Entscheidungsdatum
22.09.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W186 2231266-1/6E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Judith PUTZER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX Staatsangehöriger von Somalia, vertreten durch den Verein für Menschenrechte, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.04.2020, Zl. 1249068807-191038857, nach Beschwerdevorentscheidung vom 14.05.2020 zurecht:
A.)
I. Die Beschwerde hinsichtlich des Spruchpunktes I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 28 Abs 2 VwGVG als unbegründet abgewiesen und die Beschwerdevorentscheidung bestätigt.
II. Hinsichtlich des Spruchpunktes II. wird der angefochtene Bescheid aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
Der BF reiste spätestens am 12.10.2019 illegal in Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz.
Am 12.10.2019 wurde der BF zu seinem Antrag durch die LPD NÖ erstbefragt. Im Zuge dessen gab der BF an, dass sein Vater, Mahdi ABDAIRAHMAN, verstorben sei. Seine Mutter, Amina HAIBEH sei noch in seinem Herkunftsstaat Somalia aufhältig. Der BF habe seinen Entschluss zur Ausreise im Jänner 2015 gefasst. Er sei illegal mit einem gefälschten Reisepass in die Türkei geflogen. Sein Ziel sei gewesen, über die Türkei weiter nach Europa zu reisen.
Zu seiner Reiseroute führte der BF aus, dass er sich zwei Jahre in der Türkei aufgehalten habe. Er sei öfters nach Griechenland gegangen, wobei die griechischen Behörden den BF mehrmals in die Türkei abgeschoben hätten. In Mazedonien habe sich der BF einen Monat lang aufgehalten. Danach sei er über vier Monate in Serbien, weiters einige Monate in Bosnien und dann wieder für eine Woche in Serbien aufhältig gewesen. Der BF sei über acht Stunden durch unbekannte Länder gereist und sei schließlich am 12.10.2019 in Österreich angekommen.
Nachgefragt gab der BF an, dass er in keinem anderen Staat um Asyl ersucht habe. Der BF sei mithilfe seines in Belgien wohnhaften Onkels aus Somalia ausgereist. Die Reise habe den BF EUR 4.000,00 gekostet.
Zu seinen Fluchtgründen führte der BF aus, dass seine Eltern sich als der BF noch ein Kind gewesen sei getrennt hätten. Sein Vater sei verstorben. Seine Mutter sei nach Hargeysa gegangen. Der BF sei bei seiner Großmutter aufgewachsen. Seine Großmutter habe den BF nicht mehr versorgen können. Sein Vater sei von seinem Cousin getötet worden. Die allgemeine Sicherheitslage in Somalia sei sehr schlecht. Der BF habe Angst vor dem Cousin seines Vaters, dass dieser auch ihn töten werde. Es habe einen familiären Streit gegeben und dabei sei der Vater des BF erschossen worden. Bei einer Rückkehr habe der BF Angst davor, vom Cousin seines Vaters getötet zu werden. Außerdem habe der BF Existenzängste. Nachgefragt gab der BF an, dass er bei einer Rückkehr einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder einer Todesstrafe nicht ausgesetzt sei und auch mit keinen Sanktionen zu rechnen habe.
Die belangte Behörde habe bei den zuständigen Behörden in Griechenland urgiert und ersucht bekanntzugeben, ob es zum BF Informationen gebe. Bis dato ist Griechenland diesem Ersuchen nicht nachgekommen.
Am 26.02.2020 wurde der BF durch das BFA im Beisein eines für den BF einwandfrei verständlichen Dolmetschers niederschriftlich einvernommen. Der BF sei gesund. Der BF führte aus, dass die Erstbefragung richtig protokolliert worden sei. Lediglich zwei Dinge habe der BF korrigieren wollen: Einerseits habe das Geburtsdatum nicht gestimmt. Der BF sei nicht, wie in der Erstbefragung protokolliert, am XXXX , sondern am XXXX geboren. Weiters habe der BF seinen Herkunftsstaat Somalia nicht im Jahre 2005, sondern konkret am 02.03.2006 verlassen. Nachgefragt gab der BF an, dass er müde gewesen sei und sein Kopf nicht richtig funktioniert habe, weshalb er ein falsches Geburtsdatum angegeben habe.
Der BF führte zu seinem Privatleben aus, dass er der Volksgruppe Hawadle angehöre und Muslim sunnitischen Glauben sei. Er habe in der Stadt Dhusamareb, wo er gelebt habe, acht Jahre lang die Grundschule, drei Jahre lang eine höhere Schule sowie drei Jahre lang die Koranschule besucht. Nachgefragt gab der BF an, dass er nicht mehr wisse, wann er mit der Schulausbildung begonnen habe. In Somalia ginge man aber mit sechs bis sieben Jahren in die Schule. Auf Vorhalt, dass der BF Somalia im Jahre 2016 verlassen habe und zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt gewesen sein muss und dies im Zusammenschau mit seiner Schulausbildung daher „nicht funktionieren“ könne (zumal laut den eigenen Angaben des BF dieser 14 Jahre lang die Schule besucht habe) führte der BF aus, dass er es nicht so genau sagen könne. Er wisse aber, dass er die Schulausbildung absolviert habe. Der BF habe keine Berufsausbildung. Der BF habe seinen Lebensunterhalt bestreiten können, indem er bei seiner Großmutter und bis zu dessen Tod bei seinem Vater gelebt habe. Die finanzielle Lage im Heimatstaat sei „mittel“ gewesen. Der BF habe bis zu seiner Ausreise im Stadtteil Hooseed in der Stadt Dhusamareb gelebt. Er habe zusammen mit seinen drei Schwestern und seiner Großmutter in einer Baracke gelebt. Der BF sei ledig und habe keine Kinder. Er habe keinen Kontakt mehr zu seiner in Somalia noch wohnhaften Familie, da er die Telefonnummern verloren habe. In Österreich und Europa habe der BF keine Familie. Der BF habe keinen Besitz im Herkunftsstaat. Der BF sei nie politisch aktiv gewesen und sei nie wegen eines Konventionsgrundes verfolgt worden. Die Großmutter des BF heiße Haweeya Abdi MAJIR, die drei Schwestern, Ishwaaq, Adna und Asma, der Vater Mahdi Abdirahman Mahamed und die Mutter Amina Haybe Warsame.
