Entscheidungsdatum
18.10.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W124 2141278-2/19E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. FELSEISEN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX zu Recht erkannt:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und die Spruchpunkte I., II., IV., V., VI. und VII. des angefochtenen Bescheids werden ersatzlos behoben.
II. Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird dahingehend abgeändert, dass dem Antrag vom XXXX auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG stattgegeben und XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von zwei Jahren ab Rechtskraft dieser Entscheidung erteilt wird.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Vorverfahren:
1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger Afghanistans und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, stellte am XXXX nach schlepperunterstützter illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.
Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX führte der BF aus, dass er aus dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX in der Provinz XXXX stamme und Paschtu spreche. Befragt zu seinen Familienangehörigen im Herkunftsland, gab der BF an, dass seine Mutter und ein Bruder noch leben würden; sein Vater und ein weiterer Bruder wären bereits verstorben. Als Fluchtgrund gab er an, dass sein Bruder von den Taliban umgebracht worden sei da dieser für einen Kommandanten gearbeitet habe. Der BF habe Briefe von den Taliban mit der Aufforderung erhalten, anstelle des Bruders beim Kommandanten zu arbeiten und im Zuge dessen für die Taliban zu spionieren. Bei einer Weigerung würde man den BF und seine Familie vernichten.
1.2. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) hegte Zweifel an den Angaben zum Alter des BF. Im Rahmen eines daraufhin eingeholten medizinischen Sachverständigengutachtens vom XXXX wird ausgeführt, dass das behauptete Lebensalter nicht mit dem festgestellten Mindestalter vereinbar sei; der Beschwerdeführer sei zum Zeitpunkt der Antragstellung XXXX Jahre alt gewesen. Dadurch ergebe sich wiederum das „fiktive“ Geburtsdatum XXXX .
In weiterer Folge stellte die belangte Behörde fest, dass es sich beim BF um eine volljährige Person handle und berichtigte das Geburtsdatum – nach einer niederschriftlichen Einvernahme – in welcher sich der BF mit der Schlussfolgerung des Gutachtens einverstanden zeigte – auf XXXX .
1.3. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am XXXX führte der BF aus, dass er Paschtune und Moslem sei und zuletzt im Dorf XXXX in der Provinz XXXX gewohnt habe. Er sei ledig und habe keine Kinder. Vor der Ausreise habe der BF in der familieneigenen Landwirtschaft gearbeitet; zur Finanzierung der schlepperunterstützen Reise habe man die Grundstücke der Familie dann jedoch verkauft.
Sein Vater sei vor drei Jahren bei einem Anschlag ums Leben gekommen. Mit seiner Mutter habe der BF seit vier Monaten keinen Kontakt mehr, da diese umgezogen sei. Zuvor hätten die Taliban sie nach dem Verbleib des BF befragt und ihr gedroht. Der BF hielt an seinem Fluchtgrund fest, führte diesen näher aus und legte zudem zwei Drohbriefe zum Beweis seines Vorbringens vor.
In seinem Herkunftsstaat habe er aufgrund seiner Herkunft, Religion, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, politischen Gesinnung oder Familie keine Probleme mit der Polizei oder anderen staatlichen Stellen gehabt, noch sei er verhaftet oder inhaftiert worden. Zudem sei kein Gerichtsverfahren gegen den BF anhängig und habe er auch keine Straftat begangen. Er sei kein Mitglied einer politischen Partei oder parteiähnlichen Organisation.
Der BF gab zudem an, einen Deutschkurs besucht sowie ein Praktikum im Ausmaß von sechs Monaten absolviert zu haben.
1.4. Mit Bescheid vom XXXX wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG (Spruchpunkt I.) als unbegründet abgewiesen. Dem BF wurde gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt (Spruchpunkt II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX gemäß § 8 Abs. 4 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.).
Das BFA begründete eine Gewährung im Wesentlichen damit, dass es sich beim BF zwar prinzipiell um einen gesunden jungen Mann handle, dem eine grundsätzliche Teilnahme am Erwerbsleben zuzumuten sei. Der Aufenthaltsbereich seiner Familie liege jedoch in XXXX , einer der volatilen Provinzen Afghanistans. Eine sichere Rückkehr sei derzeit – insbesondere unter Berücksichtigung, dass diese Provinz als Hochburg sowohl für das Haqqani-Netzwerk als auch für pakistanische und afghanische Taliban gelte – nicht möglich.
Eine innerstaatliche Schutzalternative – etwa in der Hauptstadt Kabul, in Herat oder Mazar-e Sharif – sei mangels familiärer oder sozialer Anknüpfungspunkte nicht verfügbar, auch sei der BF nicht mit den dortigen Gegebenheiten vertraut. Laut BFA bestehe das reale Risiko, dass er mangels eigenem Vermögen, einer speziellen Ausbildung sowie mangels ausreichendem sozialen Netzwerk bei einer Rückkehr (in diese zuvor genannten, sicheren Gebiete) in eine hoffnungslose Lage kommen könnte.
Zudem wurde von der belangten Behörde ausgeführt, dass Afghanen, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren, auf größere Schwierigkeiten stoßen, da ihnen das notwendige soziale oder familiäre Netzwerke sowie erforderliche Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlen würden. Der BF habe lediglich eine Koranschule besucht; aufgrund der hohen Arbeitslosenrate und mangelnden Ausbildungsmöglichkeiten erscheine eine Rückkehr auch in diesem Zusammenhang unzumutbar.
1.5. Gegen den Bescheid vom XXXX über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten brachte der BF eine Beschwerde auf Zuerkennung des Status als Asylberechtigter und Feststellung seiner Flüchtlingseigenschaft ein. Nach einer ergänzenden Einvernahme des BF sowie einer mündlichen Verhandlung wurde die Beschwerde mit Erkenntnis vom XXXX als unbegründet abgewiesen.
2. Gegenständliches Verfahren:
2.1. Am XXXX brachte der BF persönlich einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung bei der belangten Behörde ein.
Dem Antrag wurde stattgegeben und mit Bescheid vom XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX erteilt.
Begründend wurde ausgeführt, dass – in Zusammenhalt mit Ermittlungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat in Verbindung sowie dem Vorbringen des BF – das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Verlängerung als glaubwürdig zu erachten sei.
2.2. Am XXXX brachte der BF erneut persönlich einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung beim BFA ein.
Diesbezüglich fand am XXXX eine Einvernahme des BF vor dem BFA statt, in welcher eingangs ein Konvolut an Integrationsunterlagen eingebracht wurde. Der BF brachte vor, dass er eine Lehre als Metalltechniker/Zerspanungstechniker beim Unternehmen XXXX in XXXX absolviere. Zur Integration in Österreich befragt, teilte der BF mit, dass er seinen Lebensunterhalt durch die eigene Berufstätigkeit selbst finanziere. Er lebe in Leoben und werde seine Lehrzeit im April 2020 beenden. Aufgrund seiner Spielaktivität in einem XXXX Volleyball an der XXXX habe er zudem viele österreichische Freunde gefunden. Der BF habe sich nach eigener Einschätzung gut integriert.
Darüber hinaus hielt er seine bisherigen Angaben aufrecht und ergänzte, dass zwischenzeitlich auch seine Mutter verstorben sei. Nach ihrem Tod sei der Kontakt zum etwa 13-jährigen Bruder abgebrochen; wo sich dieser aufhalte, wisse der BF nicht. Er habe sonst keine weiteren Verwandten im Herkunftsstaat. Befragt, warum der Kontakt mit dem Bruder abgebrochen sei, antwortete der BF, er habe zu seiner Mutter stets über einen Freund Kontakt aufgenommen. Mit diesem Freund sei er weiterhin in Kontakt und habe dieser ihm nun mitgeteilt, dass er den Aufenthaltsort des Bruders auch nicht wisse.
