TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/21 W109 2203434-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.10.2021
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Entscheidungsdatum

21.10.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W109 2203434-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BÜCHELE über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, vom 18.07.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.03.2021 zu Recht:

A)       

I.       Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkt II. bis VI. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

B)       

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Am 29.06.2016 stellte der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 30.06.2016 gab der Beschwerdeführer im Rahmen der Erstbefragung im Wesentlichen an, er sei afghanischer Staatsangehöriger, stamme aus Maidan Wardak und habe zehn Jahre die Schule besucht. Zum Fluchtgrund befragt führte er aus, er sei von unbekannten Personen mit dem Tode bedroht worden. Der Vater sei seit sechs Monaten verschollen, er sei von Unbekannten entführt worden, die für seine Freilassung Geld fordern würden. Er habe dieses Geld nicht gehabt und sei mit dem Tode bedroht worden, deshalb habe er das Land verlassen müssen.

Am 27.06.2018 führte der Beschwerdeführer in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu seinen Fluchtgründen auf das Wesentliche zusammengefasst aus, der Vater sei entführt und getötet worden. Die Personen, die ihn entführt hätten, seien auf der Suche nach seinem Geld und Vermögen gewesen. Der Beschwerdeführer habe alles geerbt, deshalb seien sie in der Folge auf der Suche nach ihm und seiner Familie gewesen. Ein Freund bzw. Kollege des Vaters habe die Ausreise organisiert. Nach der Ausreise sei der kleine Bruder des Beschwerdeführers getötet worden, als sie vom Auto abgeholt worden seien und hätten ausreise wollen. Sie hätten die Absicht gehabt, auch den Beschwerdeführer zu bedrohen. Diese Personen seien vielleicht Gegner oder Feinde des Vaters oder Leute, die einfach auf das Geld aus gewesen seien. Der Beschwerdeführer werde von ihnen getötet, wenn er zurückkehre.

2.       Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 18.07.2018, zugestellt am 23.07.2018, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten § 8 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt II.), erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Begründend führte die belangte Behörde aus, das Vorbringen begründe keine asylrelevante Bedrohung, es handle sich um kriminelle Akten durch Privatpersonen. Das Vorbringen sei nicht glaubhaft.

3.       Am 09.08.2018 langte die vollumfängliche Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den oben dargestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl bei der belangten Behörde ein in der im Wesentlichen ausgeführt wird, der Vater des Beschwerdeführers sei wegen seiner wirtschaftlich guten Situation ermordet worden, der Beschwerdeführer als sein Sohn sein gefährdet. Der kleine Bruder sei beim Kampf mit den Feinden der Familie ums Leben gekommen. Die offene liberale Einstellung des Beschwerdeführers führe dazu, dass er sich für die christliche Religion interessiere und im täglichen Leben davon beeinflusst werde und sei ein weiteres Gefährdungsrisiko. Der Lebensstil des Beschwerdeführers demonstriere westliche und christliche Werte, die fortgeschrittene Integration habe eine dauerhafte Wertveränderung bewirkt. Die Würdigung der Länderberichte bleibe abstrakt, eine Einzelfallprüfung werde nicht durchgeführt. Es entspreche der afghanischen Realität, dass erfolgreiche Personen angefeindet würden. Es könne davon ausgegangen werden, dass die Mörder des Vaters des Beschwerdeführers mit den jetzigen Betreibern der Geschäfte in Verbindung stünden. Der Beschwerdeführer sei als Sohn des ermordeten Geschäftsmannes gefährdet. Er sei legitimer Erbe der Besitztümer. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei nicht verfügbar. Es gebe eine Reisewarnung des Außenministeriums für Afghanistan, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl widerspreche der generellen Reisewarnung dort, wo es „bloß“ um Flüchtlinge gehe und könne hierfür keine Erklärung liefern.

Mit Ladung vom 04.02.2021 brachte das Bundesverwaltungsgericht folgende Länderberichte in das Verfahren ein:

?        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 16.12.2020, Version 2 (in der Folge: Länderinformationsblatt)

?        EASO COI Report: Afghanistan. Security situation von September 2020

?        EASO COI Report: Afghanistan. Key socio-economic indicators. Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City von August 2020

?        EASO COI Report: Afghanistan. Regierungsfeindliche Elemente (AGE) von August 2020

?        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender von 30.08.2018 (in der Folge: UNHCR-Richtlinien)

?        EASO Country Guidance: Afghanistan von Dezember 2020 (in der Folge: EASO Country Guidance)

Am 01.03.2021 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers am Bundesverwaltungsgericht ein, in der im Wesentlichen ausgeführt wird, die Verfolgung, der der Beschwerdeführer im Fall einer Abschiebung ausgesetzt wäre, sei aus den Länderberichten ersichtlich. Sicherheits- und Wirtschaftslage seien schlecht, eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht verfügbar.

Am 08.03.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer, sein bevollmächtigter Rechtsvertreter und ein Dolmetscher für die Sprache Dari teilnahmen. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme.

In der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt und hielt sein Vorbringen, er werde im Herkunftsstaat von den unbekannten Personen, die seinen Vater entführt und ermordet hätten, verfolgt, aufrecht.

Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Lebenslauf

?        Integrationsprüfungszeugnis

?        Kursbesuchtsbestätigung

?        Pflichtschulabschlussprüfungszeugnis

?        Schulbesuchtsbestätigung

?        Jahreszeugnis

?        Medizinische Unterlagen

?        Mehrere Empfehlungsschreiben

?        Testament des Vaters

?        Fotos

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zu Person und Lebensumständen Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, wurde im Jahr XXXX in XXXX geboren und ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Er spricht auch etwas Englisch und Deutsch auf dem Niveau B1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer nimmt regelmäßig ein kostenloses Psychotherapieangebot in Anspruch.

Der Beschwerdeführer wurde in Kabul geboren. Er lebte bis zum dritten Lebensjahr in Maidan Wardak, Distrikt Behsud. Dann zog die Familie wieder nach Kabul um, wo der Beschwerdeführer bis zu seiner Ausreise lebte. Die Familie lebte im eigenen Haus. Der Vater des Beschwerdeführers war als Autohändler tätig, er hatte Autohäuser in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif. Der Beschwerdeführer hat in Kabul neun Jahre die Schule besucht.

In Österreich hat der Beschwerdeführer Deutschkurse und die Integrationsprüfung für das Sprachniveau B1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen bestanden. Er hat außerdem einen Vorbereitungskurs zur Pflichtschulabschlussprüfung besucht, die er im Februar 2020 bestanden hat. Seither besucht der Beschwerdeführer die XXXX schule XXXX .

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Es wird nicht festgestellt, dass der Vater des Beschwerdeführers entführt und ermordet wurde und dem Beschwerdeführer hieraus Gefahr droht.

Die Minderheit der schiitischen Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus, Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Maidan Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten. Die schiitische Religionszugehörigkeit gehört zum ethnischen Selbstverständnis der Hazara, Ethnien- und Religionszugehörigkeit sind in Afghanistan häufig untrennbar verbunden.

Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung.

Die Hazara wurden während der Taliban-Herrschaft 1996-2001 besonders verfolgt. Seit 2001 hat sich ihre Lage grundsätzlich verbessert und Hazara bekleideten zunehmend prominente Stellen in Regierung und öffentlichem Leben. Die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, genießt seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen. Hazara waren in der öffentlichen Verwaltung unterrepräsentiert.

Der ISKP verfügt in Afghanistan über sehr begrenzte territoriale Kontrolle, ist jedoch in der Lage, in unterschiedlichen Teilen des Landes Angriffe durchzuführen. Es kommt zu Angriffen durch den ISKP auf schiitische Hazara, etwa in Kabul und Herat. Ziel sind insbesondere Orte, an denen Schiiten zusammenkommen, etwa Moscheen, politische Demonstrationen oder Hazara-dominierte Wohnviertel. Diese Angriffe stehen im Zusammenhang mit der schiitischen Glaubenszugehörigkeit der Hazara sowie mit deren – nach Wahrnehmung des ISKP – Nähe und Unterstützung des Iran und des Kampfes gegen den IS in Syrien.

Es kam in der Vergangenheit auch zu Entführungen und Tötungen von Angehörigen der Volksgruppe der Hazara auf den Straßen durch regierungsfeindliche Kräfte, insbesondere durch die Taliban. Es gibt Vorfälle, bei denen Hazara-Reisende ausgesondert und getötet oder entführt werden. Hierfür konnte jedoch häufig ein anderer Grund als deren Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit identifiziert werden, etwa als ANSF-Angehöriger, NGO- oder Regierungsmitarbeiter. Eine systematische Vorgehensweise der Taliban gegen schiitische Hazara bzw. vermehrte Übergriffe sind aktuell nicht dokumentiert.

1. 3.   Zur Rückkehr in den Herkunftsstaat

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv und haben Afghanistan von 1996 bis 2001 regiert. Seit 2001 haben sie einige Grundprinzipien bewahrt, u. a. eine strenge Auslegung des Scharia-Rechts in den von ihr kontrollierten Gebieten.

Seit dem Beginn des Abzuges internationaler Truppen am 01.05.2021 konnten die Taliban ihre Gebietskontrolle zunehmend ausweiten. So standen am 03.06.2021 90 Distrikte unter ihrer Kontrolle, während sich mit Stand 19.07.2021 229 Distrikte in Händen der Taliban befanden. Im Juli wurden auch wichtige Grenzübergänge erobert. Ende Juli/Anfang August kämpfte die Regierung gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gar und Kandahar. Im August 2021 beschleunigte sich der Vormarsch der Taliban, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen. Am 15.08.2021 haben die Taliban größtenteils friedlich Kabul eingenommen, alle Regierungsgebäude und Checkpoints der Stadt besetzt, den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Der afghanische Präsident war zuvor außer Landes geflohen. Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab. Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten, jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten. Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten.

Mit dem Vormarsch der Taliban haben Kampfhandlungen und konfliktbedingte Todesopfer drastisch zugenommen. Zwischen 01.01.2021 und 30.06.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Mitte August wurden über 3.750 zivile Opfer dokumentiert. Im Mai und Juli führte die Zunahme von Kampfhandlungen zu über 23.000 konfliktbezogenen Vorfällen, das sind beinahe doppelt so viele wie im Zeitraum Jänner bis April. Im Jahr 2021 wurden 550.000 Menschen intern vertrieben, 400.000 davon zwischen 01.05.2021 und Mitte August. Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen. Im August und September kam es zu Lokalen Kampfhandlungen, z.B. in Maidan Wardak und Daikundi. Anfang September kam es zudem zu schweren Kampfhandlungen im Panjshir-Tal, das die Taliban schließlich einnahmen.

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden. Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird. Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen. Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen. Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist. Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden. Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet. Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin.

Die Auswirkungen der Machtübernahme durch die Taliban auf die humanitäre Lage sind noch nicht klar. Bedingt durch im Jahr 2021 signifikant höhere Anzahl ziviler Opfer und Vertreibungen ist mit höherem humanitärem Bedarf zu rechnen. UN-Generalsekretär Guterres spricht von einer humanitären und ökonomischen Krise und warnt vor dem Zusammenbruch der Grundversorgung.

Die Banken bleiben geschlossen. Die Vereinigten Staaten haben der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. $ verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt. Die afghanische Währung ist auf ein Rekordtief gefallen. Dies hat die Preise in die Höhe getrieben. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Öl und Reis sind innerhalb weniger Tage um bis zu 10-20 % gestiegen.

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden.

Bereits die erhöhte Konfliktintensität der letzten Monate hat zu Störungen in der Gesundheitsversorgung und gleichzeitig zu höherem Bedarf unter Verwundeten und intern Vertriebenen geführt. Die Konflikteskalation hat in Kombination mit Dürre und Überflutungen, der Coronavirus-Pandemie und konfliktbedingten Störungen des Zugangs zu humanitärer Hilfe die Lage im Hinblick auf die Lebensmittelversorgung verschlechtert, über 9,1 Millionen Menschen sind akut von Mangelernährung betroffen. Der Zugang zu humanitärer Unterstützung bleibt weiter schwierig. Humanitäre Organisationen fürchten um die Sicherheit ihrer Mitarbeiter*innen, weswegen mit einer Unterbrechung ihrer Arbeit zu rechnen ist, bis Bedingungen mit den Taliban verhandelt sind. IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen.

2.       Beweiswürdigung:

2.1.    Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zu Identität, Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Muttersprache und sonstigen Sprachkenntnissen des Beschwerdeführers beruhen auf seinen plausiblen Angaben im Lauf des Verfahrens, die auch die belangte Behörde ihrer Entscheidung zugrunde legte. Zu seinen Deutschkenntnissen hat der Beschwerdeführer sein Integrationsprüfungszeugnis für das Niveau B1 vorgelegt (OZ 2).

Die Feststellung zur Unbescholtenheit beruht auf dem im Akt einliegenden aktuellen Auszug aus dem Strafregister.

Zu seiner Therapie hat der Beschwerdeführer Bestätigungen vorgelegt. Zudem gab er im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zum Gesundheitszustand befragt lediglich an, er leide an Schlaflosigkeit und müsse hiergegen Tabletten einnehmen (OZ 9, S. 4). Weitere aktuelle und konkrete medizinische Unterlagen hierzu sind nicht aktenkundig.

Die Feststellungen zu Lebenswandel und Lebensweg des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat beruhen auf seinen gleichbleibenden und plausiblen Angaben.

Die Feststellungen zu den Aktivitäten des Beschwerdeführers im Bundesgebiet beruhen auf seinen Angaben im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 08.03.2021, sowie auf den vorgelegten Bestätigungen und Zeugnissen.

2.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender von 30.08.2018 (in der Folge: UNHCR-Richtlinien) berichten allgemein über die weite Verbreitung von Korruption, Schutzgelderpressung und illegaler Besteuerung. Insbesondere die erpresserische Entführung durch unterschiedliche Gruppierungen (Taliban, IS, kriminelle Gruppen) wird als verbreitetes Problem dargestellt. In den meisten Fällen würden die entführten Zivilisten über Vermittlung lokaler Ältester oder nach Zahlung von Lösegeld wieder freigelassen. Geschäftsleute und andere Personen, die tatsächlich oder vermeintlich wohlhabend sind, würden zunehmend in das Visier von Entführerbanden geraten (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 15. Geschäftsleute und andere wohlhabende Personen sowie deren Familienangehörige, S. 112-114). Auch die EASO Country Guidance: Afghanistan von Dezember 2020 (in der Folge: EASO Country Guidance) berichtet von verbreiteter krimineller Gewalt. Kinder und Erwachsene würden entführt, es komme zu Raubüberfällen, Einbrüchen, Morden und Erpressungen. Betroffen seien insbesondere auch Geschäftsleute und wohlhabende Afghanen (Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapitel 3.2 Article 15(b) QD, S. 98).

Die Schilderung des Beschwerdeführers erweist sich allerdings als vage, inkonsistent und nicht nachvollziehbar. Zunächst schilderte der Beschwerdeführer im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 08.03.2021 das Fluchtvorbringen lediglich oberflächlich, floskelhaft und detailarm, obgleich er vom erkennenden Einzelrichter aufgefordert worden war, die Gründe, aus denen er Afghanistan verlassen hatte, möglichst umfassend zu nennen (OZ 9, S. 6). Dennoch gibt der Beschwerdeführer Details zum Fluchtvorbringen erst nach mehrfachen konkreten Nachfragen.

Weiter sind in den Angaben des Beschwerdeführers konkrete Beweggründe für die behauptete Entführung und Ermordung nicht erkennbar. Der Beschwerdeführer gibt hierzu meist nur vage an, der Vater sei durch unbekannte Personen entführt worden, die Entführer hätten sein Geld gewollt und ihn dann getötet (OZ 9, S. 6), diese Leute hätten Geld und Eigentum des Vaters gewollt (OZ 9, S. 9), sie seien auf der Suche nach seinem Geld und Vermögen gewesen (AS 129). Der Beschwerdeführer berichtet jedoch nicht von einer konkreten, der Aneignung des väterlichen Vermögens dienenden Handlung der Unbekannten. So kann er nicht angeben, was in der Folge mit dem väterlichen Vermögen passiert ist (AS 127). Im Zuge der mündlichen Verhandlung gab der Beschwerdeführer zum Haus der Familie an, der Großvater habe ihm beim letzten Kontakt erzählt, dass er gezwungen worden sei, das Haus zu verlassen und bei weitschichtigen Verwandten lebe (OZ 9, S. 9), konnte aber nicht nachvollziehbar begründen, warum er keine weiteren Schritte unternommen hat, um in Erfahrung zu bringen, was mit dem Haus bzw. den Geschäften des Vaters passiert ist. Er schildert auch nicht weiter, von wem und inwiefern der Großvater gezwungen wurde, das Haus zu verlassen und gibt auch dieses Detail der Fluchtgeschichte erst nach zahlreichen Nachfragen preis. Auch von einer konkreten zu begleichenden Lösegeldforderung berichtet der Beschwerdeführer nicht, sondern gibt lediglich im Lauf seiner niederschriftlichen Einvernahme an, der Freund des Vaters habe ihm auch mitgeteilt, die unbekannten Personen hätten Geld verlangt (AS 131), bzw. führt die bereits angeführten vagen Floskeln hinsichtlich eines Interesses der Entführer am Geld des Vaters an. Warum aber nicht der Versuch unternommen wurde, den Vater unter Einsatz des vorhandenen väterlichen Vermögens zu retten, ist nicht nachvollziehbar. Insbesondere gibt der Beschwerdeführer keine konkrete Forderung der Entführer an, sondern bestätigt viel mehr in der mündlichen Verhandlung, er wisse nichts von einer Aufforderung. Der Großvater und die Mutter sei nicht kontaktiert worden und ob der Geschäftspartner des Vaters zu etwas aufgefordert worden sei, wisse er nicht. Er habe keine Information, ob es eine Aufforderung gegeben habe (OZ 9, S 10). Dies begründet der Beschwerdeführer lediglich damit, dass der Vater alles in der Hand gehabt habe, Geld, Eigentum und Urkunden (OZ 9, S. 11). Damit ist allerdings nicht nachvollziehbar, warum überhaupt davon auszugehen sein sollte, dass der Vater des Beschwerdeführers wegen seines Geldes entführt worden sein soll und gibt der Beschwerdeführer im weiteren Verlauf der Verhandlung auch an, nicht zu wissen, was die Entführer des Vaters bezweckt hätten (OZ 9, S. 9). Der Beschwerdeführer beruft sich in Summe im Lauf des Verfahrens stets auf Aussagen seiner Mutter und des Geschäftspartners vom Hörensagen, führt aber bei konkreter Nachfrage lediglich an, diese beiden Personen hätten ihm nicht mehr gesagt oder selbst nicht mehr gewusst.

Auch, wann sein Vater ermordet wurde, kann der Beschwerdeführer nicht angeben. So gibt er in der niederschriftlichen Einvernahme einmal an, sein Vater sei im Februar 2016, als er in Kabul gewesen sei, verstorben (AS 125). Kurz später in derselben Einvernahme gibt der Beschwerdeführer an, er wisse nicht genau, wann sein Vater getötet worden sei, es sei vielleicht eine Woche nach seiner Ausreise oder auch eine Woche davor gewesen (AS 131). Auch wann der Vater entführt worden sein soll, kann der Beschwerdeführer nicht angeben und behauptet hierzu lediglich, der Geschäftspartner bzw. Freund seines Vaters habe ihm gesagt, sein Vater sei entführt worden und der Beschwerdeführer sei am selben Tag ausgereist. Demnach hat der Beschwerdeführer seine Ausreiseentscheidung allein auf Grundlage der vagen Angaben des Geschäftspartners bzw. Freundes seines Vaters getroffen, den er seinen Angaben in der niederschriftlichen Einvernahme zufolge, lediglich zwei Mal gesehen haben will (AS 129), ohne sich mit irgendeinem seiner Angehörigen diesbezüglich abzusprechen. Hierzu gibt der Beschwerdeführer an, nur sein Großvater sei in Kabul gewesen und sei dieser bereits 80 Jahre alt gewesen (AS 131). Warum der Beschwerdeführer aus diesem Grund nicht einmal mit seinem Großvater über die Entführung des Vaters und die Bedrohung seiner Person gesprochen haben will, begründet der Beschwerdeführer mit dem Hinweis auf das Alter des Beschwerdeführers nicht nachvollziehbar.

Auch eine ihn persönlich betreffende Bedrohung kann der Beschwerdeführer nicht nachvollziehbar angeben. So verneint er in der niederschriftlichen Einvernahme am 27.06.2018 persönlich bedroht worden zu sein und behauptet, die unbekannten Personen hätten aber die Absicht dazu gehabt (AS 133). Auch in der mündlichen Verhandlung verneint der Beschwerdeführer, direkt bedroht worden zu sein (OZ 9, S. 8). Nachdem aber nicht klar ist, warum überhaupt der Vater des Beschwerdeführers entführt worden sein soll, ist auch nicht nachvollziehbar, inwiefern hieraus eine Bedrohung für den Beschwerdeführer erwächst und kann der Beschwerdeführer dies auch nicht weiter begründen als durch neuerliche Verweise auf vage Aussagen anderer Personen.

Zum vorgelegten Testament ist überdies anzumerken, dass der Beschwerdeführer dieses erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren einbringt und nicht bereits der belangten Behörde vorgelegt hat, obwohl er in der Verhandlung angibt, dieses sei bei seinem Großvater und ihm durch einen Freund übermittelt worden (OZ 9, S. 7). Demnach ist nicht nachvollziehbar, warum die Übermittlung nicht schon früher erfolgt ist. Weiter geht aus dem Testament auch inhaltlich lediglich hervor, dass der Beschwerdeführer als alleiniger Erbe des Vaters eingesetzt sein soll. Daraus ist jedoch weder abzuleiten, dass der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang bedroht worden ist. Zu den vorgelegten Fotos, die den Angaben des Beschwerdeführers zufolge den Vater mit seinem Autohaus und mit seinem Geschäftspartner, sowie Mutter und Bruder im Iran zeigen, ist anzumerken, dass sich anhand der Fotos nicht verifizieren lässt, wer abgebildet ist. Weiter lassen sich aus den vorgelegten Fotos keinerlei Rückschlüsse auf das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers ziehen. Die Fotos sind damit nicht geeignet, das Fluchtvorbringen zu beweisen.

Dazu, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des fluchtauslösenden Vorfalles etwa 15 oder 16 Jahre alt und damit minderjährig war, ist anzumerken, was bei der Beweiswürdigung besonders zu berücksichtigen ist (jüngst etwa VwGH 29.01.2021, Ra 2020/01/0470). Ist anzumerken, dass selbst von einem Minderjährigen zu erwarten ist, dass er ein Fluchtvorbringen so weit konsistent und nachvollziehbar erstattet, dass dieses einen beurteilbaren Kern aufweist. Dies ist gegenständlich nicht der Fall.

Die allgemeinen Feststellungen zu den schiitischen Hazara und ihrer gesellschaftlichen Lage beruhen auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 16.12.2020, Kapitel Hazara, auf der EASO Country Guidance, Abschnitt Common analysis: Afghansitan, Kapitel 2.17.1 Individuals of Hazara ethnicity, S. 85-86, sowie Kapitel 2.17.2 Shia, including Ismaili, S. 87 und den UNHCR-Richtlinien, Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 13. Angehörige ethnischer (Minderheiten-)Gruppen, Buchstabe b) Hazara, S. 106-107.

Die Feststellungen zum ISKP und dessen Angriffe auf die Hazara beruhen auf der EASO Country Guidance (Abschnitt Common analysis: Afghansitan, Kapitel 2.17.1 Individuals of Hazara ethnicity, S. 85-86 sowie Kapitel 2.17.2 Shia, including Ismaili, S. 87), wobei auch der EASO COI Report, Afghanistan: Regierungsfeindliche Elemente (AGE) von August 2020 im Wesentlichen übereinstimmend von Angriffen auf schiitische Hazara durch den ISKP berichtet (Kapitel 3.6.1 Hazara-Schiiten, S. 38 ff.). Dieses berichtet auch, dass der ISKP den Großteil seines Territoriums verloren hat (3.2 Stärke, Präsenz, territoriale Kontrolle, Kapazität, S. 33 ff.). Diesbezüglich sind auch seit der Machtergreifung durch die Taliban Änderungen nicht bekannt.

Die UNHCR-Richtlinien berichten allgemein von Fällen von Schikanen, Einschüchterung, Entführung und Tötung durch die Taliban, den Islamischen Staat und andere regierungsfeindliche Kräfte, wobei den Fußnoten im Hinblick auf konkrete Vorfälle zu entnehmen ist, dass dem IS insbesondere Terror-Anschläge auf die schiitische Minderheit zuzurechnen sind. Im Hinblick auf die Taliban werden insbesondere Entführungen erwähnt, ihnen werden jedoch auch Anschläge zugeschrieben (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 13. Angehörige ethnischer (Minderheiten-)Gruppen, Buchstabe b) Hazara, S. 107, sowie Unterkapitel 5. Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, die angeblich gegen die Scharia verstoßen, Buchstabe a) Religiöse Minderheiten, Abschnitt Schiiten, S. 69.-70). Die EASO Country Guidance berichtet im Hinblick auf Entführungen konkret, es würde Vorfälle geben, wo Hazara-Zivilisten auf Reisen entlang der Straßen entführt und getötet würden, jedoch, dass dies häufig auch mit anderen Motiven als der Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit in Zusammenhang stehe, etwa als ANSF-Angehöriger, NGO- oder Regierungsmitarbeiter (Abschnitt Common analysis: Afghansitan, Kapitel Kapitel 2.17.1 Individuals of Hazara ethnicity, S. 85-86). Eine systematische Vorgehensweise der Taliban gegen schiitische Hazara ist jedoch nicht dokumentiert. Auch der relativ aktuelle EASO COI Report, Afghanistan: Regierungsfeindliche Elemente (AGE) von August 2020 führt schiitische Hazara nicht als Angriffsziele an. Auch seit der Machtergreifung der Taliban gibt es (noch) keine Hinweise, auf vermehrte Übergriffe gegen schiitische Hazara.

2.3.    Zur Rückkehr in den Herkunftsstaat

Die Feststellungen zu den jüngsten Entwicklungen in Afghanistan sowie zur aktuellen Lage unter der Herrschaft der Taliban beruhen auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Version 5, Stand 16.09.2021, insbesondere Kapitel Politische Lage, Sicherheitslage, Grundversorgung und Wirtschaft und Medizinische Versorgung, auf dem EASO, COI Report: Afghanistan. Security situation update von September 2021, auf der ACAPS, Afghanistan. Humanitarien impact and trends analysis von 23.08.2021 und der UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan von August 2021.

Zur Plausibilität und Seriosität der herangezogenen Länderinformationen zur Lage im Herkunftsstaat ist auszuführen, dass die im Länderinformationsblatt zitierten Unterlagen von angesehen Einrichtungen stammen. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nach § 5 Abs. 2 BFA-VG verpflichtet ist, gesammelte Tatsachen nach objektiven Kriterien wissenschaftlich aufzuarbeiten und in allgemeiner Form zu dokumentieren. Auch das European Asylum Support Office (EASO) ist nach Art. 4 lit. a Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 2010 zur Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen bei seiner Berichterstattung über Herkunftsländer zur transparent und unparteiisch erfolgende Sammlung von relevanten, zuverlässigen, genauen und aktuellen Informationen verpflichtet. Damit durchlaufen die länderkundlichen Informationen, die diese Einrichtungen zur Verfügung stellen, einen qualitätssichernden Objektivierungsprozess für die Gewinnung von Informationen zur Lage im Herkunftsstaat. Den UNHCR-Richtlinien ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung"), wobei diese Verpflichtung ihr Fundament auch im einschlägigen Unionsrecht findet (Art. 10 Abs. 3 lit. b der Richtlinie 2013/32/EU [Verfahrensrichtlinie] und Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95/EU [Statusrichtlinie]; VwGH 07.06.2019, Ra 2019/14/0114) und der Verwaltungsgerichtshof auch hinsichtlich der Einschätzung von EASO von einer besonderen Bedeutung ausgeht und eine Auseinandersetzung mit den „EASO-Richtlinien“ verlangt (VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0405). Das Bundesverwaltungsgericht stützt sich daher auf die angeführten Länderberichte.

3.       Rechtliche Beurteilung:

3.1.    Zur Abweisung der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides (Asyl)

Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG 2005) ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht, dem Fremden keine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 AsylG 2005 offen steht und dieser auch keinen Asylausschlussgrund gemäß § 6 AsylG 2005 gesetzt hat.

Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht einer Person, wenn sie sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb des Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Art. 6 Statusrichtlinie definiert als Akteure, von denen die Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann, den Staat (lit. a), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (lit. b) und nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden im Sinne des Artikels 7 zu bieten.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierung ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010 mwN).

3.1.1.  Zur behaupteten Verfolgungsgefahr wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie des Vaters

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung den Familienverband als „soziale Gruppe“ gemäß Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anerkannt. Verfolgung kann daher schon dann Asylrelevanz zukommen, wenn ihr Grund in der bloßen Angehörigeneigenschaft des Asylwerbers, somit in seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe iSd Art. 1 Z 2 GFK, etwa jener der Familie liegt (Vgl. VwGH vom 13.11.2014, Ra 2014/18/0011 mwN).

Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt konnte der Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen, dass sein Vater entführt und ermordet wurde und ihm hieraus Gefahr droht. Eine Verfolgungsgefahr wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung konnte der Beschwerdeführer daher nicht glaubhaft machen.

3.1.2.  Zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit des Beschwerdeführers

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann die Gefahr der Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden, sondern auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende „Gruppenverfolgung“, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten. Diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (jüngst etwa VwGH 26.03.2020, Ra 2019/14/0450). Eine Eingriffsintensität im Sinne eines „Genozids“ muss nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes jedoch nicht vorliegen, um eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK zu bejahen (VwGH 03.08.2020, Ra 2020/20/0034).

Gegenständlich konnten die Beschwerdeführenden – wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt – glaubhaft machen, dass sie den schiitischen Hazara angehören.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zudem nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person als „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (VwGH 14.08.2020, Ro 2020/14/0002).

Gegenständlich gibt es Hinweise auf Diskriminierungen der schiitischen Hazara etwa auf dem Arbeitsmarkt, soziale Diskriminierung, etc. jedoch wurde ebenso die Beteiligung von Hazara an nationalen Institutionen festgestellt, sowie wirtschaftliche und gesellschaftliche Fortschritte festgestellt. Diskriminierende Maßnahmen gegen alle Angehörigen der Volksgruppe der Hazara im Sinne einer „Verfolgung“ nach der oben zitierten Rechtsprechung sind damit nicht ersichtlich. Eine individuelle Betroffenheit der Beschwerdeführenden wurde dagegen nicht konkret vorgebracht.

Hinsichtlich des ISKP ist zwar – nachdem dieser Angriffe auf schiitische Hazara durchführt, die mit deren schiitischer Glaubenszugehörigkeit, sowie einer zumindest unterstellten Nähe und Unterstützung des Iran und des Kampfes gegen IS in Syrien in Zusammenhang stehen – ersichtlich, dass dieser zielgerichtete Maßnahmen gegen Schiiten und damit auch gegen schiitische Hazara setzt. Dem ISKP kommt jedoch lediglich eine beschränkte territoriale Reichweite zu.

Hinsichtlich der Taliban fand eine besondere Verfolgung während ihrer Herrschaft in den Jahren 1996 bis 2001 statt und kam es auch danach zu Entführungen und Tötungen von Angehörigen der Volksgruppe der Hazara auf den Straßen durch regierungsfeindliche Kräfte, insbesondere durch die Taliban. Es gibt Vorfälle, bei denen Hazara-Reisende ausgesondert und getötet oder entführt werden. Eine systematische Vorgehensweise der Taliban gegen schiitische Hazara bzw. vermehrte Übergriffe allein aufgrund ihrer Volksgruppen- bzw. Religionszugehörigkeit ist allerdings aktuell nicht dokumentiert. Damit ist gegenwärtig eine Gruppenverfolgung im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung nicht ersichtlich.

3.1.3.  Zur vorgebrachten Verfolgungsgefahr wegen „Verwestlichung“, Verinnerlichung „christlicher Werte“ etc.

Zum in der Beschwerde erstatteten Vorbringen, der Beschwerdeführer habe eine offene liberale Einstellung, interessiere sich für die christliche Religion und demonstriere sein Lebensstil westliche und christliche Werte und habe die fortschreitende Integration des Beschwerdeführers eine dauerhafte Wertveränderung bewirkt, woraus sich ein weiteres Gefährdungsrisiko ergebe, ist anzumerken, dass sich dieses Vorbringen im Wesentlichen auf die Beschwerde beschränkt. Im vom Beschwerdeführer selbst im Zuge der Einvernahmen erstatteten Fluchtvorbringen findet diese Rückkehrbefürchtung keinen Niederschlag.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes muss das Fluchtvorbringen, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (VwGH 01.09.2021, Ra 2021/19/0233).

Gegenständlich weist das Vorbringen den nach der eben zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erforderlichen Grad der Konkretisierung nicht auf.

Im Ergebnis war die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides daher spruchgemäß abzuweisen.

3.2.    Zur Stattgebung der Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. bis VI. des angefochtenen Bescheides (Subsidiärer Schutz)

Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung oder Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (VwGH 30.01.2018, Ra 2017/20/0406).

Um von der realen Gefahr („real risk“) einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 bzw 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes grundsätzlich nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüberhinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein „real risk“ vorliegt, wenn stichhaltige Gründe („substantial grounds“) dafürsprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in die Heimat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Risiko im Sinne des Art. 3 EMRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen („in the most extreme cases“) diese Voraussetzung erfüllt (EGMR 28.11.2011, 8319/07 und 11.449/07, Sufi und Elmi, Rz 218, mit Hinweis auf EGMR 17.07.2008, 25.904/07, NA gegen Vereinigtes Königreich). In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen („special distinguishing features“), auf Grund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (EGMR 28.11.2011, 8319/07; 11.449/07, Sufi und Elmi, Rz 217).

Auch im ergangenen Urteil der Großen Kammer vom 23.08.2016, 59.166/12, JK et al gg Schweden, beschäftigte sich der EGMR mit seiner einschlägigen Rechtsprechung und führte insbesondere aus, dass die Beweislast für das Vorliegen eines realen Risikos in Bezug auf individuelle Gefährdungsmomente für eine Person grundsätzlich bei dieser liege (Rz 91, 96), gleichzeitig aber die Schwierigkeiten, mit denen ein Asylwerber bei der Beschaffung von Beweismitteln konfrontiert sei, in Betracht zu ziehen seien und bei einem entsprechend substantiierten Vorbringen des Asylwerbers, weshalb sich seine Lage von jener anderer Personen im Herkunftsstaat unterscheide (Rz 94), im Zweifel zu seinen Gunsten zu entscheiden sei (Rz 97). Soweit es um die allgemeine Lage im Herkunftsstaat gehe, sei jedoch ein anderer Ansatz heranzuziehen. Diesbezüglich hätten die Asylbehörden vollen Zugang zu den relevanten Informationen und es liege an ihnen, die allgemeine Lage im betreffenden Staat (einschließlich der Schutzfähigkeit der Behörden im Herkunftsstaat) von Amts wegen festzustellen und nachzuweisen (Rz 98).

Der Tatbestand einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes in § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 orientiert sich an Art 15 lit. c Statusrichtlinie (RL 2011/95/EU) und umfasst – wie der Gerichtshof der Europäischen Union erkannt hat – eine Schadensgefahr allgemeiner Art, die sich als „willkürlich“ erweist, also sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann. Entscheidend für die Annahme einer solchen Gefährdung ist nach den Ausführungen des Gerichtshofes der Europäischen Union, dass der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson liefe bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr, einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Dabei ist zu beachten, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er auf Grund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (EuGH 17.02.2009, C-465/07, Elgafaji; 30.01.2014, C-285/12, Diakité).

Auch die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes sind von diesen Erwägungen getragen: Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (VwGH 26.02.2020, Ra 2019/18/0486).

Außerdem kann die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (VwGH 25.04.2017, Ra 2016/01/0307 mwN).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes haben sich die Asylbehörden und dementsprechend auch das Bundesverwaltungsgericht außerdem mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind. Die Verpflichtung hierzu finde sich auch im einschlägigen Unionsrecht (VwGH 07.06.2019, Ra 2019/14/0114).

UNHCR geht in seiner „UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan“ von August 2021 von einer rapiden Verschlechterung der Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes aus, zeigt sich besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, fordert alle Länder dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes sicherzustellen. UNHCR hält es zudem nicht für angemessen, afghanische Staatsangehörige und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- oder Neuansiedelungsperspektive zu verwehren. Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan und die sich abzeichnende humanitäre Notlage fordert UNHCR die Staaten dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen. Ein Moratorium solle bestehen bleiben, bis sich die Situation im Land stabilisiert habe und geprüft worden sei, wann die geänderten Umstände im Land eine Rückkehr in Sicherheit und Würde erlauben würde. Die Hemmung von zwangsweisen Rückführungen stelle eine Mindestanforderung dar, die bestehen bleiben müsse, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert habe, sodass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde von Personen, bei denen kein internationaler Schutzbedarf festgestellt wurde, gewährleistet werden kann.

Gegenständlich ist den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat zu entnehmen, dass es zuletzt zu einer starken Zunahme ziviler Opfer und einer Steigerung der Gewaltintensität gekommen ist. Diesbezüglich hat der Verfassungsgerichtshof jüngst bereits ausgesprochen, dass von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war, sodass eine Situation vorliegt, die bei einer Rückkehr die Gefahr einer Verletzung von verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art. 2 und 3 EMRK nach sich zieht (VfGH 05.10.2021, E 3249/2021, insbesondere Rn. 16). Seit der Machtergreifung der Taliban ist die Lage im Herkunftsstaat höchst unübersichtlich und prekär. Insbesondere zeichnet sich im Hinblick auf die Versorgungslage eine Zuspitzung der Situation ab.

Daraus ergibt nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auch unter Berücksichtigung der Position von UNHCR, dass die derzeitige Lage in Afghanistan für den Beschwerdeführer die akute Gefahr einer Verletzung von Art. 2 bzw. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention mit sich bringt bzw. dass eine für den Beschwerdeführer als Zivilperson ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts nicht auszuschließen ist. Eine Rückführung würde somit einen Verstoß gegen Art. 2 und 3 EMRK darstellen. Diese Beurteilung bezieht sich auf das gesamte Staatsgebiet.

Im Ergebnis war der Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis VI. daher stattzugeben und dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.

3.2.1   Zur befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 ist einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.

Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits klargestellt, dass gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 die Gültigkeitsdauer aus Anlass der erstmaligen Erteilung der Aufenthaltsberechtigung sowie bei der Erteilung der verlängerten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 ausgehend vom Entscheidungszeitpunkt festzulegen ist (VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0281).

Den Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 27.04.2016, Ra 2015/05/0069 dahingehend präzisiert, dass bei Kollegialorganen der Zeitpunkt der Willensbildung (Beschlussfassung) und bei monokratischen Organen jener der Erlassung (Zustellung oder mündliche Verkündung) der Entscheidung maßgeblich ist (siehe auch Leeb in Hengstschläger/Leeb, AVG § 29 VwGVG [Stand 15.2.2017, rdb.at], Rz 17). Darauf, dass die rechtlichen Wirkungen eines Erkenntnisses (des Einzelrichters) erst mit dessen Zustellung eintreten, hat der Verwaltungsgerichthof auch im Zusammenhang mit der Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 hingewiesen (VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0281).

Auch gegenständlich entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, weswegen datumsmäßige Festlegung der einjährigen Gültigkeitsdauer der den Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern erteilten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte ausgehend vom Zeitpunkt der Zustellung des gegenständlichen Erkenntnisses zu erfolgen hat.

Das Bundesverwaltungsgericht erkannte dem Beschwerdeführer mit vorliegendem Erkenntnis den Status der bzw. des subsidiär Schutzberechtigten zu. Folglich war spruchgemäß eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr zu erteilen.

Die befristete Aufenthaltsberechtigung gilt damit ein Jahr ab Zustellung des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts an den Beschwerdeführer.

4.        Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG abhängt. Das Bundesverwaltungsgericht folgt der unter 3. zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Im Hinblick auf das Fluchtvorbringen waren beweiswürdigende Erwägungen maßgeblich.

Schlagworte

befristete Aufenthaltsberechtigung Glaubwürdigkeit Gruppenverfolgung mangelnde Asylrelevanz private Verfolgung Religion Rückkehrsituation Sicherheitslage soziale Gruppe subsidiärer Schutz Verfolgungsgefahr Verschlechterung Versorgungslage Volksgruppenzugehörigkeit westliche Orientierung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W109.2203434.1.00
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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