Zu seinen Fluchtgründen führte der BF aus, dass sein Onkel der al Shabaab angehöre. Der Onkel habe den BF zum Soldaten machen wollen und den Vater des BF davor ebenso. Der Vater des BF sei ein Ältester gewesen. Der Vater des BF habe es abgelehnt, der al Shabaab beizutreten. Der Vater des BF habe sich mit dem Onkel des BF gestritten. Der Onkel des BF habe dem Vater des BF gesagt, dass er beide töten werde, wenn der BF nicht nach Ceelbuur gebracht werde. Der Vater des BF habe nicht gewollt, dass der BF zur al Schabaab geht. Der Onkel habe gewollt, dass der BF zur al Shabaab gehe und sich in die Luft sprenge. Der Onkel habe den Vater des BF getötet, nachdem der Onkel ihn bedroht habe. Der Onkel des BF ist der Cousin des Vaters des BF. Der BF sei nicht dabei gewesen, als sein Vater getötet worden sei. Der BF habe lediglich die Leiche seines Vaters gesehen, die von Nachbarn in die Wohnung des BF gebraucht worden sei. Nachgefragt führte der BF aus, dass er sei vom Anblick der Leiche seines Vaters schockiert gewesen sei und daher nicht genau sagen könne, woran er gestorben sei. Der Onkel sei ein Mitglied der al Shabaab „wie jedes andere“. Der BF habe sich in Mogadishu, in der Nähe des Koonis-Stadions bei einem Schlepper versteckt. Daher habe er keinen Kontakt mehr mit dem Onkel gehabt. Nachgefragt gab der BF an, er habe sich an die Schlepper halten müssen, weshalb er nicht in den anderen durchreisten Staaten um Asyl ersucht habe. Die Reise habe sich der BF finanzieren können, weil ihm sein Onkel in Belgien Geld geschickt habe. Nachgefragt gab der BF an, dass somalische Leute in der Türkei den in Belgien wohnhaften Onkel des BF kontaktiert hätten und über diese habe der Onkel das Geld geschickt. Der BF selbst habe keinen Kontakt zu seinem Onkel. Die somalischen Leute in der Türkei hätten den Onkel für den BF kontaktiert. Die Großeltern und Schwestern des BF seien auch durch den Onkel bedroht worden, wobei die al Shabaab sich generell nicht für Frauen interessiere. Der Onkel habe der Großmutter einmal die Hand gebrochen. Der BF habe das letzte Mal in der Türkei Kontakt mit seiner Großmutter aufgenommen, danach aber die Telefonnummer verloren. Der BF habe sich nie an die staatlichen Behörden in Somalia gewandt, weil er Angst gehabt habe.
Bei einer Rückkehr habe der BF Angst davor, nicht einmal eine Sekunde zu überleben. Die Al Shabaab sei überall Somalia. Nachgefragt, wieso der BF glaube, al Shabaab würde ihn nach vier Jahren noch suchen, gab er an, dass al Shabaab einen suche, bis sie ihn getötet hätten. Der BF habe nie Probleme mit den staatlichen Behörden in Somalia gehabt.
Der BF legte eine Teilnahmebestätigung an einem ehrenamtlich organisierten Deutschkurs des Vereins MIT-MENSCHEN vom 10.02.2020 vor. Der BF habe mit dem Deutschkurs im Jänner 2020 begonnen.
Nachdem die Niederschrift im Beisein eines dem BF einwandfrei verständlichen Dolmetschers rückübersetzt wurde, berichtigte der BF seine Angaben dahingehend, dass er in Belgien einen Verwandten habe, nämlich seinen Onkel. Außerdem fügte der BF hinzu, dass er um Schutz bitten würde.
Mit Bescheid des BFA vom 09.04.2020 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz abgewiesen (Spruchpunkt I.), sowie die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Somalia abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den BF wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Somalia zulässig sei (Spruchpunkt V). Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Begründend führte das BFA aus, dass der BF keine asylrelevante Verfolgung geltend machte. Es sei nicht nachvollziehbar gewesen, weshalb der BF erst bei seiner niederschriftlichen Einvernahme die Al Shabaab erwähnte, während er bei der Erstbefragung nur von einem familiären Streit gesprochen habe. Dass daher eine Verfolgung durch die al Shabaab drohe, hielt das BFA für unglaubwürdig. Der Herkunftsstaat des BF sei grundsätzlich schutzwillig und –fähig. Der BF hätte auch in den anderen durchreisten Staaten internationalen Schutz beantragen können, unterließ dies aber, was beim BFA zum Eindruck geführt habe, dass der BF aus wirtschaftlichen Gründen und für ein besseres Leben aus Somalia ausgereist sei. Weiters habe sich der BF widerholt widersprochen. So konnte das Alter nicht festgestellt werden, da der BF zwei unterschiedliche Geburtsdaten angegeben habe. Eine unmenschliche oder erniedrigende Lage sei ausgeschlossen. Die Rückkehrbefürchtungen stützten sich nämlich auf ein unglaubhaftes Fluchtvorbringen. Der BF sei arbeitsfähig und gesund und könne daher auch ohne familiäre Unterstützung ein geordnetes Leben in Somalia führen. Im Heimatsbundesstaat des BF, Galmudug, sei die al Shabaab wenig präsent. Es komme dort insgesamt zu wenigen Anschlägen und Attentaten. Weiter sei Mogadishu eine innerstaatliche Fluchtalternative.
Mit Verfahrensanordnung vom 10.04.2020 wurde dem BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
Mit Schriftsatz vom 30.04.2020 brachte der BF, vertreten durch den Verein für Menschenrechte, wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit sowie Mangelhaftigkeit des Verfahrens fristgerecht eine Beschwerde ein. Begründend führte der BF aus, dass der BF sich nicht widersprochen habe. Der BF habe in der niederschriftlichen Einvernahme angegeben, dass der Onkel, der seinen Vater getötet habe, zur al Shabaab gehöre. In der Erstbefragung gab er an, dass der Onkel und sein Vater einen Streit gehabt hätten und der Onkel den Vater sohin getötet habe. Vielmehr lägen hier daher eine Ausführung des Fluchtvorbringens und kein Widerspruch vor. Die Erstbefragung diene weiters nur der Ermittlung der Identität und der Reiseroute. Eine asylrelevante Verfolgung liege vor, da al Shabaab zwar keine staatliche Organisation sei. Sofern der Staat aber nicht fähig oder aus Konventionsgründen nicht gewillt sei, Schutz zu gebieten, sei dies asylrelevant. Der BF sei bei einer Rückkehr zudem einer aussichtslosen Situation ausgesetzt. Die Situation in Somalia sei schlecht. Kontakt zu der Familie bestünde nicht mehr. Der BF beantragt daher 1. den angefochtenen Bescheid der Erstbehörde dahingehend zu ändern, dass dem Antrag des BF auf internationalen Schutz Folge gegeben werde und ihm der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werde, 2. in eventu den angefochtenen Bescheid beheben und zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an die erste Instanz zurückzuverweisen; 3. in eventu dem BF den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen; 4. allenfalls die gegen den BF ausgesprochene Rückkehrentscheidung aufzuheben, 5. die Abschiebung nach Somalia für unzulässig zu erklären und 6. eine mündliche Verhandlung durchzuführen.
Mit Beschwerdevorentscheidung vom 14.05.2020 wurde die Beschwerde des BF als unbegründet abgewiesen und wurde der Bescheid vom 09.04.2020 vollinhaltlich bestätigt. Die belangte Behörde hielt ihre Begründung aufrecht und berücksichtigte als Grundlage für ihre Entscheidung die zum Entscheidungszeitpunkt im Herkunftsstaat des BF herrschende Covid-19-Situation. Da aber zum Entscheidungszeitpunkt nach dem damaligen Stand der Erkenntnisse zum Sars-Cov-2-Erreger insbesondere die ältere Bevölkerung sowie Immunschwache gefährdet gewesen seien, sei bei einer Rückkehr eine unmenschliche Situation nicht anzunehmen gewesen.
Mit Schriftsatz vom 22.05.2020 brachte der BF, vertreten durch den Verein für Menschenrechte fristgerecht einen Vorlagenantrag an das BVwG ein und verwies bei der Begründung auf die Beschwerde.
Die Beschwerdevorlage vom 25.05.2020 samt den verwaltungsbehördlichen Akten langte beim BVwG am 26.05.2020 ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Zur Person des BF
Der BF ist Staatsangehöriger von Somalia und gehört der Volksgruppe der Hawadle an. Er ist Muslim sunnitischen Glaubens. Die Identität und das Geburtsdatum des BF stehen nicht fest.
Der BF hat eine Großmutter, drei Schwestern sowie eine Mutter, die in seinem Herkunftsstaat Somalia wohnhaft sind, wobei der BF seit der Trennung seiner Eltern keinen Kontakt mehr mit seiner Mutter habe. Der BF hat einen Onkel in Belgien. Der BF hat keine Familienangehörige in Österreich.
Der BF nimmt seit Jänner 2020 an einem Deutschkurs im Verein MIT-MENSCHEN teil.
Der BF ist gesund und befindet sich nicht in Behandlung.
Der BF ist unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen
Das Vorbringen der Beschwerdeseite betreffend die Furcht des BF vor Verfolgung wird den Feststellungen mangels Glaubhaftmachung nicht zugrunde gelegt. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF in Somalia eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende Verfolgung droht.
1.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Somalia vom 31.05.2021, Version 4
Politische Lage
Süd-/Zentralsomalia, Puntland
Hinsichtlich der meisten Tatsachen ist das Gebiet von Somalia faktisch zweigeteilt, nämlich in: a) die somalischen Bundesstaaten; und b) Somaliland, einen 1991 selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird (AA 18.4.2021, S. 4f). Während Süd-/Zentralsomalia seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen war und ist, hat sich der Norden des Landes unterschiedlich entwickelt (BS 2020, S. 4).
Staatlichkeit: Somalia hat bei der Bildung eines funktionierenden Bundesstaates Fortschritte erzielt (UNSC 15.5.2019, Abs. 78), staatliche und regionale Regierungsstrukturen wurden etabliert (ISS 28.2.2019). Somalia hat in den vergangenen Jahren auf vielen Gebieten große Fortschritte erzielt. Der Staat ist etwa bei Steuereinnahmen effektiver geworden. Junge Somalis und Angehörige der Diaspora sind in der Zivilgesellschaft aktiv, und Mogadischu selbst hat sich stark verändert (BBC 18.1.2021). Somalia ist damit zwar kein failed state mehr, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind sehr schwach, es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt (AA 18.4.2021, S. 4f). Die Regierung verfügt kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen (FH 3.3.2021a, C1). Das Land befindet sich immer noch mitten im Staatsbildungsprozess (BS 2020, S. 33). Die Regierung ist bei der Umsetzung von Aktivitäten grundsätzlich stark von internationalen Institutionen und Geberländern abhängig (FH 3.3.2021a, C1). Eigentlich sollte die Bundesregierung auch die Übergangsverfassung noch einmal überarbeiten, novellieren und darüber ein Referendum abhalten. Dieser Prozess ist weiterhin nicht abgeschlossen (USDOS 30.3.2021, S. 23). Generell sind drei entscheidende Punkte abzuarbeiten: die Überarbeitung der Verfassung; der Aufbau der föderalen Architektur; und die Entwicklung eines angemessenen Wahlsystems. Der Stillstand zu Anfang des Jahres 2021 ist das Ergebnis des Versagens der Regierung Farmaajo, auch nur einen dieser Punkte zu lösen (ECFR 16.2.2021).
Regierung: Die Präsidentschaftswahl fand im Feber 2017 statt. Die beiden Parlamentskammern wählten den früheren Premierminister Mohamed Abdullahi Mohamed "Farmaajo" zum Präsidenten (AA 18.4.2021, S. 6; vgl. ÖB 3.2020, S. 2; USDOS 30.3.2021, S. 1/23). Seine Wahl wurde als fair und transparent erachtet (USDOS 30.3.2021, S. 1). Premierminister Hassan Ali Kheyre wurde mit einem Misstrauensvotum des Parlaments am 25.7.2020 seines Amtes enthoben (UNSC 13.8.2020, Abs. 5). Im September 2020 wurde Mohamed Hussein Roble als neuer Premierminister angelobt (UNSC 13.11.2020, Abs. 6). Seit Feber 2021 regiert Farmaajo ohne Mandat, seine Amtszeit ist abgelaufen (TNH 20.5.2021). Insgesamt verfügt die Regierung in der eigenen Bevölkerung und bei internationalen Partnern nur über wenig Glaubwürdigkeit. Das Vertrauen in den Staat ist gering (BS 2020, S. 34/40).
Parlament: Die beiden Kammern des Parlaments wurden mittels indirekter Wahlen durch ausgewählte Älteste Anfang 2017 besetzt (USDOS 30.3.2021, S. 1/23). Über 14.000 Wahlmänner und -frauen waren an der Wahl der 275 Abgeordneten beteiligt (AA 18.4.2021, S. 6; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 23). Beide Häuser wurden also in indirekten Wahlen besetzt, das Unterhaus nach Clanzugehörigkeit. Die Wahlen zu beiden Häusern wurden generell als von Korruption durchsetzt und geschoben erachtet (USDOS 30.3.2021, S. 1/23). Sie wurden von Schmiergeldzahlungen, Einschüchterungen, Stimmenkauf und Manipulation begleitet (BS 2020, S. 11). Dieses Wahlsystem ist zwar noch weit von einer Demokratie entfernt und unterstreicht die Bedeutung der politischen Elite (BS 2020, S. 20). Trotz allem waren die Parlamentswahlen ein bemerkenswerter demokratischer Fortschritt (AA 18.4.2021, S. 6; vgl. BS 2020, S. 20). Insgesamt erfolgte die Zusammensetzung des Unterhauses entlang der 4.5-Formel, wonach den vier Hauptclans jeweils ein Teil der Sitze zusteht, den kleineren Clans und Minderheiten zusammen ein halber Teil (USDOS 30.3.2021, S. 26f; vgl. ÖB 3.2020, S. 3; BS 2020, S. 11). Auch die Regierung ist entlang dieser Formel organisiert (ÖB 3.2020, S. 3). Insgesamt wird das Parlament durch Stimmenkauf entwertet, und es hat auf die Tätigkeiten von Präsident und Premierminister wenig Einfluss (BS 2020, S. 20).
Demokratie: Seit 1969 wurde in Somalia keine Regierung mehr direkt gewählt (FP 10.2.2021). Somalia ist keine Wahldemokratie und hat auch keine strikte Gewaltenteilung, auch wenn die Übergangsverfassung eine Mehrparteiendemokratie und Gewaltenteilung vorsieht (BS 2020, S. 11/15). Es gibt keine freien und fairen Wahlen auf Bundes- (USDOS 30.3.2021, S. 23f) und auch keine allgemeinen Wahlen auf kommunaler oder regionaler Ebene. Politische Ämter wurden seit dem Sturz Siad Barres 1991 entweder erkämpft oder unter Ägide der internationalen Gemeinschaft hilfsweise unter Einbeziehung nicht demokratisch legitimierter traditioneller Strukturen (v.a. Clanstrukturen) vergeben (AA 18.4.2021, S. 6). 2016 und 2017 konnten mit der Gründung der Bundesstaaten und einem relativ demokratischen Machtwechsel wichtige Weichen in Richtung Demokratisierung, legitimer Staatsgewalt und Föderalismus gestellt werden (AA 18.4.2021, S. 4). Die errungenen Fortschritte wurden von der Regierung Farmaajo allerdings weitgehend rückgängig gemacht (ECFR 16.2.2021).
Für 2021 vorgesehene Wahlen wurden zuerst verschoben (UNSC 13.8.2020, Abs. 7), bis es im September 2020 hinsichtlich des Prozederes zu einer Einigung mit den Bundesstaaten kam. Das vereinbarte Modell entsprach in etwa jenem von 2016. Dabei werden von Ältesten, Bundesstaaten und Vertretern der Zivilgesellschaft Wahldelegierte ausgesucht, welche wiederum die einzelnen Parlamentsabgeordneten wählen. Pro Abgeordnetem sollen 101 Wahlmänner und -Frauen ausgewählt werden (2016: 51). Statt der National Independent Electoral Commission soll die Wahl von sogenannten Electoral Implementation Committees (EIC) umgesetzt werden. Die Abgeordneten zum Oberhaus werden von den Parlamenten der Bundesstaaten ausgewählt (UNSC 13.11.2020, Abs. 2f; vgl. FP 10.2.2021). Neben einem 25köpfigen EIC des Bundes sollte zusätzlich in jedem Bundesstaat ein eigenes elfköpfiges EIC eingesetzt werden (UNSC 13.11.2020, Abs. 21). Dieses Modell war von allen relevanten politischen Stakeholdern, von Parteien und Vertretern der Zivilgesellschaft vereinbart und vom Bundesparlament ratifiziert worden (UNSC 13.11.2020, Abs. 88).
Aktuelle Politische Lage: Allerdings hatte sich um die Bestellung der Mitglieder dieser EICs ein neuer Konflikt entsponnen (FP 10.2.2021). Präsident Farmaajo war schließlich nicht in der Lage, sich mit Ahmed Madobe, Präsident von Jubaland, und Said Deni, Präsident von Puntland, auf die Umsetzung des im September 2020 vereinbarten Fahrplans für Neuwahlen zu einigen (IP 12.2.2021; vgl. FP 10.2.2021). Und so ist das Mandat des Parlaments im Dezember 2020 ausgelaufen (SG 8.2.2021), jenes von Präsident Farmaajo formell am 8.2.2021 (IP 12.2.2021; vgl. ECFR 16.2.2021). Damit verfügte Somalia im Feber 2021 plötzlich über keine legitime Regierung mehr, und Präsident Farmaajo weigerte sich sein Amt abzugeben (ECFR 16.2.2021).
Die Präsidenten von Puntland und Jubaland (FP 10.2.2021; vgl. Sahan 22.2.2021) sowie eine Allianz aus 14 Präsidentschaftskandidaten, darunter die ehemaligen Präsidenten Hassan Sheikh Mohamed und Sharif Sheikh Ahmed, haben Farmaajo danach nicht mehr als Präsidenten anerkannt (Sahan 9.2.2021b; vgl. IP 12.2.2021, FP 10.2.2021). Somalia stürzte in eine schwere Verfassungs- und politische Krise (Sahan 9.2.2021a). Dabei hat das Versagen, einen Kompromiss zu finden, nicht nur den demokratischen Prozess unterminiert, es hat die Sicherheit Somalias vulnerabel gemacht (FP 10.2.2021). Denn al Shabaab hat sich die politische Krise zu Nutzen gemacht und die Angriffe seit Anfang 2021 verstärkt (IP 12.2.2021).
Ende Feber und Anfang März 2021 wurden neuerliche Verhandlungen über eine Umsetzung des beschlossenen Wahlsystems angesetzt – auf Druck der internationalen Gemeinschaft (AMISOM 3.3.2021; vgl. UNSOM 2.3.2021). Die Verhandlungen verliefen ohne Ergebnis. Daraufhin hat das parlamentarische Unterhaus ein Gesetz verabschiedet, mit welchem die Legislaturperiode des Parlaments und auch die Amtszeit des Präsidenten um zwei Jahre verlängert wurden. Das National Salvation Forum - eine Allianz der Präsidentschaftskandidaten und der Präsidenten von Puntland und Jubaland - hat diesen Vorgang scharf zurückgewiesen. In der Folge kam es in Mogadischu zwischen Kräften der Regierung und Kräften der Opposition am 25.4.2021 zu Kampfhandlungen. Am 1.5.2021 wurde das Gesetz schließlich vom Parlament zurückgezogen und man kehrte zum Abkommen vom September 2020 zurück. Neuer Verantwortlicher für die Umsetzung der Wahlen ist nun Premierminister Roble. Dieser hat in Verhandlungen mit der Allianz der Präsidentschaftskandidaten am 5.5.2021 eine Einigung zur Entflechtung [Disengagement] bzw. zum Rückzug der jeweiligen bewaffneten Kräfte in ihre Stützpunkte erzielt (UNSC 19.5.2021, Abs. 3-11). Ende Mai 2021 wurden - nach enormem nationalen und internationalen Druck - Verhandlungen wieder aufgenommen. Maßgeblich verantwortlich dafür war wieder Premierminister Roble (TNH 20.5.2021). Am 27.5.2021 wurde eine Einigung verkündet, demnach sollen die Wahlen im Sommer 2021 stattfinden (BAMF 31.5.2021). Nach neueren Angaben sind die Präsidentschaftswahlen für den 10.10.2021 angesetzt (TSD 29.6.2021). Nun stolpert das Land also in Richtung eines stark verzögerten und komplexen Wahlvorganges, der wieder von Clanältesten getragen werden wird (BBC 31.5.2021). Derweil höhlt al Shabaab den immer noch angeschlagenen Staat in Somalia aus (ACCORD 31.5.2021, S. 8).
Föderalisierung: Auch wenn die Entscheidung zur Föderalisierung umstritten war, und die Umsetzung von Gewalt begleitet wurde, konnten neue Bezirks- und Regionalverwaltungen etabliert werden. Neben Puntland wurden in den letzten Jahren vier neue Bundesstaaten geschaffen: Galmudug, Jubaland, South-West State (SWS) und HirShabelle. Somaliland wird als sechster Bundesstaat erachtet (BS 2020, S. 10; vgl. AI 13.2.2020, S. 13). Offen sind noch der finale Status und die Grenzen der Hauptstadtregion Benadir/Mogadischu (Banadir Regional Administration/BRA) (AI 13.2.2020, S. 13). Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clanbalance: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (BFA 8.2017, S. 55f).
Grundsätzlich gibt es politische Uneinigkeit über die Frage, ob Bundesstaaten semi-autonom sein sollen oder ob mehr Macht bei der Bundesregierung zentralisiert sein soll (ISS 15.12.2020). Zahlreiche Befugnisse wurden nicht geklärt. Das betrifft die Verteidigung, welche militärischen Truppen und Polizeieinheiten vor Ort eingesetzt werden können, die Frage der Ressourcenverteilung, die Verteilung von internationalen Hilfsgeldern. Auch Entwicklungszusammenarbeitsprojekte werden über die Zentralregierung in Mogadischu abgewickelt, und die Verteilung auf die Regionen ist strittig, ebenso die Fragen, wer welche "Hoheiten" über welche Verträge hat (ACCORD 31.5.2021, S. 4).
Generell versuchte Farmaajo die Macht wieder zu zentralisieren (TNYT 14.4.2021). Dass in vier der fünf Bundesstaaten im Zeitraum 2018-2019 eine neue Führung gewählt werden sollte, sah die Bundesregierung als Chance, sich durch die Platzierung loyaler Präsidenten Einfluss zu verschaffen. Dementsprechend mischte sich die Bundesregierung in die Wahlen ein (HIPS 2020, S.1/4ff; vgl. ECFR 16.2.2021). So hat etwa der Geheimdienst NISA die Zusammensetzung von Wahlversammlungen manipuliert (TNYT 14.4.2021). Zudem hat sie Truppen entsendet, um die politische Kontrolle zu erlangen (ECFR 16.2.2021). Die Präsidenten von HirShabelle, dem SWS und von Galmudug gelten nunmehr als der somalischen Bundesregierung freundlich gesinnt (Sahan 11.2.2021b). Schließlich hat Farmaajo Somalia aber an den Rand eines institutionellen Kollaps’ geführt (ECFR 16.2.2021).
Bei der Auseinandersetzung zwischen Bundesregierung und Bundesstaaten kommt u. a. die Krise am Golf zu tragen: Der Konflikt zwischen den Vereinten Arabischen Emiraten (VAE) – unterstützt von Saudi-Arabien – und Katar – unterstützt von der Türkei – wurde auch nach Somalia exportiert und trägt dort erheblich zur Vertiefung der Spaltung bei (BS 2020, S. 41). Zudem leidet AMISOM an den Spannungen zwischen der Bundesregierung und dem Nachbarland Kenia sowie am Konflikt in Äthiopien – beide Staaten sind Truppensteller (ISS 15.12.2020).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (18.4.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2050118/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Januar_2021%29%2C_18.04.2021.pdf, Zugriff 23.4.2021
? ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 28.6.2021
? AI - Amnesty International (13.2.2020): "We live in perpetual fear": Violations and Abuses of Freedom of Expression in Somalia [AFR 52/1442/2020], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024685/AFR5214422020ENGLISH.PDF, Zugriff 25.2.2020
? AMISOM (3.3.2021): 3 March 2021 - Morning Headlines, Newsletter per E-Mail, Originallink auf Somali: https://puntlandpost.net/2021/03/01/guddiga-doorashooyinka-oo-ka-hadlay-ismari-waaga-doorashada/
? BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (31.5.2021): Briefing Notes,
https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw22-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Zugriff 21.6.2021
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Galmudug (Galgaduud, Teile von Mudug)
Galmudug wurde im Jahr 2015 geschaffen (HIPS 2021, S. 15). Der Bundesstaat wird vom Hawiye-Subclan der Habr Gedir-Sa'ad dominiert (EASO 2.2016, S. 17).
Ende 2017 wurde mit der Sufi-Miliz der Ahlu Sunna Wal Jama’a (ASWJ) ein Abkommen zur Machtteilung abgeschlossen (UNSC 15.5.2019, Abs. 7). Die Regierung von Galmudug konnte ihre Institutionen stärken, indem z. B. Clanmilizen entwaffnet und in Süd-Galkacyo eine Bezirksvertretung eingeführt wurde (UNSC 13.11.2020, Abs. 8). Im Juli 2019 zerbrach das Abkommen von 2017, es wurde durch ein sich auf Clans stützendes Machtteilungsabkommen ersetzt (USDOS 30.3.2021, S. 24).
Nach Jahren der Misswirtschaft und politischer Krisen hatte sich Galmudug 2020 eigentlich auf einen Neustart vorbereitet. Allerdings hat sich die Krise durch die mangelhafte Wahl nur noch verschlimmert (HIPS 2021, S. 15). Anfang 2020 war die Situation angespannt. Sowohl die ASWJ als auch Präsident Ahmed „Haaf“ haben parallele Präsidentschaftswahlen durchgeführt – in Dhusamareb und Galkacyo. Die Staatsversammlung in Dhusamareb wählte am 2.2.2020 Ahmed Abdi Kariye "Qoorqoor" zum Präsidenten (UNSC 13.2.2020, Abs. 9; vgl. IP 14.2.2020), während Ahmed "Haaf" dies anfocht (IP 14.2.2020). Nach Verhandlungen zwischen den beiden Opponenten konnte im April 2020 eine friedliche Amtsübergabe stattfinden – allerdings in Absenz der ASWJ. Zuvor waren im Feber 2020 Spannungen zwischen der Regionalregierung und der ASWJ zu schweren Kämpfen eskaliert (UNSC 13.5.2020, Abs. 9). Die Bundesregierung hat Qoorqoor so durch die Intervention der Bundesarmee das Amt als Präsident von Galmudug gesichert (PGN 10.2020, S. 6), das er nach den manipulierten Wahlen auch antrat. Er ist ein ehemaliger Minister der Bundesregierung, der Letztere offen unterstützt (HIPS 2021, S. 3/16). Die ASWJ hingegen ist de facto ausgeschaltet und zerschlagen (BMLV 25.2.2021).
Al Shabaab ist in dem Bundesstaat zunehmend aktiv (UNSC 13.11.2020, Abs. 8; vgl. BMLV 25.2.2021).
Quellen:
? BMLV - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (25.2.2021): Interview der Staatendokumentation mit einem Länderexperten
? EASO - European Asylum Support Office (2.2016): Somalia Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1158113/1226_1457606427_easo-somalia-security-feb-2016.pdf, Zugriff 14.12.2020
? HIPS - The Heritage Institute for Policy Studies (2021): State of Somalia Report 2020, Year in Review, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/SOS-REPORT-2020-Final-2.pdf, Zugriff 12.2.2021
? IP - Indigo Publications (14.2.2020): The Indian Ocean Newsletter No 1515 (kostenpflichtiges Abonnement)
? PGN - Political Geography Now (10.2020): Somalia Control Map & Timeline - October 2020, per e-Mail, mit Zugriffsberechtigung verfügbar auf: https://www.polgeonow.com/2020/10/somalia-map-of-al-shabaab-control.html
? UNSC - UN Security Council (13.11.2020): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2020/1113], https://www.ecoi.net/en/file/local/2041334/S_2020_1113_E.pdf, Zugriff 2.12.2020
? UNSC - UN Security Council (13.5.2020): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2020/398], https://www.ecoi.net/en/file/local/2030188/S_2020_398_E.pdf, Zugriff 13.10.2020
? UNSC - UN Security Council (13.2.2020): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2020/121], https://www.ecoi.net/en/file/local/2025872/S_2020_121_E.pdf, Zugriff 26.3.2020
? UNSC - UN Security Council (15.5.2019): Report of the Secretary-General on Somalia [S/2019/393], https://www.ecoi.net/en/file/local/2009264/S_2019_393_E.pdf, Zugriff 28.1.2021
? USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/SOMALIA-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 6.4.2021
Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten
Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen (ACLED 2021). Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, ist die Situation in Puntland und – in noch stärkerem Ausmaß – in Süd-/Zentralsomalia komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (LIFOS 9.4.2019, S.6).
Quellen:
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? LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (9.4.2019): Somalia - Folkbokförning, medborgarskap och identitetshandlngar, https://www.ecoi.net/en/file/local/2007147/190423300.pdf, Zugriff 17.3.2021
? PGN - Political Geography Now (10.2020): Somalia Control Map & Timeline - October 2020, per e-Mail, mit Zugriffsberechtigung verfügbar auf: https://www.polgeonow.com/2020/10/somalia-map-of-al-shabaab-control.html
Süd-/Zentralsomalia, Puntland
Die Sicherheitslage bleibt instabil (BS 2020, S. 38) bzw. volatil, mit durchschnittlich 275 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Monat. Die meisten Vorfälle gingen auf das Konto der al Shabaab. Dabei handelte es sich vorwiegend um sogenannte hit-and-run-Angriffe sowie um Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen (UNSC 19.5.2021, Abs. 14). Die österreichische Botschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem bewaffneten Konflikt (ÖB 3.2020, S. 2), während das deutsche Auswärtige Amt von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Zuständen berichtet (AA 18.4.2021, S. 4/8).
AMISOM hält in Kooperation mit der somalischen Armee, regionalen Sicherheitskräften sowie mit regionalen und lokalen Milizen die Kontrolle über die seit 2012 eroberten Gebiete. Während die somalische Regierung und ihre Alliierten zwar im Großen und Ganzen territoriale Gewinne verzeichnen und die Kontrolle über die meisten Städte halten können, ist es ihnen nicht gelungen, die Kontrolle in ländliche Gebiete auszudehnen (BS 2020, S. 6). Die somalische Regierung und AMISOM können keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land garantieren (AA 3.12.2020). Generell ist die Regierung nicht in der Lage, für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf AMISOM, aber auch auf Unterstützung durch die USA – angewiesen. Dies wird sich in den nächsten Jahren nicht ändern (IP 1.11.2019; vgl. BS 2020, S. 11). Weiterhin führt der Konflikt unter Beteiligung der genannten Parteien zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen (ÖB 3.2020, S. 2).
Trend: Im Zeitraum von Anfang 2018 bis zum Ende 2020 gab es hunderte terroristische Vorfälle. In den Jahren 2018 und 2019 war die Zahl an Vorfällen zunächst rückläufig – v.a. wegen der intensivierten Operationen gegen al Shabaab. Die Gruppe konnte dabei aus einigen strategisch wichtigen Punkten vertrieben werden – etwa von den fünf Shabelle-Brücken zwischen Sabid Anoole und Janaale (Sahan 11.2.2021a). Dadurch und durch verstärkte Sicherheitsmaßnahmen in Mogadischu konnte al Shabaab auch nur mehr selten Sprengstoffanschläge mit Fahrzeugen durchführen. Die Zahl an zivilen Opfern durch Sprengstoffanschläge ging demnach 2020 gegenüber 2019 um 50 % zurück (UNSC 17.2.2021, Abs. 13). Im Jahr 2020 haben sich aber zuletzt die Angriffe auf somalische Kräfte und AMISOM wieder gemehrt (Sahan 11.2.2021a; vgl. JF 28.7.2020).
Dies kann direkt mit den politischen Streitigkeiten zwischen Bund und Bundesstaaten in Zusammenhang gebracht werden, da dadurch für den Kampf gegen al Shabaab notwendige Ressourcen umgeleitet wurden (Sahan 11.2.2021a). Schon Anfang Feber 2021 befand sich die Sicherheitslage aufgrund des politischen Streits rund um das Ende der Präsidentschaft Farmaajos in einer Abwärtsspirale. Zudem hatten Sicherheitskräfte teilweise seit Monaten keinen Sold erhalten und hielten sich in Mogadischu und anderen Landesteilen an der Bevölkerung schadlos (SG 8.2.2021). Später im Jahr hatte die politische Krise eine Rückkehr zum Bürgerkrieg befürchten lassen (ICG 16.4.2021; vgl. HO 12.4.2021a; AJ 14.4.2021a). Viele Sicherheitskräfte sind v. a. ihrem Kommandanten oder ihrem Clan gegenüber loyal. So kann nicht nur die Regierung, sondern auch die Opposition Bewaffnete ins Feld stellen (Reuters 19.2.2021; vgl. AJ 14.4.2021a). Dies ist im April 2021 in Mogadischu auch geschehen, und es ist auch zu Kampfhandlungen gekommen (BBC 31.5.2021; vgl. TNH 20.5.2021).
Dahingegen stagniert der Kampf gegen al-Schabaab bereits seit mehreren Jahren (ACCORD 31.5.2021, S. 7). Laut Einschätzung eines Experten kann ein weiteres Zurückdrängen von al Shabaab durch AMISOM auf der aktuellen Grundlage nicht erwartet werden (BMLV 25.2.2021). In Lower Juba und Lower Shabelle kommt es nur noch sporadisch zu Störoperationen gegen al Shabaab (UNSC 13.11.2020, Abs. 60). In der Vergangenheit hat die Bundesarmee wiederholt dabei versagt, von AMISOM geräumte Gebiete auch tatsächlich abzusichern (UNSC 1.11.2019, S. 24). Trotzdem berät AMISOM die Übergabe weiterer Forward Operating Bases (FOBs) an die somalische Armee bzw. die Aufgabe einzelner FOBs (UNSC 13.11.2020, Abs. 61).
Entlang der Hauptversorgungsrouten hat al Shabaab die Angriffe auf Sicherheitskräfte verstärkt (USDOS 30.3.2021, S. 15). Von der politischen Krise hat al Shabaab - wie erwähnt - profitiert. Sicherheitskräfte wurden aus Frontgebieten abgezogen (Sahan 18.3.2021a). Die Gruppe sah sich schon zuvor durch den Abzug der USA und einen Teilabzug äthiopischer Kräfte gestärkt und als Sieger (ICG 16.4.2021). Al Shabaab gewinnt an Boden (TNYT 14.4.2021). Die Fähigkeit, mittlerweile auch die am sichersten eingestuften Ziele angreifen zu können, verdeutlicht dies umso mehr (JF 18.6.2021). Ein durch inneräthiopische Zwänge verursachter Rückzug äthiopischer Truppen aus Hiiraan, Galmudug und Gedo scheint möglich. Gerade in den letztgenannten Regionen ist al Shabaab zuletzt erstarkt und würde ein Vakuum rasch füllen (Sahan 1.7.2021a).
Ein Vordringen größerer Kampfverbände der al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch AMISOM und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i.d.R. mit Stützpunkten von Armee und AMISOM – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden (BMLV 25.2.2021).
