TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/20 W191 2186101-1

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Veröffentlicht am 20.10.2021
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Entscheidungsdatum

20.10.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W191 2186101-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch KOCHER & BUCHER Rechtsanwälte OG, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.01.2018, Zahl 1088583107-151423948, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.09.2021 zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 wird XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 23.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

1.2. Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass der BF in den Niederlanden am 21.10.2007 und 04.01.2010 sowie in Großbritannien am 17.03.2014 Asylanträge gestellt hatte und in Griechenland am 04.09.2015 erkennungsdienstlich behandelt worden war.

1.3. In seiner Erstbefragung am 24.09.2015 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache „Afghanisch“ im Wesentlichen an, dass er aus Kunduz stamme, Angehöriger der Volksgruppe der Bayat sei, schiitischer Moslem gewesen und verheiratet sei. Seine Muttersprache sei Dari. Er habe vier Jahre lang die Grundschule in Afghanistan besucht und sei als Schneider erwerbstätig gewesen. Seine Familienangehörigen würden in Afghanistan leben.

Auf Vorhalt der EURODAC-Treffer brachte der BF vor, dass er in den Niederlanden um Asyl angesucht habe und von 2007 bis 2013 dort gelebt habe. Das Asylverfahren sei negativ entschieden worden. Anschließend sei er nach Großbritannien gezogen. Dort sei er in Haft gewesen und im Jahr 2014 nach Afghanistan abgeschoben worden.

Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der BF an, dass er bedroht worden sei und sich in Gefahr befunden habe. In den Niederlanden sei er zum Christentum konvertiert. Jene Personen, mit denen er in Großbritannien im Gefängnis gewesen bzw. von dort aus abgeschoben worden sei, hätten gewusst, dass er konvertiert sei. Deswegen würde sich der BF nicht mehr in seine Heimat trauen. In Afghanistan sei er telefonisch und von Personen in seinem Umfeld bedroht worden.

1.4. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) führte aufgrund der Übereinstimmung bei der EURODAC-Abfrage Konsultationen gemäß Dublin-Übereinkommen mit dem Mitgliedstaat Großbritannien bezüglich der Zuständigkeit für das Asylverfahren des BF, die negativ verliefen.

1.5. Bei seiner Einvernahme am 21.09.2017 vor dem BFA, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari und seines bevollmächtigten Vertreters, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben. Er verwies auf Fehler im Protokoll der Erstbefragung.

Der BF legte Belege zu seinem Fluchtvorbringen (Drohbrief der Taliban) und zu seiner Integration (Dienstvertrag, Zwischenzeugnis, Lohn-Gehaltsabrechnung, AMS Bescheide Beschäftigungsbewilligung, Mietvertrag, Mietbestätigung, Bestätigung der Wohnungsübergabe, Meldebestätigung, Bestätigung der Haushaltsgemeinschaft, Bestätigung über seine Teilnahme am Deutschtraining, Unterstützungsschreiben), den ablehnenden Asylbescheid von Großbritannien sowie einen neurologischen Befundbericht vor.

Der BF gab an, er sei verlobt gewesen, dies sei jedoch nicht mehr aufrecht. Befragt zu seinem Religionsbekenntnis gab der BF an, schiitischer Moslem gewesen zu sein. Im Jahr 2010 sei er aber zum Christentum konvertiert und nunmehr Protestant. Mit seinen Eltern, seinem Bruder und einer Schwester in Afghanistan stehe er in Kontakt.

Befragt zu seinen Fluchtgründen brachte der BF vor, dass er im Alter von 17 Jahren nach Europa gereist sei und in den Niederlanden um Asyl angesucht habe. Im Jahr 2010 sei er zum Christentum konvertiert und habe sich in einer protestantischen Kirche taufen lassen. Er sei nur ein- bis zweimal im Monat in die Kirche gegangen, weil er die niederländische Sprache schlecht verstanden habe. Nach seinem negativen Asylbescheid sei er im Jahr 2013 nach Großbritannien gereist, wo er ebenfalls um Asyl angesucht habe. Sein Asylantrag sei abgewiesen worden, weswegen sie ihn zwangsweise nach Afghanistan überstellt hätten. In Großbritannien habe er im Gefängnis mit zwei weiteren Häftlingen gemeinsam gebetet. Es seien dort aber viele Afghanen gewesen, vor denen er im Falle der Rücküberstellung Angst gehabt habe.

Zurück in seiner Heimatprovinz Kunduz habe er bei seinen Eltern gewohnt und als Schneider gearbeitet. Seine Konversion habe er verheimlicht, weil er sonst mit dem Tode bestraft worden wäre. Er habe sich in Gesprächen aber gegen den Islam ausgesprochen. Es habe Diskussionen geben, weil er im Ramadan nicht gefastet habe, und die Kunden der Schneiderei hätten bemerkt, dass er nicht bete. Eines Tages sei ein Kommandant der Taliban in die Schneiderei gekommen und habe dem BF religiöse Fragen gestellt sowie Fragen zur Kleidung für das Militär, das der BF genäht habe. Der BF vermute, dass jemand dem Taliban-Kommandanten verraten hätte, dass er die religiösen Gepflogenheiten nicht einhalte.

Nach diesem Vorfall sei er einige Tage nicht in die Arbeit gegangen. In dieser Zeit sei der Kommandant der Taliban in Begleitung zurückgekehrt und habe nach dem BF gefragt. Ein Arbeitskollege habe dies dem Vater des BF erzählt, woraufhin dieser beschloss, dass der BF Kunduz verlassen müsse, weil sein Leben in Gefahr sei. Der BF sei nach Mazar-e Sharif gegangen und habe binnen zwei Wochen Afghanistan verlassen. Zwischenzeitig seien die Taliban noch öfter in die Schneiderei gekommen und hätten seinem Kollegen Drohbriefe übergeben. Sie hätten gesagt, dass der BF ungläubig sei und gegen die Taliban propagiere. Im Falle einer Rückkehr würden ihn die Taliban töten.

Zu seiner Integration in Österreich befragt gab der BF an, dass er seit dem Jahr 2016 in einem Restaurant als Kochhilfe arbeite und Deutsch lerne. Er habe österreichische Freunde bzw. Arbeitskollegen, mit denen er sich nach der Arbeit treffe, Billard spiele und ein Bier trinke.

In Österreich lese der BF die Bibel in seiner Muttersprache und bete. Arbeitsbedingt habe er aber keine Zeit, die Kirche zu besuchen. Dem BF wurden vom BFA auch Wissensfragen zum Christentum und Fragen zu seiner inneren Überzeugung gestellt.

Dem BF wurden „mit Quellenangaben versehene landeskundliche Feststellungen zum Staat Afghanistan“, darunter zwei Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation des BFA zum Themenkreis Konversion und Apostasie, zur Kenntnis gebracht. Ihm wurde die Gelegenheit der Abgabe einer Stellungnahme binnen vier Wochen eingeräumt.

1.6. Mit Schreiben vom 16.10.2017 erstattete der BF durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme. Vorgebracht wurde zum einen, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan verfolgt bzw. getötet werden würde, weil die Konversion als Apostasie sowie als Verbrechen gegen den Islam gelte und mit dem Tode bestraft werde. Konvertiten würden sich öffentlich nicht bekennen, und es gebe auch keine Möglichkeit, die Religion außerhalb des häuslichen Rahmens auszuüben. Zum anderen sei die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan schlecht. Aufgrund seiner umfassenden Kenntnisse über die christliche Religion habe der BF glaubhaft gemacht, dass er zum Christentum konvertiert sei. Seine Taufe habe am 06.12.2009 in einer protestantischen Kirche stattgefunden.

Zum Beweis der Konversion des BF wurde das Schreiben eines Pastors aus den Niederlanden vom 30.12.2009 und zwei Fotos, zeigend den BF bei seiner Taufe, in Vorlage gebracht.

Laut der vom BFA veranlassten Übersetzung bestätigt der Pastor in seinem Schreiben, dass der BF zum christlichen Glauben gefunden habe und getauft worden sei.

1.7. Der BF brachte eine Kopie seiner Tazkira (afghanisches Personaldokument) beim BFA in Vorlage.

1.8. Mit Schreiben vom 23.11.2017 wurde dem BFA der negative Beschluss im Asylverfahren des BF in den Niederlanden übermittelt.

1.9. Mit Bescheid vom 12.01.2018 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 23.09.2015 ab und erkannte ihm weder gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) noch gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt II.). Das BFA erteilte dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (in der Folge BFA-VG) wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.). Zudem stellte das BFA gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse – im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen – glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Das Fluchtvorbringen des BF beurteilte das BFA als unglaubhaft. Seine Angaben zur Bedrohung durch die Taliban seien sehr vage, wenig detailreich, widersprüchlich und nicht plausibel. Der BF habe auch seine Konversion zum Christentum nicht glaubhaft gemacht. Der innere Entschluss des BF, sich dem Christentum hinzuwenden, wirke nicht gefestigt genug. Zudem sei aufgrund des geringen Wissensstandes des BF nicht zu erwarten, dass er sich intensiv mit dem christlichen Glauben auseinandergesetzt habe und sich in weiterer Folge ernsthaft und nachhaltig dem Christentum zugewandt habe bzw. im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in das Blickfeld der Behörden oder radikaler Moslems geraten oder missionierend tätig sein würde.

Zwar sei die Sicherheitslage in der Heimatprovinz des BF volatil. Es sei dem BF aber zumutbar, sich u.a. in Kabul niederzulassen. Kabul sei laut den Länderfeststellungen sicher erreichbar. Außerdem verfüge der BF über in Kunduz, Mazar-e Sharif und Kabul ansäßige Familienangehörige.

1.10. Gegen diesen Bescheid erhob der BF mit Schreiben seines Vertreters vom 09.02.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und „Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften“.

In der Beschwerdebegründung wurde zusammengefasst ausgeführt, dass der BF glaubhaft vorgebracht habe, dass er sich dem Islam ab- und dem Christentum zugewandt habe. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wäre der BF aufgrund dessen asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt. Es müsse in Zusammenhang mit der Beurteilung der Glaubhaftigkeit seines Vorbringens ebenfalls sein niedriger Bildungsstand berücksichtigt werden. Auch wenn die Konversion des BF in Afghanistan nicht öffentlich bekannt worden sei, treffe dies jedoch auf seine Ablehnung des Islam zu. Da Rückkehrer aus westlichen Ländern dahingehend genau beobachten würden, wäre der BF einer besonderen Gefahr ausgesetzt. Es folgten Auszüge aus diversen Berichten. Weiters bestehe für den BF keine innerstaatliche Fluchtalternative und wäre er im Falle einer Rückkehr auf sich alleine gestellt. Dem BF sei Asyl, jedenfalls subsidiärer Schutz zuzuerkennen.

Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

1.11. Das BFA legte mit Schreiben vom 13.02.2018 die Beschwerde samt Verwaltungsakt dem BVwG vor.

1.12. Mit Schreiben des BFA vom 09.08.2018 wurde die Beschäftigungsbewilligung des AMS für den BF als Saisonarbeitskraft nachgereicht.

1.13. Mit Schreiben des BFA vom 03.12.2019 wurde der Abschlussbericht der LPD Salzburg vom 18.11.2019 über die getätigten Ermittlungen gegen den BF wegen des Verdachtes der Begehung einer strafbaren Handlung nachgereicht.

Mit Schreiben des BFA vom 10.03.2020 wurde der Bericht der LPD Oberösterreich vom 06.03.2020 wegen erster allgemeiner Hilfeleistung nach § 19 Sicherheitspolizeigesetz (SPG) betreffend den BF nachgereicht.

Mit Schreiben des BFA vom 20.04.2020 wurde die Verständigung des Landesgerichtes Salzburg von der Hauptverhandlung zu 38 Hv 158/19y vom 16.04.2020 nachgereicht.

Mit Schreiben des BFA vom 23.12.2020 wurde das Urteil des Landesgerichtes Salzburg vom 28.05.2020, 38 Hv 158/19y, nachgereicht. Aus diesem Strafurteil ergibt sich, dass der Vorfallsgegner des BF rechtskräftig verurteilt und der BF vom gegen ihn erhobenen Vorwurf der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 Strafgesetzbuch (StGB) freigesprochen wurde.

1.14. Auf Grund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des BVwG wurde die gegenständliche Rechtssache der vormals zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.

1.15. Mit Eingabe seines gewillkürten Vertreters vom 20.09.2021 brachte der BF diverse Belege betreffend seine Integration, das Urteil des Landesgerichtes Salzburg vom 28.05.2020, das Berufungsurteil des Oberlandesgerichtes Linz vom 26.11.2020 sowie medizinische Unterlagen in Vorlage.

1.16. Das BVwG führte am 27.09.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF mit seinem gewillkürten Vertreter und einer Vertrauensperson persönlich erschien. Das BFA verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an einer Beschwerdeverhandlung und stellte keinen Antrag, die Beschwerde abzuweisen.

Der BF bestätigte die Richtigkeit seiner bisherigen Angaben. Er gab an, dass er in Afghanistan, Distrikt Bandar Emam, Provinz Kunduz, geboren und aufgewachsen sei. Er habe vier Jahre lang die Schule besucht und als Schneider gearbeitet.

Mit seinen Verwandten stehe er seit drei Jahren nicht mehr in Kontakt, er kenne auch nicht ihren genauen Aufenthaltsort.

Befragt zu seinen Fluchtgründen hielt der BF grundsätzlich seine Angaben vor dem BFA aufrecht. Von seiner Konversion habe er in Afghanistan niemandem erzählt, weil es Selbstmord gewesen wäre. Seine Eltern wüssten auch nichts davon. In Österreich habe er zweimal die Kirche besucht. Er würde gerne die Kirche besuchen, arbeite jedoch am Wochenende und bekomme nicht frei.

Der BF beantwortete Fragen zu seiner Motivation, seiner Einstellung und seinem Wissen zum Christentum.

Die Vertrauensperson des BF wurde als zusätzliches Beweismittel befragt. Diese gab an, der BF sage etwa, dass er Gott dankbar sei, wenn sie ein gutes Gespräch gehabt hätten. Sie würden auch oft über kirchengeschichtliche Fragen diskutieren.

Zu einer Integration in Österreich befragt führte der BF aus, dass er viele Bekannte in Österreich habe. Er habe einen Deutschkurs auf Niveau A1 besucht und an einem Deutschtraining teilgenommen. Seit fünf Jahren arbeite er mit Unterbrechungen, bedingt durch die Pandemie und die Saisonarbeit, als Küchenhilfe in einem Restaurantbetrieb. Aufgrund seiner Arbeitszeiten könne er weder sozialen noch kulturellen Aktivitäten nachgehen.

Der BF legte bezüglich seiner Integration eine Bestätigung über seine Teilnahme an einem Deutschkurs A1 vor.

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt. Es hat keine Stellungnahme abgegeben.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

?        Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 24.09.2015 und der Einvernahme vor dem BFA am 21.09.2017, die vom BF vorgelegten Bescheinigungsmittel des BF, den angefochtenen Bescheid sowie die gegenständliche Beschwerde

?        Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA, Aktenseiten 509 bis 599)

?        Einvernahme des BF als Partei sowie Befragung seiner anwesenden Vertrauensperson als zusätzliches Auskunftsmittel gemäß § 46 AVG im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 27.09.2021 sowie Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren vorgelegten Belege zu seiner Integration in Österreich und zu seinem Gesundheitszustand

?        Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 27.09.2021 zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

o        Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat, über regierungsfeindliche Gruppierungen, über die Religionsfreiheit und über die medizinische Versorgung (Auszüge aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA, Stand 02.04.2021)

o        Sonderkurzinformation der Staatendokumentation [des BFA] vom 17.08.2021 zur aktuellen Lage in Afghanistan

o        Kurzinformation der Staatendokumentation [des BFA] vom 20.08.2021 zu akutellen Entwicklungen und Informationen in Afghanistan

o        UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan von August 2021

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Das BVwG geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen, glaubhaft gemachten Sachverhalt aus:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Bayat an und ist in einer schiitischen islamischen Familie aufgewachsen. Seit seinem Aufenthalt in den Niederlanden interessiert er sich für das Christentum und hat sich im Jahr 2009 christlich-evangelisch taufen lassen. Er ist ledig. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er spricht zudem etwas Englisch, Deutsch und Holländisch.

In Afghanistan leben die Eltern des BF, sein Bruder und seine zwei Schwestern. Der BF steht mit diesen nicht in Kontakt.

3.1.2. Der BF ist im Distrikt Bandar Emam, Provinz Kunduz, geboren und aufgewachsen. Er besuchte vier Jahre lang in Afghanistan die Schule und arbeitete anschließend als Schneider.

Als Jugendlicher ist der BF in die Niederlande gereist und hat dort im Jahr 2007 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Er war dort einige Jahre aufhältig. Nachdem sein Asylantrag abgewiesen worden ist, ist er nach Großbritannien gezogen. Von dort ist er im Jahr 2014 nach Afghanistan abgeschoben worden.

3.1.2. Der BF verließ Afghanistan aus angegebenen Gründen und reiste nach Europa, wo er am 23.09.2015 in Österreich gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Der BF wurde in einer schiitisch-muslimischen Familie geboren. Er hat zu einem gewissen Grad Denk- und Verhaltensweisen angenommen, die in Europa verbreitet sind und der gängigen Denk- und Verhaltensweise in Afghanistan widersprechen, so etwa im Hinblick auf die Beurteilung der Religion.

Der BF hat angegeben, dass er nunmehr evangelischer Christ sei. Der BF ist in den Niederlanden mit dem Christentum in Berührung gekommen und hat dort Gottesdienste besucht. Diesen konnte er eigenen Angaben zufolge aufgrund der Sprachbarriere schwer folgen. Im Jahr 2009 wurde er in den Niederlanden christlich-evangelisch getauft.

Der BF verfügt über Wissen über den christlichen Glauben. Jedoch tritt die Glaubensüberzeugung des BF kaum nach außen hin in Erscheinung, denn der BF besucht weder Gottesdienste, noch nimmt er an sonstigen religiösen Aktivitäten teil.

Der BF hat nicht glaubhaft machen können, dass ihm die reale Gefahr drohe, im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auf Grund einer Konversion vom Islam zum Christentum von anderen Personen getötet zu werden, weil er nach der dort allgemein vorherrschenden Ansicht als Moslem (Schiit) nicht die Religion wechseln hätte dürfen. Er hat nicht glaubhaft machen können, dass er gewillt ist, im Fall der Rückkehr den christlichen Glauben offen und nach außen hin erkennbar auszuüben, eine Konversion zum Christentum nicht zu widerrufen und nicht wieder zum Islam überzutreten.

3.2.2. Ebenso hat der BF sein Vorbringen, dass er in Afghanistan von den Taliban bedroht worden sei und ihm im Falle seiner Rückkehr asylrelevante Verfolgung drohe, nicht hinreichend glaubhaft gemacht.

3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

3.3.1. Es konnte vom BF nicht glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung – etwa aus den oben in Punkt 3.2. angeführten Gründen – aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.

3.3.2. Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein relevanter Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig.

Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land, und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.

Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Es liegen keine Gründe vor, nach denen der BF von der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auszuschließen wäre.

3.4. Zur Integration des BF in Österreich:

3.4.1. Der BF ist seit September 2015 in Österreich aufhältig. Er ist als relativ junger Mann nach Österreich gekommen und bemüht sich um seine Integration in Österreich.

Der BF arbeitet als Saisonarbeiter in der Gastronomie. Er hat an einem Deutschtraining und an einem Deutschkurs auf Niveau A1 teilgenommen.

3.4.2. Der BF ist irregulär in das Bundesgebiet eingereist. Das Vorliegen schwerwiegender Verwaltungsübertretungen ist nicht bekannt. Er ist strafgerichtlich unbescholten.

3.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

3.5.1. Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 02.04.2021 (Schreibfehler teilweise korrigiert):

„[…]

COVID-19

Letzte Änderung: 31.03.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation, bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.09.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.01.2021; cf. UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.02.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.03.2021; vgl. HRW 14.01.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 08.02.2021; cf. IOM 18.03.2021).

Die Infektionen steigen weiter an, und bis zum 17.03.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.03.2021; WHO 17.03.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.03.2021)

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.03.2021; vgl. WB 28.06.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.03.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.03.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße, und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.03.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus, und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.03.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 08.02.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 03.06.2020; vgl. Guardian 02.05.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Mio. Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Mio. Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021, IOM 18.03.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.01.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.02.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.02.2021 begonnen (IOM 18.03.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 300-500 Afghani (AFN) (IOM 18.03.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.01.2021, AA 16.07.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 08.02.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.03.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.09.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.03.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 01.01.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.09.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 18.02.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.09.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.07.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11% über dem des Vorjahres und 27% über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.03.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.03.2021; vgl. WB 15.07.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.09.2020; vgl. AA 16.07.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.09.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.09.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.03.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.03.2021).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.09.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen (IOM 23.09.2020). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.03.2021). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt (IPS 12.11.2020; cf. UNAMA 10.08.2020). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; cf. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.08.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (HRW 13.01.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, AAN 01.10.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto 11.2020; vgl. HRW 13.01.2021, AAN 01.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.08.2020; vgl. NYT 31.07.2020, IMPACCT 14.08.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.03.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.07.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen, und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.03.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.03.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.07.2020). Von 01.01.2020 bis 22.09.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.09.2020). Mit Stand 18.03.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.03.2021).

[…]

Regierungsfeindliche Gruppierungen

Letzte Änderung: 01.04.2021

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019).

Taliban

Letzte Änderung: 25.02.2021

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019), und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.05.2020, AnA 28.07.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020).

Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jalaluddin Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020, RFE/RL 02.06.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.04.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 05.03.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 09.06.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen absolviert haben und ethnische Paschtunen sind (EASO 8.2020c; vgl. Osman 01.06.2020). Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 (EASO 8.2020c; vgl. NYT 12.09.2019) oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020, UNSC 27.05.2020). Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).

Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40% zurückgegangen. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte sein, dass keine komplexen und Selbstmordattentate in den großen Städten des Landes durchgeführt werden. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.01.2021).

Haqqani-Netzwerk

Letzte Änderung: 26.02.2021

Das formell 1996 gegründete Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation (ASP 01.09.2020), Bestandteil der Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.05.2020). Es verfügt über Kontakte zum IS/ISKP (EASO 8.2020c; vgl RA KBL 12.10.2020). Das Netzwerk ist nach seinem Gründer Jalaluddin Haqqani benannt (CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist sein Sohn Serajuddin Haqqani [auch Sirajuddin Haqqani] (EASO 8.2020c; cf. UNSC 27.05.2020).

Als von den US-Truppen und der afghanischen Armee als „tödlichste und ausgefeilteste Aufständischengruppe in Afghanistan“ (ASP 01.09.2020) bzw. „gefährlichster“ Arm der Taliban bezeichnet, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.02.2019). Das Netzwerk ist vor allem in den südlichen und östlichen Teilen des Landes und in den Provinzen Paktika, Helmand, Kandahar und Khost (RA KBL 12.10.2020; vgl. EASO 8.2020) sowie in Paktia und Teilen Ghaznis aktiv (ASP 01.09.2020; vgl. TD 31.12.2019).

Die afghanische Regierung entließ drei führende Mitglieder des Netzwerks im Zuge des Gefangenenaustausches im November 2019 (RA KBL 12.10.2020; vgl. NYT 19.11.2019, BBC 19.11.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Letzte Änderung: 25.02.2021

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 01.08.2017; vgl. LWJ 04.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.06.2019) bzw. 4.000 und 5.000 Kämpfern (EASO 8.2020c). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (VOA 21.05.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburgen in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.03.2020; vgl. RA KBL 12.10.2020), da sich jahrelang die Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese konzentrierten. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in dieser Region (SIGAR 30.01.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.02.2020; vgl. MT 27.02.2020). Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 02.12.2019; vgl. SIGAR 30.01.2020), wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020, UNGASC 17.03.2020). Der islamische Staat soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.03.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020) und 300 Kämpfer reduziert (NYT 02.12.2019).

Angriffe des ISKP gingen zurück, aber die Gruppe war für mehrere tödliche Bombenanschläge verantwortlich (HRW 13.01.2021). 49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 08.11.2019-06.02.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.03.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.03.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 02.12.2019).

Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.02.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.08.2019; vgl. AP 19.08.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.08.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.08.2019).

Angesichts der Aufnahme von Gesprächen der Taliban mit den USA predigte der ISKP seine Mission weiterhin als eine reinere Form des Dschihad im Gegensatz zur Öffnung der Taliban für US-Gespräche (EASO 8.2020c; vgl. SaS 10.02.2020). Nach Angaben der UNO zielt ISKP darauf ab, von den Taliban und Al-Qaida abtrünnige Rekruten zu gewinnen, insbesondere solche, die sich jeglichen Vereinbarungsgesprächen mit den US-amerikanischen oder afghanischen Regierungen widersetzen (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020).

Am 04.04.2020 verhaftete die Nationale Sicherheitsdirektion Afghanistans (NDS) den IS-Führer in Afghanistan (AnA 30.04.2020; vgl. HRW 06.04.2020). Die Gruppe ist jedoch immer noch aktiv und führt weiterhin Angriffe durch (DW 03.08.2020; vgl. AVA 01.01.2020).

Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission), ist die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von ISKP-Angriffen im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 21% gesunken. Die Gesamtzahl der durch ISKP-Angriffe in Afghanistan im Jahr 2020 Getöteten oder verletzten Zivilisten beträgt 403; während die Gesamtzahl der durch ISKP in Afghanistan im Jahr 2019 Getöteten oder verletzten Zivilisten 515 betrug (AIHRC 28.01.2018).

Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen

Letzte Änderung: 26.02.2021

Gemäß UNO-Bericht vom Mai 2020 ist Al-Qaida in 12 Provinzen mit 400-600 Bewaffneten verdeckt aktiv (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020).

Al-Qaida unterhält Beziehungen zu den Taliban und eine begrenzte Präsenz in Afghanistan (UNSC 27.05.2020), wobei sie ihre Aktivitäten meist unter dem Dach anderer AGEs, insbesondere der Taliban, durchführt (UNAMA 22.02.2020; vgl. EASO 8.2020c). Nach Ansicht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen stellen Al-Qaida und andere ausländische Terroristen, die unter dem Schutz und Einfluss der Taliban stehen, eine langfristige globale Bedrohung dar (UNSC 20.01.2020). Während in der Vergangenheit beide Gruppierungen immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont hatten (UNSC 15.01.2019), bestritten die Taliban kürzlich, Verbindungen zu Al-Qaida zu haben, und gingen nach dem US-Abkommen im Juni 2020 so weit zu leugnen, dass Al-Qaida in Afghanistan überhaupt existiert (LWJ 15.06.2020; vgl. EASO 8.2020c). Im Zuge des US-Taliban-Abkommen haben die Taliban zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020, EASO 8.2020c).

Im Oktober 2020 wurde der ranghohe Al-Qaida-Chef Abu Muhsin al-Masri von einer Spezialeinheit der afghanischen Streitkräfte in Ghazni in einem Dorf, welches unter Talibankontrolle steht, getötet. Die afghanische Regierung sieht darin einen eindeutigen Beweis, dass die Taliban ungeachtet der laufenden Friedensverhandlungen nach wie vor enge Beziehungen zu Terrorgruppen pflegen (DW 25.10.2020; vgl. NZZ 24.10.2020, VOA 10.11.2020), und nach Angaben der Vereinten Nationen ist Al-Qaida immer noch stark in die Taliban in Afghanistan eingebettet (BBC 29.10.2020; vgl. AnA 02.06.2020). Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen (FAZ 29.01.2021).

Rekrutierung durch regierungsfeindliche Gruppierungen

Letzte Änderung: 01.04.2021

Taliban

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: Sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban, enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anm.: militant

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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