Entscheidungsdatum
08.09.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W265 2204917-1/28E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX , vom 31.07.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.
IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 01.06.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am 02.06.2016 fand seine Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, dass sein Bruder XXXX als Dolmetscher für die Amerikaner gearbeitet habe. Aufgrund der drohenden Lebensgefahr hätten ihn die Amerikaner mitgenommen. Seit einem Jahr lebe sein Bruder nun in Amerika und dieser habe Angst zurückzukommen. Der Beschwerdeführer selbst und sein jüngerer Bruder seien zwischenzeitlich dreimal schriftlich von den Taliban bedroht worden. Sie hätten dies bei der Polizei angezeigt, doch diese habe ihnen nicht helfen können. Sein Vater habe ihn und seinen jüngeren Bruder aus Angst um deren Leben, gegen deren Willen, weggeschickt. Er habe Angst von den Taliban getötet zu werden.
2. Mit Schreiben vom 11.08.2016 legte der Beschwerdeführer durch seine damalige bevollmächtigte Vertretung, die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Dokumente vor.
3. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 06.09.2017, rechtskräftig seit 11.09.2017, ZI XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen der versuchten Nötigung und der gefährlichen Drohung zu einer Freiheitsstrafe (Jugendstrafe) von zwei Monaten, welche unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt.
4. Mit Eingabe vom 02.11.2017 verständigte die Landespolizeidirektion XXXX das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl über die Anzeige gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts des Diebstahls, der Urkundenunterdrückung und der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel am 01.09.2017. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.
5. Mit Eingabe vom 12.01.2018 verständigte die Landespolizeidirektion XXXX das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl über die Anzeige gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts der versuchten Körperverletzung am 28.12.2017.
6. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 22.02.2018 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen im Wesentlichen an, dass er Paschtune und sunnitischer Moslem sei, in XXXX geboren wurde und neun Jahre in die Schule in XXXX gegangen sei. Er habe nicht gearbeitet. Seine Eltern, vier Schwestern und zwei Onkel väterlicherseits würden in XXXX leben. Seine Familie habe in XXXX ein Grundstück und ein Haus. Sein Bruder XXXX (Spitzname XXXX ) würde in Amerika leben. Sein jüngerer Bruder und ein Onkel würden in Wien leben.
Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass sein älterer Bruder in Kabul als Dolmetscher für die Amerikaner gearbeitet habe. Er sei aus Angst selten nachhause gekommen. Die Taliban hätten ihn einige Zeit später bedroht, er hätte mit ihnen zusammenarbeiten sollen, er hätte die vermeintlichen Ungläubigen vertreiben sollen. Die Taliban hätten gesagt, dass es verboten sei, mit den Ungläubigen zusammen zu arbeiten und, dass sie ihn töten würden und seine Familie in Gefahr sei, wenn er nicht damit aufhöre. Sein Bruder sei nicht mehr nachhause gekommen, die Amerikaner hätten ihn nach Amerika geschickt. Danach hätten die Taliban die gesamte Familie mit drei Drohbriefen bedroht und gefordert, dass sie „mit ihnen Jihad machen sollten“. Es sei für seinen Vater gefährlich gewesen, er habe eines seiner Häuser und das Geschäft verkauft und habe ihn und seinen jüngeren Bruder nach Europa geschickt.
Er legte weitere Dokumente und Integrationsunterlagen vor.
7. Mit Eingabe vom 27.02.2018 verständigte die Landespolizeidirektion XXXX die belangte Behörde über die Anzeige gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts der gefährlichen Drohung und der Unterschlagung am 15.01.2018. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.
8. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 12.04.2018, rechtskräftig seit 17.04.2018, ZI XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unbefugten Besitzes einer verbotenen Waffe zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten, welche unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt. Von einem Widerruf der bedingten Strafnachsicht des Urteils des Landesgerichts XXXX vom 06.09.2017, rechtskräftig seit 11.09.2017, ZI XXXX wurde abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert.
9. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 31.07.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass die vorgebrachte Fluchtgeschichte nicht glaubhaft gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe die Fluchtgeschichte sehr oberflächlich und wenig detailreich vorgebracht. Es habe außerdem Widersprüche zu dem Vorbringen des Bruders des Beschwerdeführers gegeben. Es habe nicht festgestellt werden können, dass dem Beschwerdeführer aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Ansichten drohen würde. Es habe auch nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr einer realen Gefahr der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention ausgesetzt wäre. Festgestellt habe werden können, dass er aufgrund seiner familiären Anknüpfungspunkte, seiner Staatsangehörigkeit und seiner Sprachkenntnisse nach Afghanistan zurückkehren könne. Er könne zwar nicht nach Nangahar zurückkehre, jedoch würden ihm innerstaatliche Fluchtalternativen zur Verfügung stehen. Er sei jung, gesund, arbeitsfähig und volljährig. Er könne sich in Afghanistan eine Existenz aufbauen. Aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Paschtunen könne er auf die Unterstützung seiner Volksgruppe zurückgreifen. Er habe in Österreich auch kein schützenswertes Privat- oder Familienleben. Außerdem sei er bereits kurze Zeit nach seiner Einreise wiederholt straffällig geworden.
10. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid mit Eingabe vom 28.08.2018 durch seine damalige bevollmächtigte Vertretung, fristgerecht Beschwerde. Darin brachte er im Wesentlichen vor, dass die letzte Einvernahme durch die belangte Behörde über sechs Monate vor der Entscheidung stattgefunden habe. Die belangte Behörde habe somit relevante Aspekte, insbesondere was das Privat- und Familienleben betreffe, nicht berücksichtigen können. Die Freundin des Beschwerdeführers XXXX (jetzt XXXX ) sei schwanger und erwarte das gemeinsame Kind im Februar 2019. Die Integration des Beschwerdeführers sei im letzten Jahr wesentlich fortgeschritten. Außerdem habe sich die Lage in seinem Herkunftsstaat entscheidungswesentlich verändern können, weshalb die belangte Behörde verpflichtet gewesen wäre, dem Beschwerdeführer erneut Parteiengehör zu gewähren. Des Weiteren hätte es die belangte Behörde verabsäumt, sich mit den vorgelegten Beweismitteln auseinanderzusetzen. Das Special Immigration Visa des älteren Bruders indiziere bereits, in Anbetracht der restriktiven Vergabepraxis, eine Verfolgung des Beschwerdeführers. Die vorgebrachten Länderinformationen seien veraltet und würden sich kaum mit dem konkreten Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers befassen. Zu den Drohbriefen verwies der Beschwerdeführer auf den Bericht des „Immigration and Refugee Board of Canada“ vom Februar 2015, wonach Drohbriefe („Night Letters“) der Taliban weit verbreitet wären, und den Bericht des „Danish Immigration Service“ von 2015, wonach die Drohbriefe ernst zu nehmen seien, dass es im Extremfall tödliche Folgen haben könne, wenn die darin befindlichen Instruktionen nicht befolgt werden würden. Des Weiteren verwies der Beschwerdeführer auf den Online-Artikel im Asylmagazin von Friederike STAHLMANN vom März 2017 („Bedrohungen im sozialen Alltag Afghanistans: Der fehlende Schutz bei Verfolgung und Gewalt durch private Akteure“), wonach Rückkehrende als besonders verwestlich angesehen werden würden und somit dem Vorwurf der Kollaboration mit dem Feind oder des Abfalls vom Glauben ausgesetzt wären. Die Polizei biete keinen Schutz. Der Beschwerdeführer verwies auch auf das Forschungspapier von „ASYLOS“ (research for asylum) vom August 2017 („Situation of young westernised returnees to Kabul“), wonach Rückkehrenden auch willkürliche Inhaftierungen drohen würden und diese auch weniger Zugang zu medizinischer Grundversorgung und zum Wohnungsmarkt hätten. Zudem führe Amnesty International (Stellungnahme vom 08.01.2018) aus, dass für junge Männer die Gefahr bestehe, dass diese zwangsrekrutiert werden würden. Schlussendlich sei die Sicherheitslage in Afghanistan sehr instabil und die Unterstützung für Rückkehrende minimal und ineffizient.
Er beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie die Vernehmung der Zeugin XXXX (jetzt XXXX ) und legte Dokumente vor.
11. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 31.08.2018 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 04.09.2018 in der Gerichtsabteilung W166 einlangte (vgl. OZ 1).
12. Mit Eingabe vom 16.01.2019 reichte die belangte Behörde die Mitteilung über die Ermittlung der Ehefähigkeit und Eheschließung vom 15.01.2019 nach (vgl. OZ 5).
13. Mit Eingabe vom 28.02.2019 reichte die belangte Behörde die Heiratsurkunde, die Geburtsurkunde und den Staatsbürgerschaftsnachweis des neugeborenen Kindes, XXXX , geboren am XXXX , des Beschwerdeführers nach (vgl. OZ 6 und 7).
14. Mit Eingabe vom 07.03.2019 reichte die belangte Behörde die Mitteilung des Landes Steiermark über die Abmeldung der Grundversorgung vom 21.02.2019 nach (vgl. OZ 8).
15. Mit Eingabe vom 16.04.2020 reichte die belangte Behörde die Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX , ZI XXXX , über die Anzeige gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts der versuchten Nötigung am 08.02.2020 nach (vgl. OZ 9).
16. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 03.06.2020, rechtskräftig seit 09.06.2020, ZI XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der versuchten Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt, wobei der Vollzug eines Teiles im Ausmaß von sechs Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht zu den Urteilen des Landesgerichts XXXX vom 06.09.2019, ZI XXXX , und des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 12.04.2018, ZI XXXX , wurde abgesehen, jedoch die Probezeit hinsichtlich der letztgenannten Verurteilung auf fünf Jahre verlängert sowie Bewährungshilfe angeordnet. (vgl. OZ 12)
17. Mit Eingabe vom 16.10.2020 reichte die belangte Behörde die Vollzugsinformation des Beschwerdeführers, wonach der Beschwerdeführer am 14.10.2020 in die Justizanstalt in XXXX eingeliefert wurde. (vgl. OZ 13)
18. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.06.2021 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W166 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W265 zugewiesen, wo dieses am 07.07.2021 einlangte (vgl. OZ 14).
19. Mit Eingabe vom 02.08.2021 legte der Verein NEUSTART XXXX eine Stellungnahme des Bewährungshelfers XXXX des Beschwerdeführers vor. Darin gab dieser im Wesentlichen an, dass der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in XXXX wohne. Mit viel Liebe und Fleiß habe der Beschwerdeführer Garten und Wohnung gestaltet. Seine Familie sei das Wichtigste für ihn. Die begangenen Straftaten seien den kulturellen Unterschieden zwischen Österreich und Afghanistan geschuldet. Die erste Straftat (gefährliche Drohung) beruhe darauf, dass die Betreuer in den Flüchtlingsunterkünften den Beschwerdeführer sehr respektlos behandelt hätten. Bei seiner letzten Straftat (Nötigung) habe ein Junge versucht eine Türe zu beschädigen und der Beschwerdeführer habe diesen davon abhalten wollen. Der Bewährungshelfer habe sich von dem Bemühen, dass er keine Straftaten mehr begehe, in den letzten Monaten überzeugen können. Der Beschwerdeführer führe den Haushalt und kümmere sich auch in großen Bereichen um seine Kinder. Die Traumata in Afghanistan würden ihn sehr belasten. Seine verschollenen Eltern seien bei den Gesprächen ein Thema. Vor Jahren hätte er einen Suizidversuch begangen. Aus seiner Sicht würden sowohl sein überaus großes Bemühen sowie seine soziale Integration und ein solides Umfeld bestätigt werden können. Seine Schwiegereltern würden im gleichen Haus leben und die Familie unterstützen. (vgl. OZ 18)
20. Mit Eingabe vom 04.08.2021 legte der Beschwerdeführer die Vollmacht seiner neuen Vertretung, die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, und weitere Unterlagen vor (vgl. OZ 19).
21. Am 05.08.2021 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung weitere Unterlagen vor (vgl. OZ 21).
22. Mit Eingabe vom 09.08.2021 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung weitere Integrationsunterlagen vor und gab eine Stellungnahme ab. Er führte dazu im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer zum Nachweis der Drohungen die Drohbriefe bereits vorgelegt habe. Er zähle zu den Personen, die ins Visier der Taliban geraten würden, da auch Familien von Kollaborateuren ins Visier genommen werden würden. Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder der internationalen Gemeinschaft verbunden seien, würden nach den UNHCR Richtlinien einem Risikoprofil unterliegen. Aufgrund des großen Wirkungsradius bestünde keine innerstaatliche Fluchtalternative. Des Weiteren seien die im Bescheid dargelegten innerstaatlichen Fluchtalternativen Kabul, Mazar-e Sharif und Herat nicht mehr zumutbar, da eine Sicherheit auf Dauer nicht mehr gewährleistet werden könne. (vgl. OZ 22).
23. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 12.08.2021 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen, der Situation im Falle seiner Rückkehr und zu seiner Integration in Österreich befragt und eine Zeugin einvernommen wurde. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben. Im Zuge der Verhandlung legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Berichte zur Lage in Afghanistan vor. (vgl. OZ 24)
24. Mit Eingabe vom 01.09.2021 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Urkunden vor und brachte eine Stellungnahme zu den aktualisierten Kurzinformationen der Staatendokumentation vom 17.08.2021 und vom 20.08.2021 vor. Er führte dazu im Wesentlichen aus, dass die Taliban bereits jetzt Vergeltungsmaßnahmen gegen Personen, die von ihnen als Feinde betrachtet werden, verüben würden und dies auch zukünftig zu erwarten sei. Zu der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Drohbriefen durch die Taliban vom 28.07.2016 führte er ergänzend aus, dass es problematisch sei, dass als Quelle ein Sprecher der Taliban selbst angeführt sei, somit ein Akteur, von dem die Verfolgung ausgehe. Durch derartige Statements würden die Taliban bestimmte politische Ziele verfolgen. Genau so wenig könne aktuell angenommen werden, dass die Taliban keine Menschenrechtsverletzungen begehen würden. Die Heranziehung dieser Quelle widerspreche den Gemeinsamen EU-Leitlinien für die Bearbeitung von Informationen über Herkunftsländer. Die angeführten Berichte würden sich Großteils auf dieselbe Primärquelle beziehen, nämlich einen Dokumentenfälscher namens „Mukhamil“. Bei dieser Person handle es sich offenkundig um keine absolut zuverlässige Quelle. Außerdem spreche die Tatsache, dass eine große Zahl gefälschter Dokumente aus Afghanistan im Umlauf sei, nicht zwingend dafür, dass die Taliban selbst keine Drohbriefe mehr einsetzen würden. Der Artikel von der Associated Press vom 22.11.2015 sei zudem nicht mehr abrufbar. In der in der Beschwerde zitierten Anfragebeantwortung der SFH vom 04.03.2016 hingegen, würden verschiedene international anerkannte Quellen sowie verschiedene Afghanistan Experten zitiert werden. Dieser Bericht komme zum Schluss, dass Drohbriefe der Taliban weit verbreitet seien. Des Weiteren gehe aus dem Schriftstück der Sicherheitsbehörde des Bezirks XXXX hervor, dass der Vater des Beschwerdeführers die Anzeige gegen die Verfolger bereits zu einem Zeitpunkt vor der Flucht des Beschwerdeführers aus Afghanistan erstattet habe. (vgl. OZ 23)
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX . Er wurde am XXXX im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Nangahar geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und wuchs als sunnitischer Muslim auf. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch Deutsch.
Der Beschwerdeführer ist mit der österreichischen Staatsbürgerin XXXX , geboren am XXXX , seit dem 15.01.2019 verheiratet und hat mit ihr gemeinsam zwei Kinder, einen Sohn, XXXX (geb. XXXX ) und eine Tochter, XXXX (geb. XXXX ).
Sein Vater heißt XXXX und ist ca. 55 Jahre alt. Seine Mutter heißt XXXX und ist ca. 50 Jahre alt. Sein Vater hatte ein Lebensmittelgeschäft. Er hat zwei Brüder, XXXX , Spitzname XXXX (ca. 33 Jahre alt), XXXX (geboren am XXXX ) und vier Schwestern, XXXX (ca. 36 Jahre alt), XXXX (ca. 34 Jahre alt), XXXX (ca. 32 Jahre alt) und XXXX (ca. 31 Jahre alt). Der Aufenthalt seiner Eltern ist unbekannt. Seine Schwestern sind verheiratet und leben mit ihren Ehemännern in XXXX in der Provinz Nangahar. Sein Bruder XXXX lebt in Amerika mit seiner Familie und sein Bruder XXXX lebt in Österreich. Ein Onkel väterlicherseits lebt in XXXX . Er hat Kontakt zu seinen Schwestern und zu seinem Onkel. Zwei Onkel mütterlicherseits leben in Wien.
Er lebte bis zu seiner Ausreise nach Europa bei seiner Familie in seinem Heimatdorf. Er ging dort neun Jahre in die Schule. Er arbeitete in Afghanistan nicht.
Der Beschwerdeführer stellte am 01.06.2016 als unbegleiteter Minderjähriger einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
1.2.1. Dem Beschwerdeführer droht in seiner Herkunftsregion keine Verfolgung oder Zwangsrekrutierung durch die Taliban. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen ihm individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Taliban.
1.2.2. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch aufgrund seines langen Aufenthaltes in Europa individuell und konkret weder physische noch psychische Gewalt.
Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden ist und aufgrund dessen ihm Verfolgung drohen würde. Er wurde in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder aufgrund seiner Rasse, Nationalität, seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonstige Probleme. Er war nie politisch tätig und gehörte keiner politischen Partei an.
1.3. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Juni 2016 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 01.06.2016 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich mehrere Deutschkurse und legte am 27.06.2018 die Integrationsprüfung des Österreichischen Integrationsfonds auf A2 Niveau und am 09.07.2019 die Deutschprüfung auf B1 Niveau ab.
Von 15.09.2016 bis 07.07.2017 nahm er am Kurs „ XXXX “ beim BFI XXXX teil. Am 10.04.2017 nahm er am Werte- und Orientierungskurs des Österreichischen Integrationsfonds in XXXX teil. Am 21.06.2016 nahm er beim Sommerfest XXXX am Sackhüpfen teil. Er besuchte von 02.10.2017 bis 06.07.2018 im Rahmen der Bildungsmaßnahme „ XXXX “ die Volkshochschule XXXX . Von 15.09.2016 bis 12.06.2017 und von 01.10.2018 bis 12.07.2019 besuchte er das Bildungsangebot „ XXXX “ in XXXX . Der Beschwerdeführer war im Zeitraum von 15.10.2020 bis 30.10.2020 als freiwilliger Mitarbeiter im XXXX in XXXX tätig.
Der Beschwerdeführer war in Österreich bisher nicht erwerbstätig, er lebt von Sozialleistungen. Er lebt mit seiner Ehefrau und seinen beiden Kindern, welche die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, in XXXX in einer Mietwohnung. Er kümmert sich gemeinsam mit seiner Ehefrau um die Kinder und um den Haushalt.
Er hat Kontakt zu österreichischen Freunden und zu seinem Bruder XXXX , der ebenfalls in XXXX wohnt. Er hat ein solides soziales Umfeld. Er steht in Kontakt mit seinem Bewährungshelfer, der ihn seit seiner letzten Verurteilung am 03.06.2020 unterstützt. Seit dieser Unterstützung hat er viel dazu gelernt und ist bemüht zukünftig einen rechtstreuen Weg zu gehen, zu arbeiten und seine Zukunft mit seiner Familie aufzubauen.
Von seinen Vertrauenspersonen wird er als höflich, fleißig, bemüht und sozial integriert beschrieben.
Der Beschwerdeführer ist gesund.
Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 06.09.2017, rechtskräftig seit 11.09.2017, ZI XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen der versuchten Nötigung und der gefährlichen Drohung zu einer Freiheitsstrafe (Jugendstraftat) von zwei Monaten, welche unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt.
Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 12.04.2018, rechtskräftig seit 17.04.2018, ZI XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unbefugten Besitzes einer verbotenen Waffe zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten, welche unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt. Von einem Widerruf der bedingten Strafnachsicht des Urteils des Landesgerichts XXXX , am 06.09.2017, rechtskräftig seit 11.09.2017, ZI XXXX wurde abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert.
Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 03.06.2020, rechtskräftig seit 09.06.2020, ZI XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der versuchten Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt, wobei der Vollzug eines Teiles im Ausmaß von sechs Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen und Bewährungshilfe angeordnet wurde. Vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht der Urteile des Landesgerichts XXXX vom 06.09.2019, ZI XXXX , und des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 12.04.2018, ZI XXXX , wurde abgesehen, jedoch die Probezeit der letzten bedingten Strafnachsicht auf fünf Jahre verlängert und Bewährungshilfe angeordnet.
Von 14.10.2020 bis 14.11.2020 befand sich der Beschwerdeführer in Haft.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig. Er verfügt über eine neunjährige Schuldbildung in Afghanistan. Seine Existenz könnte er – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist in Afghanistan geboren und aufgewachsen, ihm sind die kulturellen und sozialen Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut und er spricht einer der in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu) als Muttersprache. Er hat Verwandte und seine Volksgruppe in Afghanistan, die ihn unterstützen könnten.
Die COVID-19-Pandemie stellt für den Beschwerdeführer kein Hindernis dar. Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und hat keine spezifischen Vorerkrankungen, zählt deshalb nicht zu den spezifischen Risikogruppen betreffend COVID-19. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.
Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich jedoch seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast. Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und der Machtübernahme der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden. Dem Beschwerdeführer ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat, Kabul und Mazar-e Sharif von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit dieser Städte nicht mehr gegeben ist. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Es kann nicht mit der notwendigen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan landesweit dem realen Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt ist. Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten. In Hinblick auf die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist zu prognostizieren, dass es binnen kurzer Zeit im Zuge eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes zu willkürlicher Gewalt in ganz Afghanistan kommen wird.
1.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der aktualisierten Version 4 samt Kurzinformation vom 19.07.2021 (LIB)
- Kurzinformation der Staatendokumentation vom 02.08.2021: Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan
- Sonderkurzinformation zur aktuellen Lage in Afghanistan vom 17.08.2021
- Kurzinformation der Staatendokumentation vom 20.08.2021: Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan
- UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO)
- Homepage der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19 abgerufen am 19.08.2021 und https://covid19.who.int/region/emro/country/af, abgerufen am 19.08.2021 (WHO)
- Landinfo Report Afghanistan vom 29.06.2017: Rekrutierung durch die Taliban
- Arbeitsübersetzung Landinfo Report Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)
- Landinfo Report Afghanistan vom 23.08.2017: Organisation und Struktur der Taliban
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Afghanistan vom 28.07.2016: Taliban Drohbriefe, Bedrohung militärischer Mitarbeiter
1.5.1. Aktuelle Lage in Afghanistan
Stand 20.08.2021
Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).
Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).
Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).
Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).
Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d). Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen auftraten. Dazu kamen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021).
Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzufuhren. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN SR Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).
Die Anführer der Taliban
Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban- Führer auch nach außen auf. Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia- Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird. Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass er die Taliban- Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jahrige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht. Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban- Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an. Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).
Stärke der Taliban-Kampftruppen
Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).
Stand 17.08.2021
Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021).
Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).
Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a).
Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).
Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b).
Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021).
Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021).
Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a).
IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021).
Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).
Sicherheitslage
Derzeit ist es zu früh, definitive Schlüsse zu ziehen. Es wird davon abhängen, wie sich das Verhältnis zwischen der afghanischen Armee und Polizei zu den Taliban entwickelt (Armee und Polizei haben sich praktisch kampflos ergeben). Ein Zugriff der Taliban auf die Ausrüstung des Sicherheitsapparats würde die Position der Taliban stärken, was aber nicht ausschließt, dass sich aus Kreisen des Sicherheitsapparats oder anderer Akteure im Land Widerstand formiert, der zu Kampfhandlungen führen könnte.
Wirtschaft/Versorgung
Es ist ein wirtschaftlicher Einbruch möglich, der auch die Versorgungslage treffen kann – einerseits durch die Machtergreifung der Taliban, der potentiellen Flucht gebildeterer und wohlhabenderer Bevölkerungsgruppen sowie aufgrund des Fehlens der Wirtschaftskraft der internationalen Truppen (z.B. via lokaler Angestellter) sowie aufgrund der Frage, ob NGOs und internationale Organisationen weiter agieren dürfen. Hinzukommt auch die Frage, wie weit sich die Machtergreifung der Taliban auf die Berufstätigkeit von Frauen auswirken wird.
Menschenrechtslage
Gruppen wie die Taliban (oder auch der IS) greifen nach einer Machtergreifung nicht unbedingt sofort auf ein volles Instrumentarium an Repressionen zurück, sondern tun dies oft eher sukzessive. Ob die Taliban ihr Verhalten als Macht im Staate dieses Mal eventuell teilweise anders gestalten werden, wird sich zeigen. Informationen zur aktuellen Menschenrechtslage würden daher derzeit nur eine Momentaufnahme darstellen, ohne eine belastbare Entscheidungsgrundlage vor dem Hintergrund des Umsturzes darzustellen. Aussagekräftige, zeitlich länger gültige Informationen zu Kernbereichen werden erst später zur Verfügung stehen.
1.5.2. Entwicklung der Sicherheitslage mit Stand 02.08.2021 (LIB)
In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. Berichten zufolge liegt die Gebietskontrolle der Regierung auf dem niedrigsten Stand seit 2001 (UNHCR 20.7.2021).
Nach Angaben des Long War Journals (LWJ) kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte Afghanistan. Die Regierungstruppen kämpfen aktuell (Ende Juli / Anfang August 2021) gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gah und Kandahar, dessen Flughafen von den Taliban bombardiert wurde . Seit 1.8.2021 gibt es keine Flüge mehr zu und von dem Flughafen (AJ 1.8.2021).
Von den 17 Distrikten Herats sind nur Guzara und die Stadt Herat unter Kontrolle der Regierung. Die übrigen Bezirke werden von den Taliban gehalten, die versuchen, in das Zentrum der Stadt vorzudringen (TN 31.7.2021; vgl. ANI 2.8.2021). Die afghanische Regierung entsendet mehr Truppen nach Herat, da die Kämpfe mit den Taliban zunehmen (ANI 2.8.2021; vgl. AJ 1.8.2021).
Zivile Opfer und Fluchtbewegungen
Zwischen 1.1.2021 und 30.6.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Juni 2021 gab es nach Angaben von UNAMA fast soviele zivile Opfer wie in den vier Monate davor (UNAMA 26.7.2021). Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) halten die Taliban hunderte Einwohner der Provinz Kandarhar fest, denen sie vorwerfen mit der Regierung in Verbindung zu stehen. Berichten zufolge haben die Taliban einige Gefangene getötet, darunter Angehörige von Beamten der Provinzregierung sowie Mitglieder der Polizei und der Armee (HRW 23.7.2021). UNOCHA zufolge wurden zwischen 1.1.2021 und 18.7.2021 294.703 Menschen in Afghanistan durch den Konflikt vertrieben (UNOCHA 22.7.2021). Noch kann keine Massenflucht afghanischer Staatsbürger in den Iran festgestellt werden, jedoch hat die Zahl der Neuankömmlinge zugenommen. Der Notstandsplan wurde bislang noch nicht aktiviert. Sollte er aktiviert werden, rechnet die iranische Regierung mit einem Zustrom vom 500.000 Menschen innerhalb von sechs Monaten, wobei davon ausgegangen wird, dass ihr Aufenthalt nur vorübergehend sein wird. UNHCR rechnet mit 150.000 Menschen innerhalb von drei Monaten (UNHCR 20.7.2021).
Weitere Entwicklungen
Die Taliban haben im Juli 2021 erklärt, dass sie der afghanischen Regierung im August ihren Friedensplan vorlegen wollen und dass die Friedensgespräche beschleunigt werden sollen (UNHCR 20.7.2021).
Die afghanische Regierung hat am 25.7.2021 eine einmonatige Ausgangssperre über fast das gesamte Land verhängt, um ein Eindringen der Taliban in die Städte zu verhindern. Ausnahmen sind die Provinzen Kabul, Panjshir und Nangarhar. Die Ausgangssperre verbietet alle Bewegungen zwischen 22:00 und 04:00 (BBC 25.7.2021; vgl. TG 24.7.2021).
In den von den Taliban eroberten Gebieten im Norden dürften Frauen laut Meldung vom 14.7.2021 nur vollverschleiert und mit männlicher Begleitung auf die Straße gehen (BAMF 20.7.2021; vgl. VOA 9.7.2021). Aufgrund von COVID-19 waren alle Schulen und Universitäten bis zum 23.7.2021 geschlossen (BAMF 19.7.2021; AAN 25.7.2021). Nach Angaben der für das Gesundheitsund Bildungswesen zuständigen Beamten soll die Wiedereröffnung in den Provinzen schrittweise erfolgen, je nach Ausbreitung von COVID-19 (AAN 25.7.2021).
Mit 2.8.2021 werden die Flughäfen von Kabul und Mazar-e Sharif weiterhin national und international angeflogen. Der Flughafen von Herat ist national erreichbar (F 24 2.8.2021).
1.5.3. Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft mit Stand 19.07.2021 (LIB)
Seit dem Beginn des Abzugs der US-Truppen und anderer Koalitionskräfte am 1.5.2021 kam es zu mehr Kampfhandlungen als in den Monaten zuvor. Nach Einschätzung des Long War Journal vom 13.7.2021 kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte in Afghanistan. Am 3.6.2021 waren es noch 90 Distrikte. Das Afghan Analysts Network schätzt, dass sich mit Stand 16.7.2021 229 Distriktzentren in den Händen der Taliban befinden. Nur in vier Provinzen sind die Distriktzentren noch vollständig in Regierungshand: Kabul, Panjshir, Kunar und Daikundi. Einige Gebiete konnten von der Regierung zurückerobert werden.
Wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh, wurden im Juli durch die Taliban erobert. Berichten zufolge haben die Taliban außerdem die Kontrolle über den afghanisch-pakistanischen Grenzort Spin Boldak.
Anfang Juli flohen mehr als 1.000 afghanische Sicherheitskräfte über die Grenze nach Tadschikistan, als sie von den Taliban attackiert wurden. Turkmenistan hat Anfang Juli begonnen, schwere Waffen, Hubschrauber und andere Flugzeuge näher an die Grenze zu Afghanistan zu verlegen, und in der Hauptstadt werden Reservisten in Alarmbereitschaft versetzt.
Truppenabzug
Nach Angaben von US-Präsident Biden wird der Truppenabzug am 31.8.2021 abgeschlossen sein. Er verpflichtete sich, Tausende von afghanischen Übersetzern und ihre Familien, die an der Seite der USA arbeiteten, schnell zu evakuieren, und sagte, dass der Zeitplan für die Bearbeitung spezieller Einwanderungsvisa "dramatisch beschleunigt" worden sei. Und er sagte, die USA würden weiterhin zivile und humanitäre Hilfe leisten und sich auch für die Rechte von Frauen und Mädchen einsetzen.
Anfang Juli wurde die Bagram-Airbase in der Provinz Parwan an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben.
Angriff auf Zivilisten / gezielte Tötungen
Es kommt weiterhin zu Angriffen auf und gezielten Tötungen von Zivilisten. Seit dem Beginn der Friedensgespräche in Doha im vergangenen Jahr sind vor allem Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von gezielten Tötungen gewesen.
Laut Berichten war der Juni 2021 der tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan.
1.5.4. Allgemeine Wirtschaftslage mit Stand 11.06.2021 (LIB)
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze.
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft.
Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Der Arbeitsmarkt ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert. 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen, wobei schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten Tagelöhner sind. Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen ebenso wie die Anzahl der prekär beschäftigten, auch wenn es keine offiziellen Regierungsstatistiken über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt gibt.
Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (LIB, Kapitel 23.3).
Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Während Frauen am afghanischen Arbeitsmarkt eine nur untergeordnete Rolle spielen, stellen sie jedoch im Agrarsektor 33% und im Textilbereich 65% der Arbeitskräfte.
Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an.
Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag. Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner.
Die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul liegt durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard muss zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden. Auch in Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Dies gilt auch für Rückkehrer. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankt unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich. Einer anderen Quelle zufolge liegen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließenden Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat. Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden. Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel. Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen.
Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht.
Allgemein lässt sich sagen, dass die COVID-19-Pandemie keine besonderen Auswirkungen auf die Miet- und Kaufpreise in Kabul hatte. Die Mieten sind nicht gestiegen und aufgrund der momentanen wirtschaftlichen Unsicherheit sind die Kaufpreise von Häusern eher gesunken.
Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosten in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch können die Kosten allerdings höher liegen. Die Kosten in der Innenstadt Kabuls sind höher. In ländlichen Gebieten kann man mit mind. 50 % weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen.
Der afghanische Staat gewährt seinen Bürgern kostenfreie Bildung und Gesundheitsleistungen, darüber hinaus sind keine Sozialleistungen vorgesehen. Es gibt kein Sozialversicherungs- oder Pensionssystem, von einigen Ausnahmen abgesehen (z.B. Armee und Polizei). Es gibt kein öffentliches Krankenversicherungssystem. Ein eingeschränktes Angebot an privaten Krankenversicherungen existiert, jedoch sind die Gebühren für die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zu hoch.
Ein Pensionssystem ist nur im öffentlichen Sektor etabliert. Berichten zufolge arbeitet die afghanische Regierung an der Schaffung eines Pensionssystems im Privatsektor. Private Unternehmen können für ihre Angestellten Pensionskonten einführen, müssen das aber nicht. Die weitgehende Informalität der afghanischen Wirtschaft bedeutet, dass die Mehrheit der Arbeitskräfte nicht in den Genuss von Pensionen oder Sozialbeihilfen kommt.
Nach einer Zeit mit begrenzten Bankdienstleistungen entstehen im Finanzsektor in Afghanistan schnell mehr und mehr kommerzielle Banken und Leistungen. Die kommerziellen Angebote der Zentralbank gehen mit steigender Kapazität des Finanzsektors zurück. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Die Bank wird dabei nach Folgendem fragen: Ausweisdokument (Tazkira), zwei Passfotos und 1.000 bis 5.000 AFN als Mindestkapital für das Bankkonto. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist w