Entscheidungsdatum
21.09.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W241 2188780-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HAFNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Volksrepublik China, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des BFA vom 19.02.2018, Zl. 1118576309-160826111, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird gemäß den §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 55, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG, und §§ 52, 55 FPG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein Staatsangehöriger der Volksrepublik China, reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 13.06.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Der BF brachte in seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 13.06.2016 zu seinen Fluchtgründen befragt vor, dass er in China in einer Stahlfabrik gearbeitet habe. Sein Vorsitzender sei korrupt gewesen, weshalb er mit dessen Vorgesetzten darüber geredet habe. Daraufhin habe ihm sein Vorsitzender ständig Probleme gemacht, indem er ihm die Polizei und Mafiosi nach Hause geschickt habe. Aus diesem Grund habe er China verlassen.
3. In einer Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) am 08.02.2018 brachte der BF vor, dass er an hohem Blutdruck und erhöhtem Blutzucker, weiters an Schmerzen im Ellbogen und im Knie leide. Seine Tochter lebe in Spanien, von seiner Ehefrau habe er sich im September 2016 scheiden lassen. Er habe China im Jahr 2009 verlassen und bis 2011 in Kroatien gelebt. Dort habe er in einem Gasthaus und einem Geschäft gearbeitet. Dann habe er sich ein paar Monate in Italien aufgehalten, dort aber keine Arbeit gefunden. Wie lange er schon in Österreich sei, wisse er nicht. Er habe hier schwarz in mehreren Lokalen gearbeitet.
In China habe er die Hauptschule abgeschlossen und in verschiedenen Firmen gearbeitet, etwa in einer Stahlfabrik und einer Druckerei. Er besitze in China eine Wohnung, die nun leer stehe. Die Hälfte gehöre seiner geschiedenen Frau, sie hätten dies noch nicht richtig geklärt. In China lebten derzeit seine geschiedene Frau, seine Mutter, ein Bruder und eine Schwester.
Zu seinen Fluchtgründen gab der BF an, dass er Ende der 80er Jahre in einer staatlichen Fabrik gearbeitet habe. Dort habe er gesehen, dass ein Vorgesetzter Eigentum der Fabrik gestohlen und privat weiterverkauft habe. Er habe ihm das vorgeworfen, danach habe ihn dieser beschuldigt, Geld aus der Fabrik gestohlen zu haben. Er sei deshalb zwei Tage inhaftiert gewesen. Aufgrund von Beweismangel sei er wieder freigelassen worden. Danach sei er vom Vorgesetzten gemobbt worden. 2003 sei die Firma in Konkurs gegangen, 2004 sei sie von einer Privatperson übernommen worden. Bis 2009 habe er dann keinen fixen Job gehabt. 2007 habe er seine Tochter nach Spanien geschickt. Da er keinen Job mehr gehabt habe, sei er auch nach Europa gekommen. Er habe China auch wegen der Menschenrechte verlassen, die Bevölkerung habe kein wirkliches Wahlrecht. Im Fall einer Rückkehr habe er keine Krankenversicherung und würde auch keine Arbeit mehr bekommen. Zudem sei er vorbestraft.
Der BF legte diverse Deutschkursbestätigungen und ärztliche Befunde vor.
Der BF gab an, konfessionslos, aber schon seit einem Jahr Mitglied bei den Zeugen Jehovas zu sein. Er treffe sich drei Mal pro Woche mit den Mitgliedern.
4. Mit dem nunmehr angefochtenen, oben angeführten Bescheid des BFA wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen und ihm der Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg.cit. der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Dem BF wurde gemäß §§ 57 und 55 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach China zulässig sei (Spruchpunkte V.). Weiters wurde innerhalb des Spruches ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF keine asylrelevanten Fluchtgründe vorgebracht habe. Es könne nicht festgestellt werden, dass er im Fall der Rückkehr einer realen Gefahr des Todes, der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder der Gefahr der Folter ausgesetzt wäre.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen und es komme daher auch die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG nicht in Betracht. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen (bzw. subsidiären) Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
5. Gegen diesen Bescheid erhob der BF mit Schriftsatz vom 08.03.2018 Beschwerde. Begründend wurde vorgebracht, dass der BF aufgrund der Zugehörigkeit der sozialen Gruppe der von Arbeitsausbeutung betroffenen Personen sowie der von den Behörden verfolgten Personen verfolgt werde. Weiters hätte die Behörde ermitteln müssen, ob eine medizinische Behandlung für den BF in China zugänglich sei.
6. Mit Schreiben vom 09.08.2021 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) dem BF aktuelle Länderberichte zur Volksrepublik China und gab ihm Gelegenheit, hierzu sowie zu seinen persönlichen Verhältnissen Stellung zu nehmen.
7. Eine Stellungnahme langte am 26.08.2021 beim BVwG ein. Dieser lagen folgende Unterlagen bei:
- medizinische Befunde aus 2017 und 2018
- Deutschkursbestätigungen
- Bestätigung über ehrenamtliche Tätigkeiten
- Bestätigung über den Bezug von Grundversorgung
- zwei Empfehlungsschreiben
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der BF ist nach eigenen Angaben Staatsangehöriger der Volksrepublik China, Angehöriger der Volksgruppe der Han-Chinesen und war im Herkunftsstaat in der Provinz XXXX wohnhaft. Seine Identität steht mit für das Verfahren ausreichender Sicherheit fest.
In der Volksrepublik China leben weiterhin die Mutter, ein Bruder und eine Schwester des BF. Der BF ist von seiner Ehefrau geschieden, eine erwachsene Tochter lebt in Spanien.
1.2. Der BF leidet an Bluthochdruck und erhöhtem Blutzucker, nimmt jedoch keine Medikamente ein. Er ist arbeitsfähig.
1.3. Der BF hat die VR China nicht aufgrund einer glaubwürdigen, ihn unmittelbar persönlich treffenden asylrelevanten Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verlassen.
Der BF wurde in der VR China nicht asylrelevant bedroht oder auf andere Weise einer relevanten psychischen oder physischen Gewalt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt.
Die seitens des BF zu Protokoll gegebenen Gründe für das Verlassen der VR China weisen keine Asylrelevanz auf bzw. hat der BF das Vorliegen einer asylrelevanten Bedrohung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer allfälligen Rückkehr nach China insgesamt nicht glaubhaft machen können.
1.4. Bei einer Rückkehr des BF in die VR China besteht für diesen als arbeitsfähigen Mann im berufsfähigen Alter, mit angegeben mehreren familiären Bezugspunkten im Herkunftsstaat ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf, auch unter besonderer Berücksichtigung der gegenwärtigen Lage aufgrund der Corona Pandemie, keine berücksichtigungswürdige Bedrohungssituation, bzw. läuft dieser dort auch nicht in Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Artikel 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).
1.5. Der BF hat in Österreich keine Verwandten oder sonstige Bindungen. Er hält sich seit Juni 2016 im Bundesgebiet auf. Der BF verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A1 und ist bei der Caritas ehrenamtlich tätig. Er ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der BF Mitglied der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas ist. Er hat im Bundesgebiet soziale Kontakte geknüpft. Er war in Österreich bisher nicht erwerbstätig, ist nicht selbsterhaltungsfähig und bezieht Grundversorgung.
1.6. Zur Situation im Herkunftsland wird festgestellt:
COVID-19
Letzte Änderung: 16.12.2020
Nach bekanntwerden von COVID-19 Fällen im Dezember 2019, wurde von den Behörden trotz eines umfassenden, landesweit ausgebauten Meldesystems für Epidemien die bestehenden Vorfälle verharmlost und vertuscht (TNYT 1.2.2020). Die chinesischen Behörden haben medizinische Fachkräfte, die über das "geheimnisvolle Lungenleiden" informierten, vorgeworfen, Falschinformationen zu verbreiten (DP 4.4.2020).
Wuhan wurde als Ausgangspunkt der Pandemie rund eineinhalb Monate nach der Registrierung des ersten Patienten unter Quarantäne gestellt (DW 12.2.2020), nachdem von staatlicher Seite mehr als 55.000 Infektionsfälle gemeldet wurden (TG 23.4.2020). Später folgten weitere Regionen, in denen – je nach Anzahl der Infektionen – unterschiedlich strenge Maßnahmen durch die Regierung angeordnet wurden. Von den ergangenen drastischen Regelungen waren rund 60 Millionen Menschen betroffen (Addendum 20.3.2020; vgl. ZO 14.4.2020, SF 9.4.2020).
Die Industrieproduktion ging im Januar und Februar um 13,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zurück (ZO 14.4.2020), was den stärksten Einbruch seit 30 Jahren bedeutet (LVAk 5.2020; vgl. ZO 14.4.2020). Mittlerweile meldet China kaum noch neue COVID-19 Fälle (DW 8.5.2020; vgl. FORBES 17.4.2020), doch treten vermehrt "importierte Fälle" auf (FORBES 17.4.2020; vgl. DS 27.3.2020). Verschwiegen wird jedoch in den Staatsmedien stets, dass es sich bei den eingereisten Infizierten bis zu 90 Prozent um Staatsbürger der Volksrepublik China handelt. Ausländer, darunter auch Diplomaten, durften damals nur in Ausnahmefällen ins Land (LVAk 5.2020).
Seit 28.3.2020 besteht ein Einreiseverbot für ausländische Staatsbürger (WKO 10.12.2020). Das chinesische Gesundheitssystem hielt nicht mit der wirtschaftlichen Entwicklung mit. Gemäß aktuellen Vergleichszahlen der OECD sind für 1.000 Einwohner 2,7 Krankenschwestern und -pfleger sowie zwei Ärzte verfügbar. Zwar räumt die Regierung Schwachstellen im zentralisierten Gesundheitswesen ein (HB 19.2.2020), jedoch haben Kritik am Vorgehen der Regierung, wie auch eine kritische Berichterstattung mitunter Verhaftungen wegen der "Verbreitung falscher Gerüchte" zur Folge (RSF 14.4.2020). Der chinesische Präsident Xi Jinping hat sich währenddessen verpflichtet, ein leistungsfähiges öffentliches Gesundheitssystem aufzubauen, das für Chinas Entwicklungsstrategie und nationale Sicherheit von entscheidender Bedeutung ist (SCMP 5.6.2020).
Im März und April 2020 nahmen Fabriken und unterschiedliche Unternehmen, ihre Arbeit wieder auf (LVAk 5.2020). In der Jahresmitte 2020 stellte sich die COVID-19-Gesamtsituation sich landesweit stabil dar, sporadische Fälle traten auf (XN 4.6.2020; vgl. FR 26.5.2020) und es wird von vereinzelten (XN 4.6.2020; vgl. DW 30.5.2020, FR 26.5.2020), vorrangig aus dem Ausland importierten Fällen von Neuinfektionen berichtet (CGTN 8.6.2020; vgl. FR24 1.6.2020, AnA 26.5.2020, TG 23.5.2020). Das seit 28.3.2020 gültige Einreiseverbot für ausländische Staatsbürger nach Festlandchina, auch für solche mit gültiger Aufenthaltsberechtigung ist weiterhin aufrecht (BMEIA 24.11.2020; vgl. MoFA CH 26.3.2020).
Im Ursprungsland des Coronavirus bleiben die Neuinfektionen seit Monaten derart niedrig, dass an den offiziellen Zahlen Zweifel bestehen. Konstant vermelden die chinesischen Behörden zwar neue Infektionen, aber die sind nahezu täglich im niedrigen zweistelligen Bereich. Tauchen doch kleinere Cluster auf, müssen sich alle Bewohner einem Test unterziehen. Zudem werden für einzelne Stadtviertel oder gesamte Städte strikte Ausgangssperren verhängt. Verwunderlich aber ist es dennoch, dass die Zahl der Neuinfektionen so gut wie nie 30 überschreitet (DS 12.10.2020).
(…)
Politische Lage
Letzte Änderung: 17.12.2020
Die Volksrepublik (VR) China ist mit geschätzten 1,395 Milliarden Einwohnern (Stand Juli 2020) und einer Fläche von 9.596.960 km² der bevölkerungsreichste Staat der Welt (CIA 24.11.2020).
China ist in 33 Verwaltungseinheiten, 22 Provinzen, die fünf autonomen Regionen der nationalen Minderheiten Tibet, Xinjiang, Innere Mongolei, Ningxia und Guangxi sowie vier regierungsunmittelbare Städte (Peking, Shanghai, Tianjin, Chongqing) und zwei Sonderverwaltungsregionen (Hongkong, Macau) gegliedert. Es gibt sieben Militärzonen, die jeweils verschiedene Provinzen bzw. Teile umfassen (ÖB 10.2020; vgl. AA 6.11.2020).
Gemäß ihrer Verfassung ist die Volksrepublik China ein "sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauer" beruht (BMBF 2020; vgl. Heilmann 2016). China ist ein autoritärer Staat, in dem die Kommunistische Partei (KP) verfassungsmäßig die höchste Autorität ist. Beinahe alle hohen Positionen in der Regierung sowie im Sicherheitsapparat werden von Mitgliedern der KP gehalten (USDOS 11.3.2020). Zentral für das politische System Chinas ist der Führungsanspruch der Kommunistischen Partei Chinas, der auch in der Verfassung verankert ist. Andere politische Organisationen, Medien, Zivilgesellschaft und religiöse Aktivitäten haben sich den Zielen der Partei unterzuordnen und werden streng reguliert. Ministerpräsident Li Keqiang leitet den Staatsrat, die eigentliche Regierung. Er wird von einem „inneren Kabinett“ aus vier Stellvertretenden Ministerpräsidenten und fünf Staatsräten unterstützt. Der Staatsrat fungiert als Exekutive und höchstes Organ der staatlichen Verwaltung (BMBF 2020; vgl. Heilmann 2016).
Der 3.000 Mitglieder zählende Nationale Volkskongress (NVK) wird für fünf Jahre gewählt (FH 4.3.2020; vgl. BMBF 2020). Er wählt formell den Staatspräsidenten für fünf Jahre und bestätigt den Premierminister, der vom Präsidenten nominiert wird (FH 4.3.2020; vgl. BMBF 2020) und ist formal das gesetzgebende Organ der VR China. Er tagt als Plenum einmal jährlich und beschließt mit einer Legislaturperiode von fünf Jahren nationale Gesetze (LVAk 9.2019).
Eine parlamentarische Opposition zur KP Chinas gibt es nicht (AA 1.12.2020). Seit dem Massaker vom Tiananmen-Platz im Jahr 1989, als die Volksbefreiungsarmee (PLA) gewaltsam gegen eine von Studenten geführte pro-demokratische Bewegung vorgegangen ist, hat es keine Versuche gegeben, den politischen Wettbewerb zu erhöhen. Nach dem "Vorfall", der nach wie vor in China ein Tabuthema ist, wurden die politischen Reformer von der KP-Führung gesäubert (BS 29.4.2020). Zwar sind acht sogenannte demokratische Parteien offiziell anerkannt, jedoch sind alle der KP Chinas unterstellt (BS 29.4.2020). Chinas Einparteiensystem unterdrückt die Entwicklung einer organisierten politischen Opposition rigoros. Selbst innerhalb der KPCh hat Xi Jinping seit 2012 seine eigene Macht und Autorität stetig ausgebaut, sowie eine selektive Antikorruptionskampagne geführt, um potenzielle Rivalen auszuschalten (FH 4.3.2020).
Der vom Präsidenten Xi Jinping konzipierte "Chinesische Traum" soll China den Status einer Weltmacht wiedererlangen helfen. Die chinesische Regierung verfolgt gesellschaftliche Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung als zwei zentrale Anliegen in ihrer Agenda. Demgegenüber stellt eine Transformation zur Demokratie auf der Grundlage der Herrschaft des Rechts keines der langfristigen strategischen Ziele der Regierung dar. Vielmehr verfolgt die Regierung als bewusste Strategie, einer Bedrohung durch pro-demokratische Tendenzen und Herausforderungen für die politische Hegemonie der Partei entgegenzuwirken (BS 29.4.2020).
Zu Beginn der Tagung des Volkskongresses im Mai 2020 kündigte die Regierung an, dass trotz der wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie sowie des Handelskonflikts mit den Vereinigten Staaten der Verteidigungshaushalt im laufenden Jahr abermals deutlich erhöht werden soll. Diese Ankündigung erfolgte vor dem Hintergrund der in den vergangenen Jahren gewachsenen Spannungen zwischen China und mehreren Nachbarstaaten sowie den USA wegen der von Peking erhobenen Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer (FAZ 21.5.2020; vgl. WKO 1.12.2020).
Ungeachtet internationaler Proteste hat Chinas Nationaler Volkskongress die Einführung eines Sicherheitsgesetzes für Hongkong gebilligt, mit dem nach Ansicht von Kritikern die Bürgerrechte in der Sonderverwaltungszone massiv beschnitten werden. Zum Abschluss der Jahrestagung beauftragten die Abgeordneten den Ständigen Ausschuss des Parlaments, das Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit in Chinas Sonderverwaltungsregion zu erlassen (ZO 28.5.2020). Peking reagiert mit dem Sicherheitsgesetz auf die monatelangen, mitunter gewalttätigen Proteste der Hongkonger Demokratiebewegung im vergangenen Jahr. Das Gesetz soll "Abspaltung", "Subverson", "Terrorismus" und die "Gefährdung der nationalen Sicherheit" unter Strafe stellen und den offenen Einsatz festlandchinesischer Sicherheitsbehörden in Hongkong ermöglichen. Die Pekinger Pläne haben neue Proteste in Hongkong ausgelöst, bei denen es zu gewalttätigen Konfrontationen mit der Polizei kommt (ARTE 28.5.2020).
(…)
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 17.12.2020
Wegen der Ausbreitung von COVID-19 kommt es in China zu verschärften Einreisekontrollen, Gesundheitsüberprüfungen und seit 28.03.2020 zu einer Einreisesperre für Ausländer (BMEIA 24.11.2020). Die Fallzahlen haben sich in China auf einem niedrigen Niveau stabilisiert (AA 7.12.2020).
Aufgrund einer massiven Präsenz von Sicherheitskräften in besonders gefährdeten Regionen ist eine Wahrscheinlichkeit von Terroranschlägen in China generell niedrig (GW 19.6.2020). Berichten zufolge wurden in den letzten zehn Jahren 170 Millionen Überwachungskameras in Städten und Gemeinden im ganzen Land installiert (DFAT 3.10.2020). Dennoch kann es vereinzelt zu Demonstrationen und Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften kommen. Auch sind in den letzten Jahren in China Anschläge verübt worden (EDA 23.7.2020). Konflikte und mutmaßliche Diskriminierung und Ungleichbehandlung durch die Han-Mehrheitsbevölkerung und die anhaltende harte Linie der lokalen Regierung, können die laufende Problematik der muslimischen Gemeinschaft über die uigurischen Minderheiten hinaus noch verschärfen (GW 17.6.2020).
Zwar gibt es in China noch keine unversöhnlichen ethnischen, sozialen oder religiösen Spaltungen, soziale Unruhen sind allerdings an der Tagesordnung. Auch wenn die meisten Demonstrationen als Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik personell meist gering ausfallen, betreffen sie dennoch existentielle Fragen wie Lohnrückstände, dem Abriss von Häusern und der Umsiedlung oder Enteignung (BS 29.4.2020). Landerwerb ohne volle Einbeziehung der örtlich Betroffenen stößt zunehmend auf Proteste, insbesondere in Guangdong, Fujian, Zhejiang, Jiangsu, Shandong und Sichuan. Proteste wegen der Modalitäten von Zwangsumsiedlungen wie auch Entschädigungsleistungen sind an der Tagesordnung und die Behörden verfolgen einige der Anführer solcher Proteste strafrechtlich. Die Wahrscheinlichkeit von Protesten, vor allem in Form von Demonstrationen und Blockaden, wird in Bezug auf den Bau größerer Infrastrukturprojekte, dem Bergbau, etc. auch weiterhin hoch eingeschätzt. Wesentliche Störungen sind aufgrund einer starken Sicherheitspräsenz unwahrscheinlich (GW 17.6.2020; vgl. USDOS 11.3.2020, BS 29.4.2020).
China hat anhand der Vorkommnisse der späten 1980er Jahre gelernt, dass soziale Spannungen zu einer ernsthaften Gefährdung des Systems führen können. Infolgedessen wurde ein engmaschiges Kontroll- und Regulierungssystem sowohl in urbanen Kerngebieten als auch in den peripheren Siedlungsgebieten der Minderheiten aufgebaut (LVAk 9.2019). Die staatliche Kontrolle durch eine massive, sichtbare Polizeipräsenz an strategischen Punkten und wichtigen Orten wird aufrechterhalten (BS 29.4.2020). Medienberichten zu Folge haben die chinesische Polizei und die Sicherheitsbehörden 2016 damit begonnen, Fotodatenbanken, künstliche Intelligenz und Überwachungskameras mit Gesichtserkennungstechnologie zu kombinieren, um Verdächtige und "destabilisierende Akteure" in der Gesellschaft aufzuspüren (DFAT 3.10.2020). Berichten zufolge werden auch gewonnene DNA-Proben, Urinproben, Sprachaufzeichnungen, Fingerabdrücke, Fotos und eine Vielzahl von persönlichen Daten von den Sicherheitsbehörden gesammelt (BBC 19.12.2019; vgl. RFA 23.8.2019, HRW 16.5.2017).
Auf der Tagung des Volkskongresses im Mai 2020 kündigte der Ministerpräsident an, dass auch trotz der wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie sowie des Handelskonflikts mit den Vereinigten Staaten, der Verteidigungshaushalt im laufenden Jahr abermals deutlich steigen soll. Die Ankündigung erfolgte vor dem Hintergrund der in den vergangenen Jahren gewachsenen Spannungen zwischen China und mehreren Nachbarstaaten sowie die USA wegen der von Peking erhobenen Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer (SN 22.5.2020; vgl. FAZ 21.5.2020, WKO 12.5.2020)
China und Russland:
Die chinesisch-russischen Beziehungen werden aus chinesischer Sicht als eine "stabile strategische Partnerschaft" betrachtet (LVAk 5.2020; vgl. GH 17.2.2016). Diese politische, wirtschaftliche und auch militärische Partnerschaft beruht auf einer nüchternen Einschätzung der jeweiligen nationalen Interessen (CISR 2020; vgl. LVAk 5.2020). Langfristigen Aussichten für die chinesisch-russische Partnerschaft sind ungewiss. Vor dem Hintergrund eines unruhigen internationalen Umfelds stehen China und Russland vor großen Herausforderungen, um die Dynamik ihrer Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten (CISR 2020).