Der BF bestätigte die Gründe im Zusammenhang mit der Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter, wonach er zum Zeitpunkt der Zuerkennung über keine Berufsausbildung, noch über familiäre und soziale Anknüpfungspunkte außerhalb seiner Herkunftsprovinz verfügt habe. Den Beruf, den er in Österreich nun erlernt habe, könne er in Afghanistan aufgrund der schlechten Lage nicht nutzen. Die Lage in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif sei zudem weiterhin schlecht.
2.3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom XXXX wurde dem BF der mit Bescheid vom XXXX zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigen gemäß § 9 Abs. 1 AsylG von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 9 Abs. 4 AsylG wurde die mit XXXX erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entzogen (Spruchpunkt II.). Gemäß Spruchpunkt III. wurde der Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung abgewiesen und dem BF zudem auch kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG erteilt (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt V.). Abschließend wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt VI.), sowie dass die Frist für eine freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VII.).
Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, dass der Status eines subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen sei, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung nicht mehr vorliegen würden. Der BF als junger, gesunder, arbeitsfähiger Mann habe sich mittlerweile wertvolle Kenntnisse angeeignet, wodurch eine Rückkehr – in Bezug auf die innerstaatlichen Fluchtalternativen Kabul, Herat und Mazar-e Sharif – nunmehr möglich sei. Im Falle einer Rückkehr würde keine unmenschliche Behandlung drohen, da der BF in keine lebensbedrohliche Notlage mehr geraten würde.
Darüber hinaus führte die belangte Behörde aus, dass, sofern man geneigt sei, den UNHCR Richtlinien eine allgemeine unzumutbare Sicherheitssituation in Kabul zu entnehmen, diese insoweit ohnehin keine bindende Wertung entfalten würden. Zudem sei auch die Volksgruppenzugehörigkeit des BF von Bedeutung, zumal der Ehrenkodex der Paschtunen (Paschtunwali) die Übernahme einer Schutzfunktion vorsehe und daher schon von vornhinein davon auszugehen sei, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan in Kabul vor keine unzumutbare Situation gestellt werden würde. Er könne im „Auffangbecken“ der Volksgruppe landend entsprechende Unterstützung erwarten. Auch würden mittlerweile zahlreiche Rückkehrprogramme zur Verfügung stehen.
2.4. Der BF erhob, vertreten durch den XXXX , am XXXX fristgerecht vollinhaltlich und aufgrund Rechtswidrigkeit des Inhalts sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften Beschwerde. Die genannten innerstaatlichen Fluchtalternativen wären weiterhin unsicher, wobei zum Nachweis auf unterschiedliche Quellen und die UNHCR Richtlinien verwiesen wurde. Auch würden Rückkehrer aus Europa eine besonders gefährdete Personengruppe darstellen.
Überdies sei zu berücksichtigen, dass der unbescholtene BF seit XXXX im österreichischen Bundesgebiet lebe und um eine Integration in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht bemüht sei. Er habe bereits umfängliche Integrationsschritte gesetzt, spreche Deutsch auf gutem Niveau und mache eine Lehre als Metalltechniker/Zerspanungstechniker, welcher in Österreich als Mangelberuf zähle. Die belangte Behörde habe sich bei Erlassung der Rückkehrentscheidung nicht mit den Auswirkungen der Entscheidung auf das Privat- und Familienleben des BF auseinandergesetzt. Weitere Integrationsunterlagen wurden mit der Beschwerde vom BF in das Verfahren eingebracht.
2.5. Am XXXX langte die Beschwerdevorlage beim Bundesverwaltungsgericht ein.
2.6. Zwischenzeitlich erteilte der BF XXXX Vollmacht und wurden weitere Integrationsunterlagen mittels Schreiben vom XXXX eingebracht.
Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass die belangte Behörde im gegenständlichen Bescheid keine grundlegende und dauerhafte Veränderung (Verbesserung) jener Umstände, welche zur Gewährung von subsidiärem Schutz führten, festgestellt habe. Mittlerweile verfüge der BF aufgrund des Todes der Mutter und Verschollenheit des Bruders über keinerlei familiäres Netzwerk mehr im Herkunftsstaat. Auch hätten sich keine entscheidungswesentlichen Änderungen der persönlichen Verhältnisse ergeben; sei der BF zum Zeitpunkt der Zuerkennung schließlich bereits volljährig sowie gesund gewesen und habe er zuvor schon als Landwirt gearbeitet. Eine dauerhafte Verbesserung der Erwerbs- und Verdienstmöglichkeiten, für Personen vom Profil des BF oder der Sicherheits- und Versorgungslage generell, sei nicht erkennbar oder absehbar. Den Länderinformationen des gegenständlichen Bescheids könne zudem auch kein relevanter Arbeitsmarkt für Zerspanungstechniker entnommen werden.
Hinsichtlich der angeführten innerstaatlichen Fluchtalternativen Herat und Mazar-e Sharif sei festzuhalten, dass – in sachverhaltsmäßiger Hinsicht – diesbezüglich keine signifikante Veränderung (jedenfalls aber keine grundlegende und dauerhafte Verbesserung) eingetreten sei. Eine Aberkennung aufgrund einer geänderten rechtlichen Beurteilung (im Sinne einer geänderten Beweiswürdigung bzw. Rechtsanschauung) sei unzulässig, da es dem Normzweck des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG widerspreche, dass die belangte Behörde – unter Verweis auf eine nachträglich geänderte Rechtsauffassung hinsichtlich der Voraussetzungen für eine Zuerkennung subsidiären Schutzes – die Rechtskraft der ursprünglichen Schutzentscheidung im Wege der Aberkennung zu durchbrechen vermöge.
In eventu sei Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheids dahingehend abzuändern, dass die Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären und dem BF eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen sei. In diesem Zusammenhang wurde auf eine abgeschlossene Lehre als Zerspanungstechniker, darauffolgende Übernahme in ein Dienstverhältnis beim Lehrbetrieb, Selbsterhaltungsfähigkeit, Vorhandensein einer ortsüblichen Unterkunft sowie der Mitgliedschaft in einem Universitätssportinstitut verwiesen.
2.7. Mit Schreiben vom XXXX wurde die Beschwerde durch den BF modifiziert; das BVwG möge in Stattgebung der Beschwerde den angefochtenen Bescheid ersatzlos beheben und in Erledigung des Antrages vom XXXX die befristete Aufenthaltsberechtigung gem. § 8 Abs. 4 AsylG um zwei Jahre verlängern. In eventu möge das BVwG die Spruchpunkte V. bis VII. ersatzlos beheben.
Dem Beschwerdeführer sei am XXXX auf Antrag hin der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ gem. § 45 Abs. 12 NAG erteilt worden. Es komme daher die Erlassung einer – auf § 52 Abs. 2 Z 4 FPG gestützten – Rückkehrentscheidung nicht mehr in Betracht.
2.8. Am XXXX fand unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit des BF, seiner rechtsfreundlichen Vertretung, sowie zweier Zeugen statt:
Neben weiteren, eingehenderen Angaben zu seiner Berufsausbildung/-tätigkeit in Österreich hielt der BF seine bisherigen Angaben aufrecht und führte diese auf Nachfrage weiter aus. Zu seiner Integration befragt, nannte der BF die Namen und näheren Umstände des Kennenlernens seiner österreichischen Freunde und berichtete von seiner Spieltätigkeit in einem Volleyball-Verein, sportlichen Aktivitäten und seiner Freizeitgestaltung.
Der Zeuge Herr XXXX bestätigte in seiner Funktion als Personalleiter des Arbeitgebers die Aussagen des BF. Darüber hinaus berichtete der Zeuge von einer herrschenden Ratlosigkeit innerhalb der Belegschaft im Zusammenhang mit dem aberkennenden Bescheid des BF, da sich dieser „(…) gut in der Kollegenschaft integriert hat und einen guten Job macht“ sowie „(…) schon perfekt Deutsch (…)“ spreche. Auch sei das Unternehmen bestrebt, den BF im Zusammenhang mit einem Verbleib in Österreich zu unterstützten. Sollte der BF Österreich verlassen müssen, würde das Unternehmen jedoch keine Möglichkeit für eine weitere Unterstützung sehen.
Die Angaben des BF zur aktiven Mitgliedschaft in einem XXXX , der regen Teilnahme und sozialen Integration in die Mannschaft wurden von Herrn XXXX in seiner Funktion als Volleyball Trainer (des BF) bestätigt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Zur Person des BF:
Der BF führt den Namen XXXX , ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volkgruppe der Paschtunen sowie der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Moslems an. Das Geburtsdatum XXXX wurde durch die belangte Behörde nach Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens festgestellt, wobei sich der BF mit diesem Geburtsdatum einverstanden zeigte.
Er stammt aus dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX in der Provinz XXXX seine Muttersprache ist Paschtu. Der BF ging im Herkunftsstaat in eine Koranschule und arbeitete darauffolgend in der familieneigenen Landwirtschaft. Er lebte bis zu seiner Ausreise mit seiner Mutter und seinem Bruder zusammen im Dorf XXXX . Der Vater sowie ein Bruder des BF waren zum Zeitpunkt der Ausreise bereits verstorben – die näheren Gründe für das Ableben können nicht hinreichend festgestellt werden. Die landwirtschaftlich genutzten Flächen der Familie wurden zur Finanzierung der schlepperunterstützen Ausreise verkauft.
Er verfügt in seinem Herkunftsstaat – insbesondere auch in Kabul – über kein tragfähiges soziales Netzwerk.
Der BF hat keine Kinder, ist ledig, arbeitsfähig und leidet an keiner schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheit. Er bezieht im Bundesgebiet keine Leistungen aus der Grundversorgung und ist strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zum Privat- und Familienleben des BF
Der BF besuchte im Bundesgebiet einen Deutschkurs und spricht Deutsch, sodass er sich im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit als auch bei Freizeitaktivitäten mit seinen Arbeitskollegen, Freunden sowie Mitspielern gut verständigen kann. Nach erfolgreichem Abschluss einer Lehre im Bereich „Metalltechnik mit dem Schwerpunkt Zerspanungstechnik“ im Zeitraum XXXX , wurde der BF in ein unbefristetes Dienstverhältnis im Lehrbetrieb XXXX übernommen. Seit XXXX ist der BF auch selbsterhaltungsfähig.
Die XXXX ist ein Unternehmen, das sich auf die Entwicklung und Produktion von XXXX spezialisiert und internationale Nischenmärkte bedient.
Der BF hat im Bundesgebiet keine Verwandte oder sonstige Familienangehörige, hat jedoch einen Freundes- und Bekanntenkreis, dem viele österreichische Staatsbürger angehören. Nach seiner Einreise in das Bundesgebiet trat der BF einem Volleyball Team des XXXX bei, in welchem er regelmäßig mit weiteren Mitgliedern trainiert und Spiele bestreitet.
Der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ wurde dem BF am XXXX auf Antrag hin gem. § 45 Abs. 12 NAG erteilt.
1.3. Zur Zuerkennung und Verlängerung des Status des subsidiär Schutzberechtigten
Der BF wuchs in Afghanistan auf und reiste dann XXXX nach Österreich aus, wo er am XXXX Antrag auf internationalen Schutz stellte. Das BFA wies den Antrag auf Erteilung von internationalem Schutz ab, erkannte ihm jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte in diesem Zusammenhang eine Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX . Die Gewährung von subjektivem Schutz ergebe sich laut BFA dabei aus dem Aufenthaltsbereich der Familie in XXXX – einer der volatilen Provinzen Afghanistans – eine sichere Rückkehr sei dem BF nicht möglich. Eine innerstaatliche Schutzalternative – etwa in der Hauptstadt Kabul, in Herat oder Mazar-e Sharif – sei mangels familiärer oder sozialer Anknüpfungspunkte ebenfalls nicht verfügbar, auch sei der BF nicht mit den dortigen Gegebenheiten vertraut. Es bestehe das reale Risiko, dass er mangels eigenem Vermögen, einer speziellen Ausbildung sowie mangels ausreichendem sozialen Netzwerk bei einer Rückkehr (auch in diese zuvor genannten, sicheren Gebiete) in eine hoffnungslose Lage kommen könnte. Auch würde der BF als Afghane, der außerhalb des Familienverbandes zurückkehre, auf größere Schwierigkeiten stoßen, da ihm das notwendige soziale oder familiäre Netzwerke sowie erforderliche Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehle. Auch aufgrund der hohen Arbeitslosenrate und mangelnden Ausbildungsmöglichkeiten erscheine eine Rückkehr auch in diesem Zusammenhang unzumutbar.
Der BF stellte sodann am XXXX einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung, dem das BFA mit Bescheid vom XXXX auch stattgab. Ein weiterer Antrag des BF auf Verlängerung vom XXXX wurde abgewiesen und der mit Bescheid vom XXXX zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigen von Amts wegen aberkannt sowie die zuvor erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entzogen.
Der BF ist seit seiner Einreise in das österreichische Bundesgebiet durchgehend in Österreich aufhältig.
Weder die allgemeine Lage in Afghanistan noch die persönliche Situation des BF haben sich seit Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten bzw. seit der Verlängerung dieses Status wesentlich und nachhaltig verbessert.
Afghanistan ist derzeit von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen (Taliban) betroffen. Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan drastisch verschlechtert (siehe Pkt. II.1.4. zur Lage in Afghanistan).
Im Falle einer Niederlassung des BF in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif oder sonst irgendwo in Afghanistan droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden. Es kann nicht mit der notwendigen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan landesweit dem realen Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt ist (siehe dazu ausführlich Pkt. II.3 rechtliche Beurteilung).
Somit ist eine entscheidungswesentliche Änderung des maßgeblichen Sachverhalts zur Frage der Gewährung subsidiären Schutzes unter Berücksichtigung der individuellen Situation des BF und der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, insbesondere in seiner Herkunftsprovinz XXXX (sowie in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat), die zur Gewährung subsidiären Schutzes geführt haben, seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten vom XXXX bzw. seit dem Ausspruch über die Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX , mit Bescheid der belangten Behörde vom XXXX , nicht eingetreten. Der BF verfügt im Herkunftsstaat über keine ausreichenden sozialen oder familiären Anknüpfungspunkte und könnte sohin in Afghanistan auf kein tragfähiges soziales Netzwerk zurückgreifen. Im Fall seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat würde ihm auch keine finanzielle Unterstützung durch Angehörige oder sonstige Bekannte zukommen.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie – in Afghanistan, mit Stand XXXX , 155.287 Erkrankungen und 7.212 Todesfällen – an sich kein Rückkehrhindernis darstellt. Der BF ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat
1.4.1. Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 16.09.2021
[…]
COVID-19
Letzte Änderung: 16.09.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
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Politische Lage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
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Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban
Letzte Änderung: 16.09.2021
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).
Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).
Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).
Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).
Abzug der Internationalen Truppen
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021). Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (AAN 17.8.2021).
US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021).
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Sicherheitslage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]
Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021).
Vorfälle am Flughafen Kabul
Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.8.2021; BBC 8.9.2021c, UNGASC 2.9.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.8.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.8.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.8.2021).
Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden (AAN 1.9.2021; vgl. BBC 30.8.2021). Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (AAN 1.9.2021; vgl. NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021).
Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte
Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vgl. NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten,