Entscheidungsdatum
20.10.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W218 2189915-1/31E
Schriftliche Ausfertigung des am 14.09.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Benedikta TAURER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Rechtsanwälte Dr. Martin DELLASEGA & Dr. Max KAPFERER, 6020 Innsbruck, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol vom 16.02.2018, Zl. Zl. XXXX , wegen §§ 3, 8, 10, 57, 55 AsylG und §§ 46, 52, 55 FPG nach Durchführung der mündlichen Verhandlungen am 10.11.2020 und 14.09.2021, zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.
II. In Erledigung der Beschwerde gegen den Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird XXXX , geb. XXXX , gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX bis zum 14.09.2022 eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III.-VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste illegal in Österreich ein und stellte am 13.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. In der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer am 14.07.2015 an, Staatsangehöriger von Afghanistan, ledig, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, mit muslimischem Glaubensbekenntnis, am XXXX geboren und in der Provinz Baghlan, Afghanistan wohnhaft gewesen zu sein. Seine Eltern und seine zwei Schwestern würden in Baghlan leben, sein Bruder in Kuwait.
Er habe seine Heimat zu Fuß, in Richtung Iran, verlassen. Seine weitere Reise sei teilweise schlepperunterstützt und teilweise selbstständig durch die Länder Türkei, Bulgarien, Serbien und Ungarn, bis nach Österreich erfolgt.
Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass sein Vater bei der Regierung arbeite und seine Familie von den Taliban bedroht und angegriffen worden sei. Sein Vater sei dabei auch verletzt worden. Aus Angst um sein Leben, habe ihn sein Vater nach Europa geschickt. Er habe Angst vor dem Krieg und, dass er getötet werde. Von staatlichen Seiten habe er nichts zu befürchten. Er legte Fotos und Dokumente vor.
3. Im Rahmen einer niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 14.02.2018 gab der Beschwerdeführer an, dass er in der Provinz Baghlan geboren und dort zwei Jahre in die Grundschule gegangen sei. In XXXX habe er acht Jahre die Grund- und Mittelschule besucht. Er habe nicht gearbeitet. Sein Vater sei nach der Ausreise des Beschwerdeführers verstorben, seine Mutter lebe mit seinen Schwestern und seinem Bruder in Baghlan. Seine Familie besitze ein Haus und Grundstücke. Er habe auch vier Onkel mütterlicherseits und zwei Onkel väterlicherseits, die teilweise in Baghlan und teilweise im Ausland leben würden. Er habe Kontakt zu seiner Familie.
Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass sein Vater durch eine Explosion in einem Bus am linken Bein verletzt worden sei. Die Taliban hätten eine Klebebombe auf dem Bus befestigt. Sein Vater habe im Landwirtschaftsministerium gearbeitet. Er sei Beamter gewesen. Die Taliban hätten ihn aufgefordert, seine Arbeit zu beenden und hätten gesagt, dass er ein Ungläubiger sei. Die Taliban hätten seinen Vater vor dem Bombenanschlag persönlich bedroht. Der Vorfall habe sich zirka ein bis eineinhalb Jahre vor der Ausreise des Beschwerdeführers ereignet. Er sei zweimal persönlich, zirka sechs Monate nachdem sich der Vorfall ereignet habe, von den Taliban bedroht worden. Sie hätten seinen Vater angerufen und gesagt, dass der Beschwerdeführer nicht mehr in die Schule gehen dürfe. Wenn er weiter in die Schule gegangen wäre, wäre er er vielleicht Beamter geworden oder hätte für die Amerikaner gearbeitet. Die Taliban hätten auch gesagt, dass er sich ihnen anschließen müsse und sie ihn töten würden, wenn er das nicht machen würde. Er habe nie persönlich mit den Taliban gesprochen, dies hätten nur mit seinem Vater gesprochen. Sein Bruder sei auch bedroht worden und habe deshalb fünf bis sechs Jahre vor der Ausreise des Beschwerdeführers Afghanistan verlassen. Er befinde sich in Kuwait. Er sei damals nicht mitgegangen, weil er zu jung gewesen und damals auch nicht bedroht worden sei. Seine Familie sei daraufhin wieder nach Baghlan umgezogen. Nach der zweiten Bedrohung gegen den Beschwerdeführer habe sein Vater beschlossen, dass der Beschwerdeführer Afghanistan verlassen müsse. Die Taliban würden ihn und seine Familie als Ungläubige bezeichnen und ihn töten, weil sein Vater für die Regierung gearbeitet habe und er in die Schule gegangen sei. Der Beschwerdeführer legte Dokumente und Integrationsunterlagen vor.
4. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.02.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß
§ 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem Beschwerdeführer wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Weiters wurde innerhalb des Spruches ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
5. Gegen diesen ordnungsgemäß zugestellten Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde. Darin wurde zusammengefasst ausgeführt, dass sich die Behörde mit der Problematik der Verfolgung durch die Taliban im Zusammenhang mit Rekrutierungsversuchen bzw. Zwangsrekrutierungen auseinandersetzen hätte müssen. Darüber hinaus habe die Erstbehörde die fehlende Schutzfähigkeit und –willigkeit der afghanischen Behörden nicht ausreichend ermittelt und die Situation von Rückkehrenden aus dem Westen nicht in gebotenen Ausmaß inhaltlich erhoben. Das Profil des Beschwerdeführers entspreche zumindest zwei der von UNHCR angeführten Risikoprofile, nämlich zähle er zu den Männern im wehrfähigen Alter im Zusammenhang mit Zwangsrekrutierung und zu Personen, bei denen vermutet werde, dass sie gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung regierungsfeindlicher Kräfte verstoßen hätten. Es sei in Afghanistan üblich, dass Verhandlungen bezüglich einer Zwangsrekrutierung mit dem Familienoberhaupt geführt werden würden. Die belangte Behörde habe es zudem unterlassen, Ermittlungen zum Anschlag durchzuführen. Er verwies dazu auf den Zeitungsbericht vom 21.04.2014. Des Weiteren verwies der Beschwerdeführer auf § 19 AsylG 2005, wonach die Erstbefragung zur Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden diene und sich nicht näher auf die Fluchtgründe zu beziehen habe. Zudem sei der Beschwerdeführer in der Erstbefragung unterbrochen worden. Des Weiteren sei die Sicherheitslage und Versorgungslage in Afghanistan äußerst prekär. Rückkehrende, die keine verlässliche Unterstützung durch bestehende soziale Netzwerke hätten, seien in ihrem Überleben gefährdet. Eine Abschiebung nach XXXX sei laut UNHCR nicht möglich. Das gesamte Staatsgebiet sei von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt betroffen.
6. Mit Eingabe vom 07.11.2019 legte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anzeige der Finanzpolizei wegen Beschäftigung ohne arbeitsmarktrechtlicher Bewilligung und Anmeldung zur Sozialversicherung vor.
7. Mit den Eingaben vom 04.12.2019 und 05.11.2020 legte der Beschwerdeführer weitere Integrationsunterlagen sowie Fotos und Dokumente vor.
8. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die eingebrachte Beschwerde am 10.11.2020 eine öffentliche, mündliche Verhandlung durchgeführt. Im Zuge dieser Verhandlung wurde Beweis erhoben durch Parteienvernehmung des Beschwerdeführers.
9. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 23.03.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung W173 abgenommen und der Gerichtsabteilung W218 neu zugewiesen, wo diese am 01.04.2021 einlangte.
10. Mit Eingabe vom 06.09.2021 brachte der Beschwerdeführer vor, dass seine Familie (Mutter, Schwester mit ihrem Sohn und Schwägerin mit ihren zwei Kindern) momentan in XXXX bei einem Bekannten untergekommen sei. Sie seien vor zirka eineinhalb Monaten von Baghlan in die Provinz Samangan vor den Taliban geflüchtet. Als die Taliban auch diese Provinz eingenommen hätten, sei die Familie zurück nach Baghlan gereist, dort hätten sie die Taliban bedroht und seine Schwester zwangsverheiraten wollen. Deshalb seien sie nach XXXX geflüchtet. Sie wüssten nicht, wie lange sie noch bei den Bekannten unterkommen könnten.
11. Mit Eingabe vom 10.09.2021 brachte der Beschwerdeführer weiters vor, dass eine Abschiebung aufgrund der derzeitigen Situation in Afghanistan eine reale Gefahr der Verletzung von Art 2 EMRK und Art 3 EMRK bedeute.
12. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die eingebrachte Beschwerde am 14.09.2021 eine weitere öffentliche, mündliche Verhandlung, zur Wahrung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes durchgeführt. Im Zuge dieser Verhandlung wurden die Daten und die dargelegte Fluchtgeschichte des Protokolls der Verhandlung vom 10.11.2020 mit Einverständnis des Beschwerdeführers übernommen und ergänzend Beweis erhoben durch Parteienvernehmung des Beschwerdeführers. Im Anschluss an die Verhandlung wurde das Erkenntnis mündlich verkündet.
13. Mit Eingabe vom 22.09.2021 stellte der Beschwerdeführer den Antrag auf Ausfertigung des Erkenntnisses.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Paschtu. Die Identität des Beschwerdeführers steht nicht fest. Er ist in Afghanistan geboren und lebte bis zu seiner Ausreise in der Provinz Baghlan. Er ist ledig und hat keine Kinder. Der Beschwerdeführer besuchte zehn Jahre die Schule in Afghanistan, verfügt jedoch über keine Berufsausbildung und keine Berufserfahrung.
Seine Mutter, seine Schwester und seine Schwägerin leben derzeit in XXXX . Er hat Kontakt zu ihnen.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Es kann nicht festgestellt werden, dass er Afghanistan verließ, weil er aufgrund der vermeintlichen Tätigkeit seines Vaters im Landwirtschaftsministerium von den Taliban bedroht wurde. Eine Verfolgung auf Grund der Tätigkeit seines Vaters und wegen einer drohenden Zwangsrekrutierung durch die Taliban ist nicht glaubhaft. Auch in Hinblick auf die aktuelle Situation in Afghanistan ist eine nachhaltige Verfolgung durch die Taliban nicht glaubhaft.
Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht alleine auf Grund der Tatsache, dass er ein paar Jahre in Europa verbracht haben, konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan. Ebenso wenig ist jeder Rückkehrer aus Europa alleine aufgrund dieses Merkmals in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.
Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer auf Grund seines Aufenthaltes in Österreich keinen derart ausgeprägten „westlichen“ Lebensstil angenommen hat, dass er deswegen in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre.
Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan weder vorbestraft noch wurde er dort jemals inhaftiert und er hatte auch mit den Behörden des Herkunftsstaates keine Probleme. Er war in Afghanistan nie politisch tätig und gehörte dort keiner politischen Partei an. Eine politisch motivierte Verfolgung wird daher ausgeschlossen.
1.3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan im Juni 2015 und reiste schlepperunterstützt nach Österreich, wo er am 13.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Der Beschwerdeführer ist nicht erwerbstätig und lebt von der Grundversorgung. Er besuchte einige Deutschkurse und absolvierte am 11.04.2018 die Integrationsprüfung des Österreichischen Integrationsfonds auf dem Sprachniveau A2.
Am 31.08.2016 nahm er an einer „Kompetenzanalyse“ teil. Im Jahr 2017 leistete er ehrenamtliche Tätigkeiten in einem gemeinnützigen Verein und nahm am Basisbildungskurs „Lernnetzwerk für Flüchtlinge im Alter von 15 bis 19 Jahren“ teil. Er besuchte am 16.07.2017 einen Erste-Hilfe-Kurs des Roten Kreuzes. Er nahm von 19.06.2017 bis 29.09.2017 an den Kursen „Basisbildung für Jugendliche“ und „Berufsorientierung“, von 09.10.2017 bis 19.01.2018 am Kurs „Ich will lernen“ und von 30.01.2018 bis 17.04.2018 an den Kursen „Berufsorientierung“ und „Ich will lernen“ teil. Seit 27.08.2019 ist er in einem Pflegezentrum im Ausmaß von 80 Stunden monatlich gemeinnützig tätig. In seiner Freizeit nahm er am „Rote Nasen Lauf“ und regelmäßig an Trainings eines Volleyball- und eines Stockschützenvereins teil, derzeit spielt er gerne Fußball und Volleyball mit Freunden.
Er hat soziale Kontakte, verfügt aber über keinerlei Familienangehörige in Österreich.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.
Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten.
Am 24.10.2019 war der Beschwerdeführer mit dem Unternehmer eines Estrichsunternehmens unterwegs und wurde im Zuge einer Finanzpolizeikontrolle überprüft. Eine Abfrage ergab, dass er weder sozialversichert war noch eine arbeitsmarktrechtliche Bewilligung hatte.
1.4. Zur Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan
Der Beschwerdeführer ist ein junger, gesunder, arbeitsfähiger Mann, der Pashtu, eine der Landessprachen Afghanistans, auf muttersprachlichem Niveau spricht. Der Beschwerdeführer besuchte zehn Jahre die Schule in Afghanistan. Auch wenn er bisher in Afghanistan nicht arbeitete, so kann dennoch davon ausgegangen werden, dass er aufgrund seiner Schulbildung und seines nun erwachsenen Alters sich in der Arbeitswelt zurechtfinden wird. Seine Mutter, seine Schwester und seine Schwägerin leben derzeit in XXXX . Er kennt durch seine afghanischen Eltern die Sitten und Gebräuche seines Herkunftsstaats. Der Beschwerdeführer ist Paschtune und damit Angehöriger der größten und mächtigsten Gemeinschaft in Afghanistan. Es ist daher davon auszugehen, dass er in Afghanistan Anschluss finden, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen wird können, und, dass er in keine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten wird. Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Viruses kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
Wie sich aus den aktuellen Länderinformationen sowie aus der täglichen Berichterstattung in den Medien zu Afghanistan ergibt, hat sich mittlerweile die dortige allgemeine Sicherheitslage dramatisch verschlechtert. Auch ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer auf dem höchsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen. Zudem haben die Taliban mittlerweile im ganzen Land die Macht übernommen. Derzeit gibt es keine Regierung in Afghanistan und der internationale Flughafen in XXXX kann nicht angeflogen werden, auch sind die bis vor kurzem die als relativ sicher bewerteten Städte wie Herat und Mazar – e - Sharif an die Taliban übergeben worden bzw. von den Taliban umzingelt worden, wodurch auch keine sichere Erreichbarkeit der größeren Städte in Afghanistan mehr gegeben ist. Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht daher aktuell nicht zur Verfügung. Auch UNHCR geht nicht von der Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative aus. Eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan würde somit derzeit eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK darstellen.
Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass IOM aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration für Afghanistan mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen musste.
1.5. Zur relevanten Situation in Afghanistan:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Im Hinblick auf die rezenten sicherheitsrelevanten Ereignisse, die in der Letztversion des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation noch nicht abgebildet sind, wurden aktuelle Medienberichte zur Lage in Afghanistan sowie die Sonderkurzinformation vom 17.08.2021 und die Kurzinformation vom 20.08.2021 herangezogen.
Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell, wobei nicht verkannt wird, dass sich die Lage in Afghanistan derzeit volatil und ungewiss darstellt.
Ergänzend wird Folgendes festgestellt:
Neuste Ereignisse – Integrierte Kurzinformationen
KI vom 20.08.2021, Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan
Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).
Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).
Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).
Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).
Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d). Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen auftraten. Dazu kamen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021).
Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzufuhren. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN SR Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).
Die Anführer der Taliban
Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban- Führer auch nach außen auf. Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia- Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird. Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass er die Taliban- Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jahrige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht. Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban- Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an. Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).
Stärke der Taliban-Kampftruppen
Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).
Quellen:
BBC - British Broadcasting Corporation: Afghan women to have rights within Islamic law, Taliban say, https://www.bbc.com/news/world-asia-58249952
BBC - British Broadcasting Corporation: Flag-waving protesters defy Taliban in Afghan city, https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 18.8.2021
BBC - British Broadcasting Corporation: Afghanistan: Who's who in the Taliban leadership, https://www.bbc.com/news/world-asia-58235639, Zugriff 18.8.2021
BBC - British Broadcasting Corporation: Taliban step up hunt for collaborators - UN report, https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 19.8.
ORF – Österreichischer Rundfunk: Sorge um afghanische Ortskräfte wächst, https://orf.at/stories/3225305/, Zugriff 18.8.2021
ORF – Österreichischer Rundfunk: Die Anführer des Taliban-Netzwerks, https://orf.at/stories/3225195/, Zugriff 18.8.2021
ORF – Österreichischer Rundfunk: Erneut Tote bei Kundgebung gegen Taliban, https://orf.at/stories/3225444/, Zugriff 19.8.2021
ZDF – Zweites Deutsches Fernsehen (18.8.2021): Die aktuelle Entwicklung in Afghanistan, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-taliban-blog-100.html, Zugriff 18.8.2021
UN Bericht – Ständige Vertretung Österreichs bei den VN (18.8.2021): Briefing zur Lage in AF in NY 17.8.2021, per Email
Sonder-KI vom 17.08.2021, Aktuelle Lage in Afghanistan
Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021).
Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).
Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a).
Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).
Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b).
Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021).
Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021).
Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a).
IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021).
Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).
Sicherheitslage
Derzeit ist es zu früh, definitive Schlüsse zu ziehen. Es wird davon abhängen, wie sich das Verhältnis zwischen der afghanischen Armee und Polizei zu den Taliban entwickelt (Armee und Polizei haben sich praktisch kampflos ergeben). Ein Zugriff der Taliban auf die Ausrüstung des Sicherheitsapparats würde die Position der Taliban stärken, was aber nicht ausschließt, dass sich aus Kreisen des Sicherheitsapparats oder anderer Akteure im Land Widerstand formiert, der zu Kampfhandlungen führen könnte.
Wirtschaft/Versorgung
Es ist ein wirtschaftlicher Einbruch möglich, der auch die Versorgungslage treffen kann – einerseits durch die Machtergreifung der Taliban, der potentiellen Flucht gebildeterer und wohlhabenderer Bevölkerungsgruppen sowie aufgrund des Fehlens der Wirtschaftskraft der internationalen Truppen (z.B. via lokaler Angestellter) sowie aufgrund der Frage, ob NGOs und internationale Organisationen weiter agieren dürfen. Hinzukommt auch die Frage, wie weit sich die Machtergreifung der Taliban auf die Berufstätigkeit von Frauen auswirken wird.
Menschenrechtslage
Gruppen wie die Taliban (oder auch der IS) greifen nach einer Machtergreifung nicht unbedingt sofort auf ein volles Instrumentarium an Repressionen zurück, sondern tun dies oft eher sukzessive. Ob die Taliban ihr Verhalten als Macht im Staate dieses Mal eventuell teilweise anders gestalten werden, wird sich zeigen. Informationen zur aktuellen Menschenrechtslage würden daher derzeit nur eine Momentaufnahme darstellen, ohne eine belastbare Entscheidungsgrundlage vor dem Hintergrund des Umsturzes darzustellen. Aussagekräftige, zeitlich länger gültige Informationen zu Kernbereichen werden erst später zur Verfügung stehen.
Quellen:
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (16.8.2021): Briefing Notes, per Email
BBC - British Broadcasting Corporation (16.8.2021: Afghanistan: US takes control of Kabul airport to evacuate staff from countryhttps://www.bbc.com/news/world-asia-58227029, Zugriff 16.8.2021
Die Presse (17.8.2021): Die Türkei schottet sich mit Mauer gegen Flüchtlinge ab, https://www.diepresse.com/6021855/die-turkei-schottet-sich-mit-mauer-gegen-fluchtlinge-ab, Zugriff 17.8.2021
IOM - International Organization for Migration (16.8.2021): Aussetzung der Freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, per Email
ORF – Österreichischer Rundfunk (16.8.2021): Krieg in Afghanistan ist vorbei, https://orf.at/stories/3225020/, Zugriff 16.8.2021
ORF – Österreichischer Rundfunk (16.8.2021a): Verzweifelte Fluchtversuche aus Kabul, https://orf.at/stories/3225106/, Zugriff 17.8.2021
ORF – Österreichischer Rundfunk (16.8.2021b): Nachbarländer in großer Unruhe, https://orf.at/stories/3225071/, Zugriff 17.8.2021
ORF – Österreichischer Rundfunk (17.8.2021): Ein Alptraum für Frauen, https://orf.at/stories/3225041/, Zugriff 17.8.2021
TS – Tagesschau (15.8.2021): Präsident Ghani ins Ausland geflohen, https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-kabul-ghani-101.html, Zugriff 16.8.2021
UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (8.2021): UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Refworld | UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Zugriff 17.8.2021
VB – Verbindungsbeamtin des BM.I für Thailand/Pakistan [Österreich] (17.8.2021): Auskunft des VB, per Email
VB – Verbindungsbeamter des BM.I für Türkei [Österreich] (17.8.2021a): Auskunft des VB, per Email
KI vom 11.08.2021, Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan
Die Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Regierungstruppen erreichten Ende Juli 2021 die Provinzhauptstädte. Binnen weniger Tage (6.- 11. August) brachten die Taliban neun Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle: Sarandsch (Provinz Nimrus), Scheberghan (Provinz Dschuzdschan), Kundus (Provinz Kundus), Sar-i Pul (Provinz Sar-i Pul), Taloqan (Provinz Tachar), Samangan (Provinz Samangan), Faizabad (Provinz Badachschan), Pol-e Chomri, (Provinz Baglan), Farah (Provinz Farah).
Quelle:
BBC - British Broadcasting Corporation (11.08.2021): https://www.bbc.com/news/world-asia-57933979
KI vom 02.08.2021, Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan
Sicherheitslage und Gebietskontrolle
In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. Berichten zufolge liegt die Gebietskontrolle der Regierung auf dem niedrigsten Stand seit 2001 (UNHCR 20.7.2021). Nach Angaben des Long War Journals (LWJ) kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte Afghanistan. Die Regierungstruppen kämpfen aktuell (Ende Juli / Anfang August 2021) gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gah und Kandahar, dessen Flughafen von den Taliban bombardiert wurde . Seit 1.8.2021 gibt es keine Flüge mehr zu und von dem Flughafen (AJ 1.8.2021). Von den 17 Distrikten Herats sind nur Guzara und die Stadt Herat unter Kontrolle der Regierung. Die übrigen Bezirke werden von den Taliban gehalten, die versuchen, in das Zentrum der Stadt vorzudringen (TN 31.7.2021; vgl. ANI 2.8.2021). Die afghanische Regierung entsendet mehr Truppen nach Herat, da die Kämpfe mit den Taliban zunehmen (ANI 2.8.2021; vgl. AJ 1.8.2021).
Zivile Opfer und Fluchtbewegungen
Zwischen 1.1.2021 und 30.6.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Juni 2021 gab es nach Angaben von UNAMA fast soviele zivile Opfer wie in den vier Monate davor (UNAMA 26.7.2021). Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) halten die Taliban hunderte Einwohner der Provinz Kandarhar fest, denen sie vorwerfen mit der Regierung in Verbindung zu stehen. Berichten zufolge haben die Taliban einige Gefangene getötet, darunter Angehörige von Beamten der Provinzregierung sowie Mitglieder der Polizei und der Armee (HRW 23.7.2021). UNOCHA zufolge wurden zwischen 1.1.2021 und 18.7.2021 294.703 Menschen in Afghanistan durch den Konflikt vertrieben (UNOCHA 22.7.2021). Noch kann keine Massenflucht afghanischer Staatsbürger in den Iran festgestellt werden, jedoch hat die Zahl der Neuankömmlinge zugenommen. Der Notstandsplan wurde bislang noch nicht aktiviert. Sollte er aktiviert werden, rechnet die iranische Regierung mit einem Zustrom vom 500.000 Menschen innerhalb von sechs Monaten, wobei davon ausgegangen wird, dass ihr Aufenthalt nur vorübergehend sein wird. UNHCR rechnet mit 150.000 Menschen innerhalb von drei Monaten (UNHCR 20.7.2021).
Weitere Entwicklungen
Die Taliban haben im Juli 2021 erklärt, dass sie der afghanischen Regierung im August ihren Friedensplan vorlegen wollen und dass die Friedensgespräche beschleunigt werden sollen (UNHCR 20.7.2021). Die afghanische Regierung hat am 25.7.2021 eine einmonatige Ausgangssperre über fast das gesamte Land verhängt, um ein Eindringen der Taliban in die Städte zu verhindern. Ausnahmen sind die Provinzen Kabul, Panjshir und Nangarhar. Die Ausgangssperre verbietet alle Bewegungen zwischen 22:00 und 04:00 (BBC 25.7.2021; vgl. TG 24.7.2021). In den von den Taliban eroberten Gebieten im Norden dürften Frauen laut Meldung vom 14.7.2021 nur vollverschleiert und mit männlicher Begleitung auf die Straße gehen (BAMF 20.7.2021; vgl. VOA 9.7.2021). Aufgrund von COVID-19 waren alle Schulen und Universitäten bis zum 23.7.2021 geschlossen (BAMF 19.7.2021; AAN 25.7.2021). Nach Angaben der für das Gesundheitsund Bildungswesen zuständigen Beamten soll die Wiedereröffnung in den Provinzen schrittweise erfolgen, je nach Ausbreitung von COVID-19 (AAN 25.7.2021). Mit 2.8.2021 werden die Flughäfen von Kabul und Mazar-e Sharif weiterhin national und international angeflogen. Der Flughafen von Herat ist national erreichbar (F 24 2.8.2021).
Quellen:
AAN - Afghan Analyst Network (25.7.2021): Schools reopen in Afghanistan after months of COVID-19 closure, https://www.aa.com.tr/en/asia-pacific/schools-reopen-in-afghanistan-aftermonths-of-covid-19-closure/2313635, Zugriff am 2.8.2021
AJ - Aljazeera (1.8.2021): Afghan forces bomb Taliban in bid to halt advance on cities, https://www.aljazeera.com/news/2021/8/1/rockets-hit-kandahar-airport-in-southernafghanistan, Zugriff am 2.8.2021
ANI - Asian News International (2.8.2021): Afghan govt deploys more troops in Herat as clashes with Taliban intensify, https://www.aninews.in/news/world/asia/afghan-govt-deploysmore-troops-in-herat-as-clashes-with-taliban-intensify20210802031342/, Zugriff am 2.8.2021
ANI - Asian News International (13.7.2021): Over 5000 families displaced by violence in Afghanistan's Kandahar, https://www.aninews.in/news/world/asia/over-5000-familiesdisplaced-by-violence-in-afghanistans-kandahar20210713192229/, Zugriff am 2.8.2021 BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (19.7.2021): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw29-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Zugriff am 2.8.2021
BBC - British Broadcasting Corporation (25.7.2021): Afghanistan curfew imposed as Taliban militants advance, https://www.bbc.com/news/world-asia-57933364, Zugriff am 2.8.2021
F 24 - Flightradar 24 (2.8.2021): https://www.flightradar24.com/34.57,69.21/8,
HRW - Human Rights Watch (23.7.2021): Afghanistan: Threats of Taliban Atrocities in Kandahar, https://www.hrw.org/news/2021/07/23/afghanistan-threats-taliban-atrocitieskandahar, Zugriff am 2.8.2021
TG - The Guardien (24.7.2021): Curfew imposed in Afghanistan to curb Taliban offensive, https://www.theguardian.com/world/2021/jul/24/curfew-imposed-in-afghanistan-tocurb-taliban-offensive, Zugriff am 2.8.2021
TN - Tolonews (31.7.2021): Taliban Gets Closer to Herat City as Clashes Intensify, https://tolonews.com/afghanistan-173868, Zugriff am 2.8.2021
UNAMA - United Nations Assistance Mission in Afghanistan (26.7.2021): Afghanistan Midyear Report On Protection Of Civilians In Armed Conflict: 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2056652/unama_poc_midyear_report_2021_26_july.pdf, Zugriff am 2.8.2021
UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (20.7.2021): Afghanistan situation: Emergency preparedness and response in Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2056773/Situation+Update+-+Afghanistan+situation+preparedness+in+Iran+-+20+July+2021.pdf, Zugriff am 2.8.2021
UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (22.7.2021): Afghanistan -Weekly Humanitarian Update, https://www.ecoi.net/en/file/local/2056663/afghanistan_humanitarian_weekly_22_july _2021.pdf, Zugriff am 2.8.2021
VOA - Voice of America (9.7.2021): Taliban Impose New Restrictions on Women, Media In Afghanistan’s North, https://www.voanews.com/extremism-watch/taliban-impose-newrestrictions-women-media-afghanistans-north, Zugriff am 2.8.2021.BFA
KI vom 19.07.2021, Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan
Sicherheitslage und Gebietskontrolle durch die Taliban
Seit dem Beginn des Abzugs der US-Truppen und anderer Koalitionskräfte am 1.5.2021 kam es zu mehr Kampfhandlungen als in den Monaten zuvor (s. Abb., Anm.; ACLED o.D.) Nach Einschätzung des Long War Journal vom 13.7.2021 kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte in Afghanistan. Am 3.6.2021 waren es noch 90 Distrikte (LWJ 13.7.2021). Das Afghan Analysts Network schätzt, dass sich mit Stand 16.7.2021 229 Distriktzentren in den Händen der Taliban befinden. Nur in vier Provinzen sind die Distriktzentren noch vollständig in Regierungshand: Kabul, Panjshir, Kunar und Daikundi. Einige Gebiete konnten von der Regierung zurückerobert werden (AAN 16.7.2021; vgl. REU 8.7.2021) Wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat (BBC 10.7.2021; vgl. DW 14.7.2021, TN 13.7.2021) sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh (AJ 15.7.2021; vgl. AP 15.7.2021), wurden im Juli durch die Taliban erobert. Berichten zufolge haben die Taliban außerdem die Kontrolle über den afghanisch-pakistanischen Grenzort Spin Boldak (Dawn 18.7.2021; vgl. France 24 17.7.2021). Anfang Juli flohen mehr als 1.000 afghanische Sicherheitskräfte über die Grenze nach Tadschikistan, als sie von den Taliban attackiert wurden (BBC 10.7.2021; vgl. RFE/RL 7.7.2021). Turkmenistan hat Anfang Juli begonnen, schwere Waffen, Hubschrauber und andere Flugzeuge näher an die Grenze zu Afghanistan zu verlegen, und in der Hauptstadt werden Reservisten in Alarmbereitschaft versetzt (RFE/RL 11.7.2021).
Truppenabzug
Nach Angaben von US-Präsident Biden wird der Truppenabzug am 31.8.2021 abgeschlossen sein. Er verpflichtete sich, Tausende von afghanischen Übersetzern und ihre Familien, die an der Seite der USA arbeiteten, schnell zu evakuieren, und sagte, dass der Zeitplan für die Bearbeitung spezieller Einwanderungsvisa "dramatisch beschleunigt" worden sei. Und er sagte, die USA würden weiterhin zivile und humanitäre Hilfe leisten und sich auch für die Rechte von Frauen und Mädchen einsetzen (WH 8.7.2021). Anfang Juli wurde die Bagram-Airbase in der Provinz Parwan an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben (RFE/RL 11.7.2021, BBC 10.7.2021, AJ 2.7.2021).
Angriff auf Zivilisten / gezielte Tötungen
Es kommt weiterhin zu Angriffen auf und gezielten Tötungen von Zivilisten. Seit dem Beginn der Friedensgespräche in Doha im vergangenen Jahr sind vor allem Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von gezielten Tötungen gewesen (AI 16.6.2021). So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams (AP 15.6.2021; vgl. VOA 15.6.2021) und zehn Minenräumer getötet (AI 16.6.2021; vgl. AJ 16.6.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 2.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021)
COVID-19
Die Delta-Variante treibt Beobachtern zufolge die Covid-19-Infektionen in Afghanistan in die Höhe, wobei die Dunkelziffer an Fällen weiterhin als sehr hoch geschätzt wird. Krankenhäuser kommen weiterhin an ihre Belastungsgrenze und es sind nicht genug Betten vorhanden um neue Covid-19 Patienten zu behandeln (DW 17.6.2021; vgl. USAID 11.6.2021) Gesundheitseinrichtungen berichten auch von Engpässen bei medizinischem Material und Sauerstoff (USAID 11.6.2021). Schulen und Universitäten sind weiterhin geschlossen (DW 17.6.2021; vgl. VOA 13.7.2021) und es gibt Berichte, wonach sich Menschen nicht streng an die Vorgaben halten und häufig keine Masken tragen (DW 17.6.2021; vgl. VOA 13.7.2021). Anfang Juli erreichten mehr als 1,4 Millionen Impfdosen des Herstellers Johnson & Johnson Afghanistan. Die Impfraten in Afghanistan sind nach wie vor extrem niedrig, weniger als 4% der Bevölkerung sind geimpft (UNICEF 9.7.2021).
Quellen:
AAN – Afghanistan Analysts Network (16.7.2021): Menace, Negotiation, Attack: The Taleban take more District Centres across Afghanistan, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/menace-negotiation-attackthe-taleban-take-more-district-centres-across-afghanistan/, Zugriff 15.7.2021
ACLED - Armed Conflict Location and Event Data (3.2020): ACLED Methodology and Coding Decisions around the Conflict in Afghanistan, https://acleddata.com/acleddatanew/wpcontent/uploads/dlm_uploads/2019/01/ACLED_Methodology-and-Coding-Decisions-Aroundthe-Conflict-in-Afghanistan_Mar2020_update.pdf Zugriff 29.10.2020
ACLED - Armed Conflict Location and Event Data (o.D.): ACLED Dashboard, https://acleddata.com/dashboard/#/dashboard, Zugriff 15.7.2021
AI - Amnesty International (16.6.2021): Afghanistan: Deliberate killing of civilians must be investigated following deadly attacks, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/06/afghanistan-deliberate-killing-of-civiliansmust-be-investigated-following-deadly-attacks/, Zugriff 15.7.2021
AJ - Aljazeera (15.7.2021): Afghan gov’t claims it retook border crossing, Taliban denies, https://www.aljazeera.com/news/2021/7/15/afghan-govt-says-pakistan-border-crossingretaken-from-taliban, Zugriff 19.7.2021
AJ - Aljazeera (14.7.2021): Taliban claims capturing key Afghan border crossing with Pakistan, https://www.aljazeera.com/news/2021/7/14/taliban-claims-capturing-key-afghanborder-crossing-with-pakistan, Zugriff 15.7.2021
AJ - Aljazeera (2.7.2021): US forces leave Afghanistan’s Bagram airbase after 20 years, https://www.aljazeera.com/news/2021/7/2/us-bagram-airbase-afghanistan-taliban, Zugriff 15.7.2021
AJ - Aljazeera (27.6.2021): Afghanistan: Thousands flee fighting between government, Taliban, https://www.aljazeera.com/news/2021/6/27/thousands-displaced-as-governmenttaliban-fight-near-afghan-city, Zugriff 16.7.2021
AJ - Aljazeera (16.6.2021): Afghan deminers to „continue to save lives“ despite deadly attack, https://www.aljazeera.com/news/2021/6/16/afghanistan-deminers-save-lives-deadly-attack, Zugriff 15.7.2021
AP - Associated Press (15.7.2021): US, Afghan’s neighbors scramble to address Taliban surge, https://apnews.com/article/joe-biden-europe-middle-east-taliban-55fd9fcfdf898adf354c1205b53e9da7, Zugriff 19.7.2021
AP - Associated Press (15.6.2021): Attacks target polio teams in east Afghanistan, 5 killed, https://apnews.com/article/islamic-state-group-afghanistan-healthabb11349fe3e901af49cd2f301ecbe1e, Zugriff 15.7.2021
BBC - British Broadcasting Corporation (10.7.2021): Taliban capture key Afghanistan border crossings, https://www.bbc.com/news/world-asia-57773120, Zugriff 15.7.2021 Dawn (18.7.2021): Pakistan reopens Afghan border at Chaman, https://www.dawn.com/news/1635735/pakistan-reopens-afghan-border-at-chaman, Zugriff 19.7.2021
DW - Deutsche Welle (17.6.2021): Die COVID-Tragödie in Afghanistan, https://www.dw.com/de/die-covid-tragödie-in-afghanistan/a-57935378, Zugriff 15.7.2021
DW - Deutsche Welle (14.7.2021): Taliban capture key Afghan border point - reports, https://www.dw.com/en/taliban-capture-key-afghan-border-point-reports/a-58258412, Zugriff 15.7.2021
France 24 (17.7.2021): Border crossing between Pakistan and Afghanistan reopens after Taliban seizure, https://www.france24.com/en/live-news/20210717-border-crossing-betweenpakistan-and-afghanistan-reopens-after-taliban-seizure, Zugriff 19.7.2021 LWJ – Long War Journal (13.7.2021): Mapping Taliban Contested and Controlled Districts in Afghanistan, https://www.longwarjournal.org/mapping-taliban-control-in-afghanistan, Zugriff 15.7.2021
REU - Reuters (14.7.2021): Afghan Taliban seize border crossing with Pakistan in major advance, https://www.reuters.com/world/asia-pacific/taliban-claims-control-key-afghan-bordercrossing-with-pakistan-2021-07-14/, Zugriff 15.7.2021
REU - Reuters (8.7.2021): Afghan forces say Taliban being driven out of western city, https://www.bbc.com/news/world-asia-57748695, Zugriff 19.7.2021
RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (7.7.2021): Some 600 Afghan Soldiers Repatriated After Fleeing To Tajikistan, https://www.ecoi.net/en/document/2055530.html, Zugriff 15.7.2021
RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (11.7.2021): Turkmenistan Sending Heavy Weaponry, Aircraft To Afghan Border Amid Deteriorating Security, https://www.ecoi.net/en/document/2055880.html, Zugriff 15.7.2021
RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (26.6.2021): Thousands Of Afghan Families Displaced As Fight For Kunduz Rages, https://gandhara.rferl.org/a/afghanistan-thousandsdisplace-kunduz-battle/ 31327577.html, Zugriff 15.7.2021
TN - Tolonews (13.7.2021): Taliban Restores Customs Activities in Key Border Areas, https://tolonews.com/business-173496, Zugriff 15.7.2021
TN - Tolonews (1.7.2021): June Deadliest Month in Afghanistan in Two Decades, https://tolonews.com/afghanistan-173225, Zugriff 15.7.2021
UNICEF - United Nations Children’s Fund (UNICEF 9.7.2021): 1.4 million doses of COVID-19 vaccine arrive in Afghanistan through COVAX global dose-sharing mechanism, https://www.unicef.org/press-releases/14-million-doses-covid-19-vaccine-arrive-afghanistanthrough-covax-global-dose, Zugriff 15.7.2021
USAID – United States Agency for International Development (11.6.2021): Afghanistan – Complex Emergency, https://www.usaid.gov/sites/default/files/documents/06.11.2021_-_USG_Afghanistan_Fact_Sheet_2.pdf, Zugriff 15.7.2021
VOA - Voice of America (13.7.2021): Pandemic Halts Schooling for Afghan Students, https://www.voanews.com/student-union/pandemic-halts-schooling afghan students, Zugriff 15.7.2021
VOA - Voice of America (15.6.2021): Gunmen Kill 5 Polio Vaccinators in Afghanistan, https://www.voanews.com/south-central-asia/gunmen-kill-5-polio-vaccinators-afghanistan, Zugriff 15.7.2021
WH - White House, The [USA] (8.7.2021): Remarks by President Biden on the Drawdown of U.S. Forces in Afghanistan, https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speechesremarks/2021/07/08/remarks-by-president-biden-on-the-drawdown-of-u-s-forces-inafghanistan/, Zugriff 19.7.2021
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).
Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).
Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID- 19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt.
Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020).
Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu wasche