Seit 2003 arbeiten Russland und China eng im UN-Sicherheitsrat zusammen. Um die jeweiligen Positionen zu koordinieren, werden die diplomatische Rahmenstrukturen der BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika)-Gruppe und die SCO (Shanghai Cooperation Organization – SCO), Russland, China, Indien, Kasachstan, Kirgisistan, Pakistan, Tadschikistan und Usbekistan genutzt. Äußerst relevant stellt sich die Sicherheitskooperation innerhalb der SCO dar. Diese widmet sich dem Kampf der "three evil forces", Terrorismus, Separatismus (Taiwan, Tibet und Xinjiang) und Extremismus. In diesen Bereichen soll auch ein Austausch nachrichtendienstlicher Informationen erfolgen und Auslieferungsabkommen exekutiert werden (LVAk 5.2020; vgl. BAMF 2.2020).
China und Indien:
Der südasiatische Subkontinent ist der bedeutendste geopolitische Rivale Chinas in Asien (IPG 15.10.2020). Die Streitigkeiten zwischen China und Indien über den Grenzverlauf im bevölkerungsarmen Himalaya-Gebiet ist seit dem Grenzkrieg von 1962 nicht beigelegt (LVAk 5.2020). China und Indien beanspruchen gegenseitig Geländeabschnitte, wobei es gelegentlich zu gewalttätigen Auseinandersetzungen in diesem Grenzgebieten kommt (LVAk 5.2020; vgl. REUTERS 2.9.2020). Ein "Handgemenge" zwischen indischen und chinesischen Soldaten führte zuletzt am 15. Juni 2020 zum Tod von Soldaten auf beiden Seiten (WSJ 17.6.2020).
China betreibt im Zuge seiner "String of pearls Strategy" (CEFIP 13.8.2019; vgl. FA 9/10 2019) den weiteren Ausbau von Häfen in befreundeten Staaten an der nördlichen Küste des Indischen Ozeans wie Kambodscha, Myanmar, Bangladesch, Sri Lanka, Pakistan, den Malediven und darüber hinaus in Afrika forciert aus und bedroht damit im Zuge der "Belt and Road"-Initiative Einflusssphären Indiens in diesem Raum (DRM 26.8.2019). Die guten Beziehungen zwischen China und Pakistan stellen besonders im Hinblick auf den verbindenden Wirtschaftskorridor und die Unterstützung Chinas der pakistanische Anliegen im Kaschmir ein weiterer Konfliktpunkt zwischen China und Indien dar (SWP 2016; vgl. DRM 26.8.2019).
China und USA:
Die Verschlechterung der Beziehungen zwischen China und den USA sowie eine zunehmend konfrontative diplomatische Sprache und militärische Haltung erhöhen das Risiko unbeabsichtigter Eskalationen in den umstrittenen Regionen (GW 23.8.2020; vgl. DRM 26.8.2020).
(…)
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 17.12.2020
Die Führung unternimmt Schritte, das Rechtssystem auszubauen (AA 1.12.2020). Auf der Plenartagung des Zentralausschusses der KPCh im Oktober 2019 wurde die Notwendigkeit betont, die Macht der KPCh zu festigen und ihre Kontrolle über alle Ebenen der chinesischen Gesellschaft auszuweiten (FH 4.3.2020). Gewaltenteilung und Mehrparteiendemokratie werden abgelehnt (DP 27.6.2019). Im März 2018 wurden neue Kontroll- und Ausgleichsmechanismen in die Verfassung aufgenommen, um die Umsetzung zentraler Richtlinien und Vorschriften durchzusetzen. Die Zentralregierung verlässt sich zunehmend auf große Datenmengen, die sie zur Überwachung und Kontrolle der Umsetzung der Reformpolitik auf den verschiedenen Verwaltungsebenen einsetzt. Eine unabhängige Strafjustiz existiert in China nicht. Strafrichter und Staatsanwälte unterliegen der politischen Kontrolle von staatlichen Stellen und Parteigremien (AA 12.2020; vgl. FH 4.3.2020). Die Kontrolle der Gerichte durch politische Institutionen ist ein verfassungsrechtlich verankertes Prinzip (ÖB 10.2020). Die KP dominiert das Rechtssystem auf allen Ebenen und erlaubt Parteifunktionären, Urteile und Verurteilungen zu beeinflussen (FH 4.3.2020; vgl. AI 30.1.2020). Während Bürger in nicht-politischen Fällen ein gewisses Maß an fairer Entscheidung erwarten können, unterliegen solche, die politisch sensible Fragen oder die Interessen mächtiger Gruppen berühren, den politisch-juristischen Ausschüssen (FH 4.3.2020). Seit dem vierten Jahresplenum des 18. Zentralkomitees 2014 betont die Führung die Rolle des Rechts und ergriff Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität gerichtlicher Verfahren und zum Aufbau eines "sozialistisches Rechtssystem chinesischer Prägung" unter dem Motto "den Gesetzen entsprechend das Land regieren". Echte Rechtsstaatlichkeit im Sinne der Achtung des Legalitätsprinzips in der Verwaltung und der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit wird dabei aber dezidiert abgelehnt. Das in den Beschlüssen reflektierte Verständnis von Recht soll die Macht des Staates, d.h. der Kommunistischen Partei (KP), keinesfalls einschränken, sondern vielmehr stärken (ÖB 10.2020; vgl. AA 1.12.2020).
Die Richterernennung erfolgt auf Provinzebene durch Rechtskomitees, welchen hochrangige Partei-Funktionäre angehören und welche von einem KP-Inspektorat überwacht werden. Richter sind verpflichtet, über Einflussnahme seitens lokaler Politiker auf Verfahren Bericht zu erstatten. Es ist für Richter schwierig, zwischen "Unabhängigkeit" von lokalen politischen Einflüssen, und Loyalität zur KP-Linie (welche regelmäßig miteinander und mit einflussreichen Wirtschafts- und Privatinteressen verbunden sind) zu navigieren. Trotz laufender Reformbemühungen gibt es – vor allem auf unterer Gerichtsebene – noch immer einen Mangel an gut ausgebildeten Richtern (ÖB 10.2020).
Ein umfassender Regelungsrahmen unterhalb der gesetzlichen Ebene soll "Fehlverhalten" von Justizbeamten und Staatsanwälten in juristischen Prozessen unterbinden (AA 1.12.2020).
Das umstrittene System der „Umerziehung durch Arbeit“ („laojiao“) wurde Ende 2013 offiziell abgeschafft. Missbräuchliche Einweisungen politisch missliebiger Personen (vor allem Petitionäre oder Dissidenten) in psychiatrische Anstalten aber auch willkürliche Festsetzungen in sogenannten schwarzen Gefängnissen („black jails“ bzw. „legal education center“) ohne faires Gerichtsverfahren oder aufgrund falscher oder gefälschter medizinischer Gutachten kommen weiterhin vor (AA 1.12.2020).
Mit der letzten großen Novellierung 2013 sieht die Strafprozessordnung genaue Regeln für Festnahmen vor, führt die "Hochachtung und der Schutz der Menschenrechte" an und verbietet Folter und Bedrohung bzw. Anwendung anderer illegaler Methoden zur Beweisermittlung. Es besteht jedoch eine teilweise erhebliche Divergenz zwischen den Rechtsvorschriften und deren Umsetzung, und werden diese zum Zwecke der Unterdrückung von politisch unliebsamen Personen instrumentalisiert. Laut Strafprozessordnung müssen auch im Falle einer Festnahme wegen Terrorismus, der Gefährdung der Staatssicherheit oder der schwerwiegenden Korruption die Angehörigen von in Untersuchungshaft befindlichen Personen innerhalb von 24 Stunden über die erfolgte Festnahme informiert werden. Es müssen von den Behörden jedoch keine Angaben zum Grund der Festnahme oder über den Aufenthaltsort der festgenommenen Person gegeben werden. Da Verdächtige sich formell in Untersuchungshaft befinden, muss der Ort der Festhaltung laut Gesetz auch in diesen Fällen eine offizielle Einrichtung sein (ÖB 10.2020). Das Strafprozessgesetz sieht zudem vor, dass Verdächtige, die die staatliche Sicherheit gefährden, an einem "designierten Ort" bis zu sechs Monate unter "Hausarrest" gestellt werden können (ÖB 10.2020).
Im Zusammenhang mit verwaltungsstrafrechtlich bewehrten rechtswidrigen Handlungen kann die Polizei zudem "Verwaltungsstrafen" verhängen. Diese Strafen reichen von Ermahnungen über Geldbußen bis hin zu einer "Verwaltungshaft" (ohne richterliche Entscheidung) von bis zu 15 Tagen. Der Aufenthalt in den offiziell nicht existenten "schwarzen Gefängnissen" kann zwischen wenigen Tagen und in einigen Fällen langjährigen Haftaufenthalten variieren (AA 1.12.2020).
Das 2019 erneut revidierte Strafverfahrensgesetz verbessert dem Wortlaut nach die Stellung des Beschuldigten/Angeklagten und des Verteidigers im Ermittlungs- und Strafprozess. Die Umsetzung steht aber in jedem Fall unter dem politischen Eingriffsvorbehalt der jeweiligen Parteiorgane, die fester integrierter Bestandteil auch bei den Strafgerichten sind (AA 1.12.2020).
Seit 2014 wurden schrittweise Reformen zur Verbesserung der Justizleistung unter Wahrung der Parteivormachtstellung durchgeführt. Die Änderungen konzentrierten sich auf die Erhöhung der Transparenz, Professionalität und Autonomie gegenüber den lokalen Behörden (FH 4.3.2020).
Das chinesische Strafgesetz hat die früher festgeschriebenen "konterrevolutionären Straftaten" abgeschafft und im Wesentlichen durch "Straftaten, welche die Sicherheit des Staates gefährden" (Art. 102-114 chin. StGB) ersetzt. Gerade dieser Teil des Strafgesetzes fällt durch eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe auf (AA 1.12.2020). Der Handlungsraum für Menschenrechtsanwälte zur Ausübung ihrer Tätigkeit wird immer weiter eingeschränkt. Menschenrechtsanwälte sind behördlicher Überwachung, Belästigungen, Einschüchterungen und Inhaftierungen ausgesetzt (AI 30.1.2020). Prozesse, bei denen die Anklage auf Terrorismus oder "Verrat von Staatsgeheimnissen" lautet, werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Was ein Staatsgeheimnis ist, kann nach chinesischer Gesetzeslage auch rückwirkend festgelegt werden. Angeklagte werden in diesen Prozessen weiterhin in erheblichem Umfang in der Wahrnehmung ihrer Rechte beschränkt. Unter anderem wird dem Beschuldigten meist nicht erlaubt, Verteidiger seiner Wahl zu beauftragen; nur in seltenen Ausnahmefällen wird vom Gericht überhaupt eine Verteidigung bestellt (AA 1.12.2020).
Das mehrjährige harte Vorgehen gegen Menschenrechtsanwälte hat den Zugang der Angeklagten zu unabhängigem Rechtsbeistand geschwächt (FH 4.3.2020). Anwälten und Mitarbeitern von Kanzleien und Aktivisten droht bei öffentlicher Kritik am System Festnahme und Haft (AI 1.10.2019; vgl. ZO 29.1.2019, DP 19.1.2018). Von schikanösen Maßnahmen können auch Familienangehörige betroffen sein (AI 1.10.2019; vgl. TT 29.3.2016).
Seit der offiziellen Abschaffung des Systems der "Umerziehung durch Arbeit" werden Menschenrechtsaktivisten nicht mehr in administrativer Haft angehalten, sondern systematisch auf Basis von Strafrechtstatbeständen wie Staatsgefährdung, Separatismus, Volksverhetzung, oder gemeiner Vergehen oder Verbrechen verurteilt, womit der Anschein der Rechtsstaatlichkeit erweckt werden soll. Aufgrund der vagen Tatbestände, des Zusammenhalts der einzelnen Institutionen und des Mangels an unabhängiger engagierter anwaltlicher Vertretung, kann ein strafrechtlich relevanter Sachverhalt relativ leicht "geschaffen" werden (ÖB 10.2020). Eine neue Form der außergerichtlichen Inhaftierung für Ziele von Antikorruptions- und offiziellen Fehlverhaltensuntersuchungen, die als „Liuzhi“ bekannt ist, wurde 2018 zusammen mit der Einrichtung der National Supervisory Commission (NSR) eingeführt. Einzelpersonen können unter Anwendung dieser Maßnahmen bis zu sechs Monate lang ohne Zugang zu Rechtsbeistand inhaftiert werden (FH 4.3.2020).
Wegen der mangelnden Unabhängigkeit der Justiz wählen viele Betroffene von Behördenwillkür den Weg der Petition bei einer übergeordneten Behörde (z.B. Provinz- oder Zentralregierung). Petitionen von Bürgerinnen und Bürgern gegen Rechtsbrüche lokaler Kader in den Provinzen nehmen seit einigen Jahren ab. Petitionäre, die Vergehen von lokalen Behörden und Kadern anzeigen wollen, werden häufig von angeheuerten Schlägertrupps aufgegriffen und ohne Kontakt zur Außenwelt in Gefängnissen festgehalten. Diese Art des Verschwindenlassens ist eine weit verbreitete, von der Regierung aber stets verleugnete Methode, um unliebsame Personen aus dem Verkehr zu ziehen (AA 1.12.2020; vgl. ÖB 10.2020).
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Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 17.12.2020
Zivile Behörden haben die Kontrolle über die Militär- und Sicherheitskräfte (USDOS 11.3.2020). Xi Jinping, Präsident und Vorsitzender der Kommunistischen Partei Chinas, ist Oberkommandierender der Streitkräfte, welche seit 1997 direkt der Kommunistischen Partei Chinas unterstellt sind (GX 10.11.2019). Die Ausgaben für die innere Sicherheit sind in allen Provinzen und Regionen im Zeitraum von 2007 bis 2016 um 215 Prozent angestiegen und erhöhten sich 2018 insbesondere in sensiblen Minderheitenregionen wie Xinjiang und Tibet weiter (DFAT 3.10.2019).
Sicherheitsbehörden sind das Ministerium für Staatssicherheit, das Ministerium für Öffentliche Sicherheit und die Bewaffnete Volkspolizei (BVP) der Volksbefreiungsarmee. Das Ministerium für Staatssicherheit soll vor Staatsfeinden, Spionen und konterrevolutionären Aktivitäten zur Sabotage oder dem Sturz des chinesischen sozialistischen Systems schützen. In die Zuständigkeit dieses Ministeriums fallen auch der Inlands- und Auslandsgeheimdienst. Darüber hinaus beschäftigen zahlreiche lokale Kader u.a. entlassene Militärangehörige in paramilitärischen Schlägertrupps. Diese Banden gehen häufig bei Zwangsaussiedlung im Zuge von Immobilienspekulation durchaus auch im Zusammenspiel mit der BVP gegen Zivilisten vor. Die Zuständigkeiten des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit sind die innere Sicherheit, Wirtschaft und Kommunikationssicherheit, neben der Verantwortung für Polizeieinsätze und Gefängnisverwaltung. Die Organisationseinheit auf niedrigster Ebene sind die lokalen Polizeikommissariate, die für den alltäglichen Umgang mit der Bevölkerung verantwortlich sind und die Aufgaben von Polizeistationen erfüllen (ÖB 10.2020).
Im Juni 2017 wurde mit dem Aufklärungsgesetz ("Intelligence Law" 2017; geändert 2018), durch das Ständige Komitee des Nationalen Volkskongresses Chinas ein neues Gesetz erlassen, welches über die staatlichen Sicherheitsbehörden hinaus jedes einzelne Mitglied der chinesischen Gesellschaft aufruft, zur nationalen Aufklärungsarbeit beizutragen und nachrichtendienstlich relevante Informationen über Dritte, die an Aktivitäten beteiligt sind, welche der nationalen Sicherheit Chinas oder seinen Interessen schaden können, an die Behörden weiterzugeben (DFAT 3.10.2019). Darüber hinaus besteht ein enges Netz an lokalen Partei-Büros welche mittels freiwilliger „Blockwarte“ die Bewegungen der Bewohner einzelner Viertel überwachen und mit der Polizei zusammenarbeiten (ÖB 10.2020).
Die Behörde für Staatssicherheit kann seit Mitte April 2017 Beträge zwischen 10.000 und 500.000 Yuan (etwa 68.000 Euro) für nützliche Hinweise an Informanten auszahlen, welche durch ihre Mitarbeit bei der Enttarnung von ausländischen Spionen helfen. Informationen können über eine speziell eingerichtete Hotline, Briefe oder bei einem persönlichen Besuch bei der Behörde gegeben werden. So sich die Hinweise als zweckdienlichen herausstellen, soll der Informant das Geld erhalten (FAZ 11.4.2017).
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Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 17.12.2020
China ratifizierte bereits 1988 die UN-Konvention gegen Folter. Nach Art. 247 und 248 StGB wird Folter zur Erzwingung eines Geständnisses oder zu anderen Zwecken in schweren Fällen mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe, in besonders schweren Fällen mit bis zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe oder Todesstrafe geahndet (AA 1.12.2020; vgl. ÖB 10.2020).
In den letzten Jahren wurden außerdem einige Verordnungen erlassen, die formell für Tatverdächtige im Ermittlungsverfahren einen besseren Schutz vor Folter bieten sollen. Ein großes Problem bleibt jedoch die mangelnde Umsetzung dieser Rechtsinstrumente. Die Sicherheitsbehörden genießen weiterhin auch aufgrund des Mangels an Kontrolle und Transparenz einen großen Handlungsspielraum. Sicherheitskräfte setzen sich routinemäßig über rechtliche Schutzbestimmungen hinweg. Für die Polizei stellt Straflosigkeit im Falle von Brutalität und bei verdächtigen Todesfällen in Gewahrsam die Norm dar (ÖB 10.2020; vgl. FH 4.3.2020, AI 30.1.2020). 2019 kam es landesweit zu einer ungewöhnlich hohen Zahl gut dokumentierter Fälle, in denen politische und religiöse Gefangene in der Haft oder kurz nach ihrer Entlassung aufgrund der Verweigerung angemessener medizinischer Versorgung starben. Bürger, die Wiedergutmachung für Misshandlungen in der Haft oder Aufklärung verdächtiger Todesfälle von Familienmitgliedern einfordern, werden oft mit Repressalien oder mit Gefängnisstrafen belegt (FH 4.3.2020).
Menschenrechtsaktivisten äußern Besorgnis darüber, dass Rechtsanwälte und Aktivisten weiterhin nach Inhaftierung verschiedenen Formen von Folter, Misshandlung oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sind (USDOS 11.3.2020). Angehörige der ethnischen Minderheit der Uiguren berichten von systematischer Folter und anderer erniedrigender Behandlung durch im Strafvollzug und in den Internierungslagern beschäftigte Beamte (USDOS 11.3.2020; vgl. DFAT 3.9.2019).
Die chinesische Führung erklärte 2014 das Ziel, die Rechtsstaatlichkeit zu verbessern und Folter, Misshandlungen und Missstände in der Justiz zu verhindern. Gleichzeitig wird radikal gegen unabhängige Rechtsanwälte, Menschenrechtsverteidiger, und Medien vorgegangen, sodass das Ziel einer Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit in Frage gestellt wird. Neben politischen Absichtserklärungen und einigen wenigen "Vorzeigefällen", in denen Fehlurteile - etwa nach vollzogener Todesstrafe posthum - revidiert wurden, oder einzelne Polizisten nach tödlicher Folter (und öffentlicher Empörung) entlassen werden, ist jedoch nicht bekannt, dass strukturelle Maßnahmen getroffen werden, um das Risiko von Folter und Misshandlungen zu vermindern (ÖB 10.2020; vgl. AI 22.2.2018).
Das revidierte Strafverfahrensrecht verbietet die Verwendung von Geständnissen und Zeugenaussagen, die unter Folter oder anderweitig mit illegalen Mitteln zustande gekommen sind (neuer Art. 53), sowie sonstiger illegal erlangter Beweismittel (Art. 54) im Strafprozess. Trotzdem soll Folter in der Untersuchungshaft häufiger vorkommen als in regulären Gefängnissen (AA 1.12.2020). Die Anwendung von Folter ist nach wie vor weit verbreitet und wird eingesetzt, um Geständnisse zu erhalten oder politische und religiöse Dissidenten zu zwingen, ihre Überzeugungen zu widerrufen (FH 4.3.2020).
Soweit die chinesische Regierung und die staatlich gelenkte Presse Folterfälle einräumen, stellen sie diese als vereinzelte Übergriffe "unterer Amtsträger" dar, gegen die man energisch vorgehe (AA 1.12.2020).
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Korruption
Letzte Änderung: 18.12.2020
Korruption stellt nach wie vor ein großes Problem im Land dar (USDOS 11.3.2020). China scheint im Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Perceptions Index) von Transparency International (TI) für das Jahr 2019 mit einer Bewertung von 41 (von 100) (0 sehr korrupt, 100 kaum korrupt) auf dem 80. Rang von 180 Staaten (TI 2020) auf. 2018 erreichte China eine Reihung auf dem 87. Rang von 180 Staaten mit 39 Punkten (TI 2019).
Trotz diverser Anti-Korruptionsmaßnahmen bewirken Korruption und deren Auswirkungen auf die Wirtschaft des Landes nach wie vor deutliche Zeichen von Unzufriedenheit in der Bevölkerung (LVAk 9.2019). Die weitest verbreiteten Formen von Korruption in China sind Bestechung, Veruntreuung öffentlicher Gelder und Günstlingswirtschaft durch Regierungsvertreter. Korruption, politische Einmischung und Vermittlungsleistungen sind beim Erwerb öffentlicher Dienstleistungen und im Umgang mit dem Rechtssystem üblich (DFAT 3.10.2019) und sind zum Teil auf politische und kulturelle Gründe zurückzuführen (LI 2020). Korruption ist in China Teil des politischen Systems (LVAk 5.2020). Auch sind die von der Regierung stark regulierten Bereichen wie Landnutzung, Immobilien, Bergbau und Entwicklung der Infrastruktur sind anfällig für Betrug, Bestechung und Schmiergeldzahlungen (USDOS 11.3.2020).
Bei seinem Amtsantritt startete Präsident Xi eine landesweite Anti-Korruptionskampagne (DFAT 3.10.2019; vgl. FH 4.3.2020). Ziel dieser Kampagne ist es, korrupte Beamte zu finden (DFAT 3.10.2019; vgl. ÖB 10.2020). Im ersten Halbjahr 2018 wurden 302.000 Untersuchungen m Zusammenhang mit Korruption durchgeführt (DFAT 3.10.2019). 350.000 bis mehr als eine Million Beamte wurden nach offiziellen Angaben bisher überprüft und bestraft (FH 4.3.2020; vgl. ÖB 10.2020). Unter den Gemaßregelten befinden sich hochrangige Staats- und Parteifunktionäre aus dem Sicherheitsapparat, dem Militär, dem Außenministerium, staatlichen Unternehmen und den staatlichen Medien (DFAT 3.10.2019; vgl. FH 4.3.2020). Das parteiinterne Untersuchungssystem, das von der KP-Zentralkommission für Disziplininspektion (CCDI) gegen KP-Mitglieder durchgeführt werden kann (shuanggui), ist im chinesischen Recht nicht geregelt. Laut NGO-Berichten werden im Rahmen der Shuanggui-Untersuchungen auch verschiedene Formen der Folter und unmenschlichen Behandlung angewendet (darunter Schläge, Schlafentzug, Einzelhaft), um die Beschuldigten zu Geständnissen zu bewegen. Auch sollen Richter mit den außergerichtlichen KP-Organen bei der "Beschaffung" von Geständnissen zusammengearbeitet haben (ÖB 10.2020).
Obwohl die Beamten mit strafrechtlichen Sanktionen wegen Korruption konfrontiert waren, setzen die Regierung und die KP Chinas das Gesetz nicht konsequent und transparent um (USDOS 11.3.2020), jedoch haben die Anti-Korruptionsbemühungen bei den Beamten eine abschreckende Wirkung erzeugt und die Zurschaustellung demonstrativen Reichtums verringert. Man geht davon aus, dass die Korruption auf allen Regierungsebenen nach wie vor weit verbreitet ist (FH 4.3.2020).
In der Praxis bedeutet dies aber auch eine Politik der verstärkten Unterdrückung Andersdenkender, sowie die strikte, aber in der Praxis selektive und intransparente Bekämpfung von Korruption in Partei und Gesellschaft (AA 1.12.2020).
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NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Letzte Änderung: 18.12.2020
Unabhängige Menschenrechtsinstitutionen gibt es in China (mit zunehmend eingeschränkter Ausnahme Hongkongs) nicht. Die bestehenden strengen Regeln für NGOs machen deren Registrierung de facto unmöglich (AA 1.12.2020). Es werden nur NGOs mit einer nichtpolitischen Agenda vom Regime toleriert (BS 29.4.2020).
Unabhängige NGOs erhalten keine staatliche Unterstützung und es besteht keine "Spendenkultur" für solche Organisationen. Ebenso ist das Sammeln von Spenden verboten. 2017 trat ein eigenes Gesetz zur Kontrolle von ausländischen NGOs und von Finanzierungen aus dem Ausland für heimische NGOs in Kraft ("Foreign NGO Activity Management Law"). Demnach müssen alle Finanzierungen durch ausländische NGOs von den chinesischen Sicherheitsbehörden vor Erhalt genehmigt werden. Ausländische NGOs dürfen in China nur gewisse Aktivitäten in Partnerschaft mit offiziellen Stellen ausüben (ÖB 10.2020; vgl. BS 29.4.2020, USDOS 11.3.2020, FH 4.3.2020). Laut offiziellen chinesischen Angaben gibt es (mit einer sehr breiten Definition) mehr als 460.000 registrierte NGOs im Land. Nur ein sehr kleiner Teil davon kann als "unabhängig" qualifiziert werden. Die Rolle der Zivilgesellschaft wird von der Kommunistischen Partei nur in kleinteiliger Organisationsform bzw. in Bereichen wie Umwelt und Wohlfahrt zugelassen, wenn kein sozialer Aktivismus in Form von öffentlicher Kritik an Behörden, KP oder Politiken geübt wird (ÖB 10.2020). Die wenigen staatlichen chinesischen Organisationen, die sich mit Menschenrechten befassen, sind im Sinne der Information über und Werbung für das staatliche Konzept der Menschenrechtspolitik aktiv. So ist das Führungspersonal der Society for Human Rights Studies gleichzeitig Personal des Informationsamts des Staatsrats (AA 1.12.2020).
Die Regierung schikaniert und schüchtert weiterhin Menschenrechtsverteidiger und unabhängige NGOs ein und verfolgt sie strafrechtlich. Die Familienmitglieder von Menschenrechtsverteidigern werden von der Polizei überwacht, schikaniert, inhaftiert und in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt (AI 30.1.2020).
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Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 18.12.2020
Offiziell erkennt China die grundlegenden Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen sowie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte an. Außerdem hat die Volksrepublik China einer Reihe von Übereinkünften zum Schutz der Menschenrechte der Vereinten Nationen zugestimmt (GIZ 9.2020a; vgl. ÖB 10.2020).
Die Menschenrechtslage in China bietet ein zwiespältiges und trotz aller Fortschritte im Ergebnis negatives Bild. 2004 wurde der Begriff "Menschenrechte" in die Verfassung aufgenommen, die individuellen Freiräume der Bürger in Wirtschaft und Gesellschaft wurden in den letzten Jahren erheblich erweitert. Andererseits bleiben die Wahrung der inneren Stabilität und der Machterhalt der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) oberste Prämisse und rote Linie (AA 1.12.2020).
Die Menschenrechtslage ist weiterhin durch ein systematisches Vorgehen gegen jede Form von Dissens gekennzeichnet (AI 30.1.2020). Seit der offiziellen Abschaffung des Systems der "Umerziehung durch Arbeit" werden Menschenrechtsaktivisten nicht mehr in administrativer Haft angehalten, sondern systematisch auf Basis von Strafrechtstatbeständen wie Staatsgefährdung, Separatismus, Volksverhetzung, oder gemeiner Vergehen oder Verbrechen verurteilt, womit der Anschein der Rechtsstaatlichkeit erweckt werden soll. Aufgrund der vagen Tatbestände, des Zusammenhalts der einzelnen Institutionen und des Mangels an unabhängiger engagierter anwaltlicher Vertretung, kann ein strafrechtsrelevanter Sachverhalt relativ leicht "geschaffen" werden (ÖB 10.2020).
Oberstes Ziel ist die Aufrechterhaltung „sozialer Stabilität“, die aus Sicht der chinesischen Führung unerlässlich für die weitere Entwicklung des Landes ist. Die chinesische Führung geht kompromisslos gegen jene vor, die als Bedrohung dieser Prioritäten angesehen werden, wie beispielsweise regierungskritische Schriftsteller, Blogger, Bürgerrechtsaktivisten, Menschenrechtsanwälte, Petitionäre oder Mitglieder nicht anerkannter Religionsgemeinschaften (Falun Gong, Hauskirchen etc.). Einschüchterungsmaßnahmen umfassen etwa Hausarrest, willkürliche Haft in sogenannten schwarzen Gefängnissen ("black jails" bzw. "legal education center"), Folter, Berufsverbote und Druck auf Familienangehörige durch Bedrohungen bis hin zur "Sippenhaft". Flankiert wird dies durch neue Gesetzgebung sowie eine Verschärfung von bestehenden Verordnungen und Gesetzen in den letzten Jahren. Personen, die in Opposition zu Regierung und herrschender Ideologie stehen, setzen sich unmittelbar der Gefahr von Repression durch staatliche Stellen aus, wenn sie aus Sicht der Regierung die Kommunistische Partei, die Einheit des Staates oder das internationale Ansehen Chinas gefährden. Die Schwelle ist immer dann erreicht, wenn die chinesischen Sicherheitsbehörden annehmen, dass ein – noch so loses – Netzwerk gebildet werden könnte. Aus Sicht der Regierung geht von separatistischen Bestrebungen und Untergrundaktivitäten innerhalb Chinas die größte Gefahr aus (AA 1.12.2020).
Es gibt weiterhin besorgniserregende Verletzungen rechtsstaatlicher Mindeststandards in ganz China. So gibt es immer noch willkürliche Inhaftierungen durch die Regierung, erzwungenes Verschwindenlassen von Personen, sowie Folter und unrechtmäßige Tötungen durch die Regierung, harte und lebensbedrohliche Gefängnis- und Haftbedingungen, politische Gefangene, willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre, erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz, Zensur und Sperrung von Webseiten, physische Angriffe und strafrechtliche Verfolgung von Journalisten, Anwälten, Schriftstellern, Bloggern, Dissidenten, Petitionären und anderen Personen sowie deren Familienangehörigen, Eingriffe in das Recht auf friedliche Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, einer restriktiven Gesetzgebung gegenüber Nichtregierungsorganisationen (NGOs), strenge Einschränkungen der Religionsfreiheit, erhebliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, Korruption, Geburtenbeschränkungen, in manchen Fällen Zwang zur Sterilisation oder Abtreibung, Menschenhandel und Kinderarbeit (USDOS 11.3.2020).
Häufig kommt es zu Übergriffen lokaler Amtspersonen bzw. von denen beauftragter Dritter. Dies betrifft im Schwerpunkt die Überwachung politisch Andersdenkender auf lokaler Ebene. Zumeist handelt es sich um Demonstrantinnen und Demonstranten bei Fällen mit wirtschaftlichem Hintergrund (illegale Landnahme, Korruption etc.). Petentinnen und Petenten, die Vergehen von lokalen Behörden und Kadern anzeigen wollen, werden häufig von angeheuerten Schlägertrupps aufgegriffen und ohne Kontakt zur Außenwelt in Gefängnissen festgehalten. Diese Art des Verschwindenlassens ist eine weit verbreitete, von der Regierung aber stets verleugnete Methode, um Unliebsame aus dem Verkehr zu ziehen (AA 1.12.2020).
Die chinesische Regierung hat 2020 ein soziales Kreditsystem (SCS) eingeführt, das Menschen in allen Lebenslagen bewertet und entsprechend belohnt oder bestraft (EuZ 29.8.2019; vgl. LVAk 9.2019). Als Datenquellen werden das Verhalten in den sozialen Medien, beim Online-Shopping, beim Verfassen von Kurznachrichten, aber auch Kranken- und Gerichtsakten, Verkehrsdelikte, Steuersünden, rüpelhaftes Verhalten in der Öffentlichkeit, Rauchen in öffentlichen Räumen etc. genutzt (EuZ 29.8.2019). Die derzeitigen Tests will die Regierung bis Ende 2020 abschließen, um dann landesweit ein verpflichtendes einheitliches SCS einzuführen. Starten soll es aller Voraussicht nach in Peking. Unklar ist derzeit noch, wie später auch ländliche Regionen angeschlossen werden sollen, die aktuell noch keinen Internetzugang haben.Trotz aller Kontrolle ist die Zustimmung hoch (HO 8.5.2020).
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Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 17.12.2020
Das Gesetz sieht eine innerstaatliche Bewegungsfreiheit, die Möglichkeit von Auslandsreisen und die Möglichkeit einer Rückkehr vor (ÖB 13.8.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Doch werden diese Rechte nicht immer durch die Regierung ermöglicht. Die Behörden verschärften die Beschränkungen der Bewegungsfreiheit vor wichtigen Jubiläen, Besuchen ausländischer Würdenträger oder großen politischen Ereignissen, um Demonstrationen vorzubeugen (USDOS 11.3.2020).
Ein Umzug bzw. eine Umregistrierung in einer anderen Region ist (nur) im Rahmen der gesetzlichen Regelungen des Hukousystems (Haushaltsregistrierungssystem) möglich – insbesondere wenn man in einem anderen Ort eine Arbeitsstelle hat und der Arbeitgeber entsprechend die Formalitäten erfüllt. In einigen Orten (z.B. Beijing und Shanghai) gibt es lange (mehrjährige) Wartezeiten für die Umregistrierung des Hukou nach einem Punktesystem, da der Zuzug hier streng geregelt wird (ÖB 28.5.2020; vgl. NMoFA 1.7.2020).
Durch das Hukou-System wird verhindert, dass rund 290 Millionen Arbeits- und Binnenmigranten in den Städten, in denen sie arbeiten, vollen legalen Status als Einwohner genießen. Durch die Regierung wurde angekündigt, das geltende System schrittweise zu reformieren und die Vorteile des städtischen Wohnsitzes auf 100 Millionen Migranten auszuweiten. Doch würde eine Umsetzung dieses Plans immer noch eine große Mehrheit der Migranten ohne gleiche Rechte oder vollen Zugang zu sozialen Diensten bedeuten (FH 4.3.2020; vgl. NMoFA 1.7.2020).
Anderswo in China, wo 2019 die ersten Stufen eines Sozialkreditsystems eingeführt wurden, sehen sich Berichten zufolge Millionen von Bürgern aufgrund ihrer niedrigen Punktzahlen mit Einschränkungen bei Flug- und Bahnreisen konfrontiert. Millionen Menschen, viele von ihnen Uiguren und Tibeter, sind von staatlichen Einschränkungen beim Zugang zu Auslandsreisen und Reisepässen betroffen (FH 4.3.2020; vgl. HRW 14.1.2020).
Die beschriebenen Repressionen erfolgen landesweit nicht einheitlich. Da wegen der Größe des Landes und der historisch überkommenen Strukturen Einfluss und Kontrolle der Zentralregierung in den einzelnen Landesteilen unterschiedlich stark ausgeprägt sind, treten staatliche oder dem Staat zurechenbare Übergriffe in den Regionen unterschiedlich häufig auf. Daher kann es im Einzelfall möglich sein, durch einen Ortswechsel Repressalien auszuweichen. Allerdings ist ein Umzug von in der Volksrepublik China lebenden Chinesen in einen anderen Landesteil durch die restriktive Registrierungspraxis („Hukou“-System) nur schwer möglich (Verlust des Zugangs zu Bildung und Sozialleistungen). Für Personen aus ländlichen Gebieten ist es schwierig, legal in eine Stadt zu ziehen. Insbesondere für aus politischen Gründen Verfolgte gibt es keine sichere Ausweichmöglichkeit innerhalb Chinas (AA 1.12.2020).
Ein Untertauchen, also eine nicht registrierte Niederlassung in einen anderen Landesteil als jenem des Melde-Wohnorts, ist schwierig. Sowohl bei Inlandsflügen als auch bei Zugfahrten wird systematisch die Identität überprüft, auch Zugtickets können nur mit Personalausweis gekauft werden und sind nicht übertragbar. Kraftfahrzeuge mit Kennzeichen von außerhalb der Stadt oder der Provinz und deren Passagiere werden systematisch überprüft. Es besteht ein sehr effizientes System der Überwachung durch Nachbarschaftskomitees. In der Tibetischen Autonomen Region und in Xinjiang besteht eine besonders strenge Überwachung unter anderem durch das System der kollektiven Bestrafung von Dorfgemeinschaften und starken Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, wonach Personen, die ihr Dorf oder ihre Region verlassen wollen, hierfür Genehmigungen einholen müssen, welche teilweise nur für bestimmte andere Regionen ausgestellt werden. In Xinjiang werden darüber hinaus in von Uiguren bewohnten Gegenden an Straßensperren Identitätskontrollen – vor allem von jungen männlichen Uiguren – durch die bewaffnete Volkspolizei und die Volksbefreiungsarmee durchgeführt (ÖB 10.2020).
Die Bewegungsfreiheit für Tibeter ist stark eingeschränkt (IHRWch 17.8.2018). Ohne zahlreiche Genehmigungen dürfen sie sich außerhalb ihres Wohngebietes nicht bewegen und auch nicht arbeiten. Das Alltagsleben für Tibeter ist durc