YPG rekrutiert werden, die älter als 30 Jahre waren. Dabei handelte es sich um Personen, die PYD-kritisch politisch aktiv waren, und die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Rekrutierung abgestraft werden sollten (Savelsberg 3.11.2017).

Allgemeine Menschenrechtslage

In dem seit mehr als neun Jahren andauernden Bürgerkrieg gab es nach Schätzungen bereits rund eine halbe Million Tote (Welt 30.6.2020; vgl. BBC 12.7.2020). Das Regime wurde durch den Erfolg seiner von Russland und Iran unterstützten Kampagnen so gefestigt, dass es keinen Willen zeigt, integrative oder versöhnende demokratische Prozesse einzuleiten. Dies zeigt sich in der Abwesenheit freier und fairer Wahlen sowie in den gewaltsamen Maßnahmen zur Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit. Bewaffnete Akteure aller Fraktionen, darunter auch die Regierung, versuchen ihre Herrschaft mit Gewalt durchzusetzen und zu legitimieren (BS 29.4.2020).

Es gibt krasse Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung zwischen Staat und Wirtschaftseliten und einen geschlossenen Kreis wirtschaftlicher Möglichkeiten. Die Bürger werden ungleich behandelt. Ihnen werden aufgrund konfessioneller Zugehörigkeit, des Herkunftsortes, ethnischer Zugehörigkeit und des familiären Hintergrundes grundlegende staatsbürgerliche Rechte vorenthalten bzw. Privilegien gewährt oder verweigert. Grundlegende Aspekte der Staatsbürgerschaft werden großen Teilen der Bevölkerung verwehrt. Diese ungerechte Behandlung hat sich im Laufe der Konfliktjahre vertieft (BS 29.4.2020).

Die Verfassung bestimmt die Ba’ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden hat. Ein Dekret von 2011 erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung erlaubt nur regierungsnahen Gruppen offizielle Parteien zu gründen und zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien, auch jenen, die mit der Ba’ath-Partei in der National Progressive Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet um Hunderte Mitglieder von Menschenrechts- und Studentenorganisationen zu verhaften. Es gibt auch zahlreiche Berichte zu anderen Formen der Drangsalierung von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionellen oder Personen, die als oppositionell wahrgenommen werden. Diese reichen von Reiseverboten, Enteignung und Überwachung bis hin zu willkürlichen Festnahmen, Verschwindenlassen und Folter (USDOS 11.3.2020).

Weiterhin besteht in keinem Teil des Landes ein umfassender und langfristiger Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Repression durch die zahlreichen Sicherheitsdienste, Milizen und sonstige regimenahe Institutionen. Dies gilt auch für Landesteile, insbesondere im äußersten Westen des Landes sowie der Hauptstadt Damaskus, in denen traditionell Bevölkerungsteile leben, die dem Regime näher stehen. Selbst bis dahin als regimenah geltende Personen können aufgrund allgegenwärtiger staatlicher Willkür grundsätzlich Opfer von Repressionen werden (AA 19.5.2020).

In Gebieten, die von der Regierung zurückerobert werden, kommt es zu Beschlagnahmungen von Eigentum, großflächigen Zerstörungen von Häusern und willkürlichen Verhaftungen (SNHR 26.1.2021; vgl. SHRC 24.1.2019, HRW 13.1.2021). Diejenigen, die sich mit der Regierung „versöhnt“ haben, werden weiterhin durch die Regierungstruppen misshandelt (HRW 14.1.2020; vgl. AA 4.12.2020, SNHR 26.1.2021). Auch nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen begehen schwere Übergriffe. Das Schicksal von Tausenden, die vom sogenannten Islamischen Staat (IS) entführt wurden, bleibt unbekannt. Auch die kurdischen Behörden, die von den USA geführte Koalition oder die syrische Regierung unternehmen keine Schritte, deren Verbleib zu ermitteln (HRW 13.1.2021).

Es sind zahllose Fälle bekannt, bei denen Personen für als regierungsfeindlich angesehene Tätigkeiten ihrer Verwandten inhaftiert und gefoltert werden, darunter sollen auch Fälle sein, bei denen die gesuchten Personen ins Ausland geflüchtet sind (AA 4.12.2020). Frauen mit familiären Verbindungen zu Oppositionskämpfern oder Abtrünnigen werden z.B. als Vergeltung oder zur Informationsgewinnung festgenommen (UNHRC 31.1.2019). Außerdem werden Personen festgenommen, die Kontakte zu Verwandten oder Freunden unterhalten, die in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben (UNHRC 31.1.2019; vgl. UNHCR 7.5.2020, SNHR 26.1.2021).

Tausende Menschen starben seit 2011 im Gewahrsam der syrischen Regierung an Folter und entsetzlichen Haftbedingungen (HRW 14.1.2020). Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konfliktes, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 24.1.2019). Die syrischen Regimekräfte und ihre Sicherheitsapparate setzen ihre systematische Politik der Inhaftierung und des Verschwindenlassens von Zehntausenden von Syrern fort. Trotz der Verringerung des Tempos der Inhaftierungen und des gewaltsamen Verschwindenlassens im Jahr 2020 konnte keine wirkliche Veränderung im Verhalten des Regimes beobachtet werden, sei es in Bezug auf die Freilassung der Inhaftierten oder die Aufdeckung des Schicksals der Verschwundenen (SHRC 1.2021).

Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Massaker und Vergewaltigungen als Kriegstaktik; Einsatz von Kindersoldaten sowie übermäßige Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, inklusive Zensur. Die Regierung überwacht die Kommunikation im Internet, inklusive E-Mails, greift in Internet- und Telefondienste ein und blockiert diese. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke ein (USDOS 11.3.2020).

Berichten zufolge sind Personen in Gebieten, die erst vor kurzer Zeit durch die Regierung wiedererobert wurden, aus Angst vor Repressalien oft zögerlich dabei, über die Situation in diesen Gebieten zu berichten (USDOS 11.3.2020). Zwangsdeportationen von Hunderttausenden Bürgern haben ganze Städte und Dörfer entvölkert (BS 29.4.2020).

Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie die mit al-Qaida in Verbindung stehende Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS), sind für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, wie Massaker, Beschuss, Entführung, unrechtmäßige Inhaftierung, extremen körperlichen Missbrauch, Tötung und Zwangsvertreibung auf Basis der Konfession Betroffener, verantwortlich (USDOS 11.3.2020). Sexuelle Versklavung und Zwangsverheiratung sind zentrale Elemente der Ideologie des sogenannten IS. Mädchen und Frauen wurden zur Heirat mit Kämpfern gezwungen. Frauen und Mädchen, die Minderheiten angehören, wurden sexuell versklavt, zwangsverheiratet und anderen Formen sexueller Gewalt ausgesetzt (USDOS 20.6.2019).

Elemente der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), einer Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen an Korruption, rechtswidriger Einschränkung des Personenverkehrs und willkürlicher Verhaftung von Zivilisten sowie an Angriffen beteiligt gewesen sein, die zu zivilen Opfern führten. Es gibt vereinzelte Berichte über Festnahmen von Journalisten, Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen und Oppositionsparteien und Personen, die sich weigerten mit den kurdischen Gruppen zu kooperieren (USDOS 11.3.2020; vgl. HRW 10.9.2018, SNHR 26.1.2021). Familienmitglieder von gesuchten Aktivisten, darunter auch Verwandte von Mitgliedern des IS, sollen von den SDF in den von ihnen kontrollierten Gebieten gefangen genommen worden sein, um Informationen zu erhalten oder um Druck auszuüben (USDOS 13.3.2019).

Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und jihadistischer Gruppen befinden (AA 4.12.2020).

Ein Charakteristikum des Bürgerkriegs in Syrien ist, dass in ganz Syrien bestimmte Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder wahrgenommenen bzw. zugeschriebenen politischen Meinung oder Zugehörigkeit direkt angegriffen werden oder ihnen auf andere Weise Schaden zugefügt wird. Diese Zuschreibung basiert oft nur auf den familiären Verbindungen der Person, ihrem religiösen oder ethnischen Hintergrund oder einfach auf ihrer Präsenz in oder Herkunft aus einem bestimmten Gebiet, das als „regierungsfreundlich“ oder „regierungsfeindlich“ gilt (UNHCR 11.2015).

Rückkehr

Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele unterschiedliche Faktoren die Rückkehrmöglichkeiten beeinflussen. Ethno-religiöse, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle, wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber Gemeinden, die der Opposition zugeneigt sind (FIS 14.12.2018). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie durch die Region bestimmt, in welche die Rückkehr erfolgt, sondern entscheidend ist vielmehr, wie Rückkehrer von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen werden (AA 4.12.2020).

Es liegen widersprüchliche Informationen vor, ob Personen, die nach Syrien zurückkehren möchten, eine Sicherheitsüberprüfung durchlaufen müssen, oder nicht. Laut deutschem Auswärtigen Amt müssen syrische Flüchtlinge, unabhängig von politischer Ausrichtung,vor ihrer Rückkehr weiterhin eine Überprüfung durch die syrischen Sicherheitsdienste durchlaufen (AA 19.5.2020). Auch laut International Crisis Group (ICG) stellt unabhängig davon, welchen administrativen Weg ein rückkehrwilliger Flüchtling wählt, die Sicherheitsfreigabe durch den zentralen Geheimdienstapparat in Damaskus (oder die Verweigerung einer solchen) das endgültige Urteil dar, ob es einem Flüchtling möglich ist sicher nach Hause zurückzukehren (ICG 13.2.2020). Im Gegensatz dazu berichtet der Danish Immigration Service (DIS) auf Basis von Interviews, dass Syrer, die außerhalb Syriens wohnen und nicht von der syrischen Regierung gesucht werden, keine Sicherheitsfreigabe benötigen, um nach Syrien zurückzukehren. Weiters berichtete Syria Direct gegenüber DIS, dass lediglich Syrer im Libanon, die über „organisierte Gruppenrückkehr“ nach Syrien zurückkehren möchten, eine Sicherheitsfreigabe benötigen (DIS 12.2020).

Ein Punkt, der nach wie vor schwer zu ermitteln ist, ist der Anteil der Antragsteller, denen die Rückkehr nicht genehmigt wurde (ICG 13.2.2020). Er wird von den verschiedenen Quellen mit 5% (SD 16.1.2019), 10% (Reuters 25.9.2018), bis hin zu 30% (ABC 6.10.2018) angegeben. In vielen Fällen wird auch Binnenvertriebenen die Rückkehr in ihre Heimatgebiete nicht erlaubt

(USDOS 11.3.2020). Gründe für eine Ablehnung können (wahrgenommene) politische Aktivitäten gegen die Regierung bzw. Verbindungen zur Opposition oder die Nicht-Erfüllung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.9.2018; vgl. ABC 6.10.2018, SD 16.1.2019). Einige Beobachter und humanitäre Helfer behaupten, dass die Bewilligungsrate für Antragsteller aus Gebieten, die als regimefeindliche Hochburgen identifiziert wurden, nahezu Null ist (ICG 13.2.2020). Kriterien und Anforderungen, um ein positives Ergebnis zu er alten, sind nicht bekannt. Es gibt Berichte, denen zufolge Rückkehrer trotz positiver Sicherheitsüberprüfung Opfer willkürlicher Verhaftung, Folter oder Verschwindenlassens geworden und vereinzelt in Haft ums Leben gekommen sein sollen (AA 19.5.2020).

Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden, und darum die Genehmigung zur Rückkehr nicht erhalten, sind aufgefordert ihren „Status zu klären“, bevor sie zurückkehren können (Reuters 25.9.2018; vgl. SD 16.1.2019). Einem syrischen General zufolge müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren möchten, in der entsprechenden syrischen Auslandsvertretung „Versöhnung“ beantragen und unter anderem angeben, wie und warum sie das Land verlassen haben und Angaben über Tätigkeiten in der Zeit des Auslandsaufenthaltes etc. machen. Diese Informationen werden an das syrische Außenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsüberprüfung durchgeführt wird. Syrer, die über die Landgrenzen einreisen, müssen dem General zufolge dort ein „Versöhnungsformular“ ausfüllen (DIS 6.2019). Um im Falle der Rückkehr einer Verhaftung zu entgehen, versuchen Syrer, Informationen über ihre Sicherheitsakte zu erhalten und diese, wenn möglich, zu bereinigen. Persönliche Kontakte und Bestechungsgelder sind die gängigsten Mittel und Wege zu diesem Zweck, doch aufgrund ihrer Informalität und der Undurchsichtigkeit des syrischen Sicherheitssektors sind solche Informationen und Sicherheitsfreigaben nicht immer zuverlässig, und nicht jeder kann sie erhalten (ICG 13.2.2020).

Zwar schützt der Genehmigungsprozess potenzielle Rückkehrer nicht vor Misshandlung durch die Milizen oder zukünftiger Verfolgung, trägt jedoch dazu bei, die Unsicherheit zu verringern, mit der sie konfrontiert sind, und nimmt ihnen damit ein Element der Abschreckung (ICG 13.2.2020).

Der Sicherheitssektor kontrolliert den Rückkehrprozess in Syrien. Die Sicherheitsdienste institutionalisieren ein System der Selbstbeschuldigung und Informationsweitergabe über Dritte, um große Datenbanken mit Informationen über reale und wahrgenommene Bedrohungen aus der syrischen Bevölkerung aufzubauen. Um intern oder aus dem Ausland zurückzukehren, müssen Geflüchtete umfangreiche Formulare ausfüllen (EIP 6.2019).

Gesetz Nr. 18 von 2014 sieht eine Strafverfolgung für illegale Ausreise in der Form von Bußgeldern oder Haftstrafen vor. Entsprechend einem Rundschreiben wurde die Bestrafung für illegale Ausreise jedoch aufgehoben und Grenzbeamte sind angehalten, Personen, die illegal ausgereist sind, „bei der Einreise gut zu behandeln“ (DIS 6.2019).

Syrer benötigen in unterschiedlichen Lebensbereichen eine Sicherheitsfreigabe von den Behörden, so z.B. auch für die Eröffnung eines Geschäftes, eine Eheschließung und Organisation einer Hochzeitsfeier, um den Wohnsitz zu wechseln, für Wiederaufbautätigkeiten oder auch, um eine Immobilie zu kaufen (FIS 14.12.2018; vgl. EIP 6.2019). Die Sicherheitsfreigabe kann auch Informationen enthalten, z.B. wo eine Person seit dem Verlassen des konkreten Gebietes aufhältig war. Der Genehmigungsprozess könnte sich einfacher gestalten für eine Person, die in Damaskus aufhältig war, wohingegen der Aufenthalt einer Person in Orten wie Deir ez-Zour zusätzliche Überprüfungen nach sich ziehen kann. Eine Person wird für die Sicherheitserklärung nach Familienmitgliedern, die von der Regierung gesucht werden, befragt, wobei nicht nur Mitglieder der Kern- sondern auch der Großfamilie eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018).

Die syrische Regierung führt Listen mit Namen von Personen, die als in irgendeiner Form regierungsfeindlich angesehen werden. Die Aufnahme in diese Listen kann aus sehr unterschiedlichen Gründen erfolgen und sogar vollkommen willkürlich sein. Zum Beispiel kann die Behandlung einer Person an einer Kontrollstelle, wie einem Checkpoint, von unterschiedlichen Faktoren abhängen, darunter die Willkür des Personals am Kontrollpunkt oder praktische Probleme, wie die Namensgleichheit mit einer von der Regierung gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, können unterschiedliche Konsequenzen von Regierungsseite zu gewärtigen haben, wie Festnahme und im Zuge dessen auch Folter. Zu als oppositionell oder regierungsfeindlich angesehenen Personen gehören einigen Quellen zufolge unter anderem medizinisches Personal, insbesondere wenn die Person in einem von der Regierung belagerten oppositionellen Gebiet gearbeitet hat, Aktivisten und Journalisten, die sich mit ihrer Arbeit gegen die Regierung engagieren und diese offen kritisieren, oder Informationen oder Fotos von Geschehnissen in Syrien, wie Angriffe der Regierung, verbreitet haben sowie allgemein Personen, die offene Kritik an der Regierung üben. Einer Quelle zufolge kann es sein, dass die Regierung eine Person, deren Vergehen als nicht so schwerwiegend gesehen wird, nicht sofort, sondern erst nach einer gewissen Zeit festnimmt (FIS 14.12.2018). Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten und es findet keine Abstimmung und Zentralisierung statt. Daher kann es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen kommen (AA 4.12.2020).

Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Checkpoint beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. In einem Ort, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, zu wohnen oder von dort zu stammen kann den Verdacht des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018).

Laut ICG ist nicht immer klar, wen die syrische Regierung als Gegner ansieht, bzw. kann sich dies im Laufe der Zeit auch ändern. Demnach gibt es keine Gewissheit darüber, wer vor einer Verhaftung sicher ist. Viele Flüchtlinge, mit denen ICG Gespräche führte, berichteten, dass der Verzicht auf regimefeindliche Aktivitäten keine sichere Rückkehr garantiert (ICG 13.2.2020).

Es wurde regelmäßig von Verhaftungen von und Anklagen gegen Rückkehrer gemäß der Anti- Terror-Gesetzgebung berichtet, wenn diesen Regimegegnerschaft unterstellt wird. Diese Berichte erscheinen laut deutschem Auswärtigem Amt glaubwürdig, konnten im Einzelfall aber nicht verifiziert werden (AA 13.11.2018).

Es muss davon ausgegangen werden, dass syrische Sicherheitsdienste in der Lage sind, exil-politische Tätigkeiten auszuspähen und darüber zu berichten (ÖB 29.9.2020; vgl. TWP 2.6.2019). Es gab Berichte, dass syrische Sicherheitsdienste mit Drohungen gegenüber noch in Syrien lebenden Familienmitgliedern Druck auf in z.B. Deutschland lebende Verwandte ausübten (AA 13.11.2018). Die syrische Regierung hat Interesse an politischen Aktivitäten von Syrern im Ausland. Eine Gefährdung eines Rückkehrers im Falle von exil-politischer Aktivität hängt jedoch von den Aktivitäten selbst, dem Profil der Person und von zahlreichen anderen Faktoren, wie dem familiären Hintergrund und den Ressourcen ab, die der Regierung zur Verfügung stehen (STDOK 8.2017). Der Sicherheitssektor nützt den Rückkehr- und Versöhnungsprozess, um, wie in der Vergangenheit, lokale Informanten zur Informationsgewinnung und Kontrolle der Bevölkerung zu institutionalisieren. Die Regierung weitet ihre Informationssammlung über alle Personen, die nach Syrien zurückkehren oder die dort verblieben sind, aus. Historisch wurden Informationen dieser Art benutzt, um Personen, die aus jedwedem Grund als Bedrohung für die Regierung gesehen werden, zu erpressen oder zu verhaften (EIP 6.2019). Das Schreiben eines „taqrir“ (Bericht), d.h. die Meldung von Personen an die Sicherheitsbehörden, ist seit Jahrzehnten Teil des Lebens im ba’athistischen Syrien, der laut ICG auch unter den Flüchtlingen im Libanon fortbesteht. Motive sind dabei persönliche Bereicherung, Begleichen von Rechnungen oder Vermeidung selbst zur Zielscheibe zu werden. Sogar Regimebeamte geben zu, dass Verhaftungen aufgrund unbegründeter Denunziationen erfolgen (ICG 13.2.2020).

Es gibt Berichte über Menschenrechtsverletzungen gegenüber Personen, die nach Syrien zurückgekehrt waren (IT 17.3.2018). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört – inklusive Geflüchteten, die aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrten, IDPs aus von der Opposition kontrollierten Gebieten, und Personen, die in durch die Regierung wiedereroberten Gebieten ein Versöhnungsabkommen mit der Regierung unterschrieben haben. Sie wurden gezwungen, Aussagen über Familienmitglieder zu machen und in manchen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 2.6.2019; vgl. EIP 6.2019).

Daten der Vereinten Nationen weisen darauf hin, dass 14% von mehr als 17.000 befragten IDP- und Flüchtlingshaushalten, die im Jahr 2018 zurückgekehrt sind, während ihrer Rückkehr angehalten oder verhaftet wurden, 4% davon für über 24 Stunden. In der Gruppe der (ins Ausland) Geflüchteten wurden 19% verhaftet. Diese Zahlen beziehen sich spezifisch auf den Heimweg und nicht auf die Zeit nach der Rückkehr (EIP 6.2019).

Syrische Flüchtlinge benötigen für die Heimreise üblicherweise die Zustimmung der Regierung und die Bereitschaft, vollständige Angaben über ihr Verhältnis zur Opposition zu machen. In vielen Fällen hält die Regierung die im Rahmen der „Versöhnungsabkommen“ vereinbarten Garantien nicht ein, und Rückkehrer sind Schikanen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden oder auch Inhaftierung und Folter ausgesetzt, mit dem Ziel Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im Ausland zu erhalten (TWP 2.6.2019).

Nach Einschätzung des Hochkommissariats für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR), der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und des Internationalen Komitees vom roten Kreuz (IKRK) sind die Bedingungen für eine umfassende Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien in Sicherheit und Würde aufgrund weiter bestehender signifikanter Sicherheitsrisiken für die Zivilbevölkerung in ganz Syrien weiterhin nicht gegeben (AA 4.12.2020).

1.2.2. Die Rekrutierungspraxis der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG):

Am 14. Juli 2014 wurde in den kurdisch kontrollierten Gebieten erstmals gesetzlich eine allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Genanntes Gesetz kam erstmals im Jahr 2015 in Afrin zum Einsatz. Im Jahr 2017 wurde in der Region Jazira das Gesetz zur „verpflichteten Selbstverteidigung“ beschlossen. Zuvor genannte Gesetze wurden, nachdem sich der kurdische Nationalrat (Majlis al-‘Am) im Juni des Jahres 2019 auf das Gesetz der „Pflicht zur Selbstverteidigung“ einigte, durch dieses ersetzt. Geographisch umfasst das Gesetz den Norden und Osten Syriens, der von der kurdischen Autonomieregierung kontrolliert wird. Es besteht für Kurden ab dem Erreichen des achtzehnten Lebensjahres eine allgemeine Wehrpflicht bei der SDF (Artikel 1a, 2019) und betrifft alle Kurden syrischer Staatsangehörigkeit sowie staatenlose Kurden. Syrer aus anderen Teilen des Landes müssen ebenfalls beitreten, sobald sie sich länger als fünf Jahre in den zuvor genannten Gebieten aufgehalten haben (Artikel 1j, 2019). Der Wehrdienst muss bis zum vierzigsten Lebensjahr abgeleistet werden (Artikel 13).

1.3. Zum fluchtauslösenden Vorbringen:

Qamishli und Umgebung stehen unter kurdischer Kontrolle, ein kleiner Teil in Qamishli (Flughafen, ein Gebiet rund um Az Zunud und ein zentrales Gebiet mit Korridor an die Grenze) wird auch vom Regime kontrolliert.

Bezüglich die beschwerdeführende Partei haben keine wiederholten Rekrutierungsversuche durch das syrische Regime oder Mitglieder der YPG stattgefunden.

Die beschwerdeführende Partei absolvierte in den Jahren von 1993 bis 1996 den verpflichtenden syrischen Militärdienst als einfacher Soldat. Die beschwerdeführende Partei hat keinen Einberufungsbefehl als Reservist zum syrischen Militär erhalten. Eine Gefahr, als Reservist zum syrischen Militär eingezogen zu werden, besteht für die beschwerdeführende Partei nicht.

Es besteht auch keine Gefahr, durch das syrische Regime wegen einer Wehr- oder Reservedienstverweigerung oder wegen der Verwandtschaft zu den im Ausland verbliebenen Brüdern bzw. dem Schwager als politisch oppositionell eingestuft zu werden.

Genausowenig wird eine Gefahr, im Fall einer Rückkehr nach Syrien durch Mitglieder der YPG zwangsrekrutiert zu werden, festgestellt.

Schließlich besteht auch keine Bedrohung für die beschwerdeführende Partei durch die syrische Regierung wegen ihrer illegalen Ausreise in die Türkei im April 2020, noch wegen der Asylantragstellung im Ausland.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Die Feststellungen zur Identität der beschwerdeführenden Partei und ihrer Staatsangehörigkeit gründen sich auf die diesbezüglich glaubhaften Angaben der beschwerdeführenden Partei sowie auf die im Verfahren vorgelegten Dokumente (Original des syrischen Reisepasses, Personalausweises und Führerscheins AS 149ff). Auch wurden die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit und Identität bereits durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl getroffen; das Bundesverwaltungsgericht hat keinen Grund, daran zu zweifeln.

Das Datum der Antragstellung und die Ausführungen zum Verfahrensverlauf ergeben sich aus dem Akteninhalt.

2.2. Die Feststellungen zum Religionsbekenntnis, zur Volksgruppenzugehörigkeit, zur Herkunft, zur Schulbildung und Berufserfahrung in Syrien, sowie dass die beschwerdeführende Partei verheiratet und Vater von vier Kindern ist, zum Aufenthalt ihrer Eltern, Ehefrau, Kinder und zwei Schwestern in Syrien und weiterer Geschwister im Ausland basieren auf den diesbezüglich glaubhaften Angaben der beschwedeführenden Partei im Laufe der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX 2021 bzw. den vorgelegten Dokumenten (Kopie mehrerer Seiten des Familienbuchs, AS 123ff).

Bezüglich des Aufenthaltsortes von vier weiteren Brüdern machte die beschwerdeführende Partei im Laufe des Verfahrens widersprüchliche Angaben. So behauptete sie noch im Zuge ihrer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am XXXX .2020, vier ihrer Brüder würden sich noch in Syrien aufhalten. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX 2021, somit ein Jahr später, erklärte sie jedoch dazu, vier Brüder befänden sich mit ihren Familien in der Türkei bzw. im Irak (siehe Verhandlungsprotokoll Seite 7).

Dazu in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX 2021 von der erkennenden Richterin bzw. ihrem Rechtsvertreter nachgefragt, erklärte die beschwerdeführende Partei folgendes (Auszug aus dem Verhandlungsprotokoll):

„[…] P: Meine Mutter, mein Vater und zwei meiner Schwestern leben noch XXXX . Derzeit wohnen meine Frau und meine Kinder in XXXX . Zwei der Mädchen wohnen bei meinen Eltern im Dorf, nicht im selben Haushalt. XXXX und XXXX leben bei meinen Eltern. XXXX ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann in Irak. XXXX ist auch verheiratet und lebt in XXXX . Das ist in Syrien an der Grenze. Zwei Brüder sind in der Türkei mit ihren Kindern und zwei sind im Irak.

R: Wann sind die Brüder in die Türkei und in den Irak gegangen?

P: Nach 2016. Ich habe einen Bruder, XXXX . Er ist in der Schweiz. Ich habe einen anderen Bruder in Österreich.

R: In dem Protokoll vor dem BFA vor einem Jahr haben Sie gesagt, 4 Brüder und 4 Schwestern leben in Syrien. Jetzt sind die 4 Brüder nicht in Syrien. Wann sind die 4 Brüder in die Türkei und in den Irak gegangen?

P: Ich habe nicht 2016 gesagt, ich habe 2018 gesagt. Sie sind aus Syrien weggegangen und ich bin danach weggegangen.

R: Wieso sagen Sie beim BFA, dass die vier Brüder in Syrien sind?

P: Ich bin zuerst weggegangen, dann sind meine Brüder weggegangen aus Syrien. Nachdem mein Bruder vom Regime und von den Kurden verfolgt wurde, haben wir ihm geholfen, in die Schweiz zu flüchten. Auch den Sohn meines ältesten Bruders, der 16 Jahre alt ist, wollten sie für das Militär. Auch ihm haben wir zur Flucht verholfen. Sie sind immer wieder zu uns gekommen, haben nach ihnen gefragt. Wir haben versucht, uns irgendwie rauszureden, aber manchmal haben wir ihnen auch Geld gegeben, damit sie wieder gehen. […]“

Sowie:

„[…] RV: Sie haben gesagt 2016 und 2018 hätten Ihre Brüder das Land verlassen. Können Sie das zuordnen?

P: Ich habe gesagt, dass mein Bruder, der in die Schweiz gereist ist, 2016 ausgereist ist, und der nächste danach. Der zweite Bruder ist ein paar Monate später mit seiner Familie ausgereist. Auch 2016. Nachgefragt, das ist mein Bruder, der in Österreich ist. RV: Sie selber sind 2020 ausgereist?

P: Ja.

RV: Wann sind Ihre Brüder in den Irak und in die Türkei gereist?

P: Nach mir sind sie ausgereist. Ich kann nicht sagen wann. Es können 2 oder 4 Monate sein. Sie haben ihre Familie genommen und sind ausgereist. […]“

Aus den eben zitierten Auszügen aus dem Verhandlungsprotokoll lässt sich erkennen, dass die Unklarheiten über den Aufenthaltsort und eine allfällige Ausreise von vier weiteren Brüdern der beschwerdeführenden Partei in den Irak und in die Türkei nicht ausreichend erhellt werden können: da seitens der erkennenden Richterin klar und deutlich in der Verhandlung nach der Ausreise jener vier Brüder gefragt wurde, die sich nach Angaben der beschwerdeführenden Partei nunmehr im Irak und in der Türkei aufhalten sollen, kann auch nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, dass die beschwerdeführende Partei in ihren chronologisch früheren Angaben in der Verhandlung die Ausreisedaten jener Brüder meinte, die nunmehr in Österreich und der Schweiz aufhältig sind. Während nicht verkannt wird, dass die beschwerdeführende Partei unter Umständen keine konkrete zeitliche Einordnung in Jahreszahlen betreffend die Ausreise ihrer Brüder vornehmen kann, müssen dennoch ihre unterschiedlichen Angaben dazu, ob jene vier Brüder vor ihr oder nach ihr Syrien verlassen haben sollen, wahrgenommen werden. Die beschwerdeführende Partei kann daher ihre diesbezüglichen Angaben dazu, dass nunmehr weitere vier Brüder das Land verlassen haben sollen, wegen Ungereimtheiten ihrer Angaben nicht glaubhaft machen, weshalb dazu keine positive Feststellung erfolgen konnte.

Die Feststellungen zu Herkunft aus XXXX , zum Umzug nach Damaskus sowie zur Ansiedlung in XXXX von XXXX nach der Heirat mit ihrer jetzigen Ehefrau bzw. zum dortigen Verbleib bis zur Ausreise aus Syrien ergeben sich aus den diesbezüglich glaubhaften Angaben der beschwerdeführenden Partei im Laufe der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX 2021.

Die Feststellung zum Gesundheitszustand der beschwerdeführenden Partei basiert auf ihren Angaben im Laufe des Verfahrens, und die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit auf einem entsprechenden Auszug aus dem Strafregister.

Die Feststellungen zur illegalen Ausreise der beschwerdeführenden Partei basieren auf ihren diesbezüglich glaubhaften Angaben im Laufe des Verfahrens.

2.3. Die Feststellung, dass die Stadt XXXX und deren Umland derzeit unter der Kontrolle kurdischer Milizen (YPG) und zu einem kleinen Teil unter der Kontrolle der syrischen Regierung steht, ergibt sich durch die Nachschau auf einer Website betreffend die Kontrolllage in Syrien (https://syria.liveuamap.com/) und wird auch durch die beschwerdeführende Partei so bestätigt (Seiten 5f des Verhandlungsprotokolls).

Die Feststellungen zur relevanten Situation in Syrien beruhen auf:

Zu oben 1.2.1.: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien mit Stand Februar 2021, und darin wiederum auf den folgenden Einzelquellen:

-        AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684542/6038295/22065632/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt;_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_(Stand_November_2020);_04.12.2020.pdf?nodeid=22479918&vernum=-2 , Zugriff 18.1.2021

-        AA – Auswärtiges Amt [Deutsc

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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