Al Shabaab führt nach wie vor einen Guerillakrieg (USDOS 12.5.2021, S. 6). Al Shabaab bleibt die signifikanteste Bedrohung für Frieden und Sicherheit. Die Gruppe führt ihren Kampf mit zunehmender Intensität und Häufigkeit. Die Angriffe auf sogenannten high-profile-Ziele in Mogadischu und anderswo wurden verstärkt (HIPS 2021, S. 20). Angegriffen werden Regierungseinrichtungen, Behördenmitarbeiter, Sicherheitskräfte, internationale Partner und öffentliche Plätze – z.B. Restaurants und Hotels (FIS 7.8.2020, S. 25; vgl. AA 3.12.2020). Al Shabaab führt weiterhin regelmäßige Angriffe auf Regierungsstellungen durch. Vor allem der Korridor Mogadischu–Merka ist für Angriffe anfällig (PGN 10.2020, S. 2). Al Shabaab bleibt zudem weiterhin in der Lage, z.B. in Mogadischu koordinierte Angriffe durchzuführen. Die Zahl an Mörserangriffen ist zurückgegangen. Derartige Angriffe richten sich in erster Linie gegen AMISOM und regionale Sicherheitskräfte in Lower Juba, Lower Shabelle und Middle Shabelle (UNSC 13.11.2020, Abs. 12), aber auch in Hiiraan und Benadir (UNSC 13.8.2020, Abs. 19). Hingegen hat die Zahl an Selbstmordattentaten zugenommen. Es kommt auch weiterhin zu sogenannten komplexen Angriffen, etwa am 16.8.2020 auf das Elite Hotel in Mogadischu mit zwanzig Todesopfern oder am 17.8.2020 auf einen Stützpunkt der somalischen Armee in Goof Gaduud Burey (Bay) (UNSC 13.11.2020, Abs. 14); auf ein Restaurant in Xamar Jabjab am 5.3.2021 mit zehn Toten oder auf zwei Stützpunkte der Armee in Lower Shabelle (Bariire und Aw Dheegle) am 3.4.2021 (UNSC 19.5.2021, Abs. 15/18).
Kampfhandlungen: Die Kriegsführung der al Shabaab erfolgt weitgehend asymmetrisch mit sog. hit-and-run-attacks, Attentaten, Sprengstoffanschlägen und Granatangriffen. Das Gros der Angriffe wird mit niedriger Intensität bewertet – jedoch sind die Angriffe zahlreich, zerstörerisch und kühn (JF 28.7.2020). Im Zeitraum November 2020 bis Feber 2021 waren davon die Regionen Lower und Middle Shabelle, Benadir, Bay, Hiiraan, Bakool, Lower Juba, Gedo, Galgaduud und Mudug betroffen (UNSC 17.2.2021, Abs. 15). Im folgenden Quartal waren es Benadir sowie Lower und Middle Shabelle (UNSC 19.5.2021, Abs. 14). Bei Kampfhandlungen gegen al Shabaab, aber auch zwischen Clans oder Sicherheitskräften kommt es zur Vertreibung, Verletzung oder Tötung von Zivilisten (HRW 14.1.2020). In Teilen Süd-/Zentralsomalias (südlich von Puntland) kommt es regelmäßig zu örtlich begrenzten Kampfhandlungen zwischen somalischen Sicherheitskräften/Milizen bzw. AMISOM (African Union Mission in Somalia) und al Shabaab (AA 18.4.2021, S. 18; vgl. AA 3.12.2020). Dies betrifft insbesondere die Regionen Lower Juba, Gedo, Bay, Bakool sowie Lower und Middle Shabelle (AA 18.4.2021, S. 18). Der durch AMISOM und die somalische Armee in der Region Lower Shabelle auf al Shabaab ausgeübte militärische Druck hat dazu beigetragen, dass die Gruppe ihre Aktivitäten in HirShabelle und Galmudug verstärkt hat (UNSC 13.11.2020, Abs. 15). Zivilisten sind insbesondere in Frontbereichen, wo Gebietswechsel vollzogen werden, einem Risiko von Racheaktionen durch al Shabaab oder aber von Regierungskräften ausgesetzt (LIFOS 3.7.2019, S. 22). Die Bezirke Merka, Qoryooley und Afgooye sind nach wie vor stark von Gewalt betroffen, das Gebiet zwischen diesen Städten liegt im Fokus von al Shabaab (BMLV 25.2.2021).
Immer wieder überrennt al Shabaab kurzfristig kleinere Orte oder Stützpunkte - etwa Daynuunay oder Goof Gaduud im Bereich Baidoa - um sich nach wenigen Stunden oder Tagen wieder zurückzuziehen (PGN 10.2020, S. 9f). Andernorts greift al Shabaab Stützpunkte erfolglos an – etwa die FOB äthiopischer AMISOM-Truppen in Halgan im Feber 2021 (Halbeeg 22.2.2021).
Gebietskontrolle: Al Shabaab wurde im Laufe der vergangenen Jahre erfolgreich aus den großen Städten gedrängt (ÖB 3.2020, S. 2). Seit der weitgehenden Einstellung offensiver Operationen durch AMISOM seit Juli 2015 hat sich die Aufteilung der Gebiete nicht wesentlich geändert. Während AMISOM und die Armee die Mehrheit der Städte halten, übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes die Kontrolle aus oder kann dort zumindest Einfluss geltend machen (UNSC 1.11.2019, S. 10; vgl. ÖB 3.2020, S. 2; USDOS 12.5.2021, S. 6). Die Gebiete Süd-/Zentralsomalias sind teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle der al Shabaab oder anderer Milizen. Allerdings ist die Kontrolle der somalischen Bundesregierung im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen (AA 18.4.2021, S. 5).
Die Bundesregierung selbst besitzt kaum Legitimität und kontrolliert lediglich Mogadischu - und das nicht zur Gänze. In Baidoa und Jowhar hat sie stärkeren Einfluss (ACCORD 31.5.2021, S. 12). Ihre Verbündeten kontrollieren viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten. Der Aktionsradius lokaler Verwaltungen reicht oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß. Das "urban island scenario" besteht also weiterhin, viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und AMISOM sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben (BMLV 25.2.2021). Gegen einige dieser Städte unter Regierungskontrolle hält al Shabaab Blockaden aufrecht (HRW 14.1.2020). Al Shabaab ist in der Lage, Hauptversorgungsrouten abzuschneiden und Städte dadurch zu isolieren (UNSC 1.11.2019, S. 10; vgl. BMLV 25.2.2021).
Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia befinden sich unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss von al Shabaab (BMLV 25.2.2021). Die wesentlichen, von al Shabaab verwalteten und kontrollierten Gebiete sind
1. das Juba-Tal mit den Städten Buale, Saakow und Jilib; sowie Qunya Baarow in Lower Juba;
2. Teile von Lower Shabelle um Sablaale;
3. der südliche Teil von Bay mit Ausnahme der Stadt Diinsoor;
4. weites Gebiet recht und links der Grenze von Bay und Hiiraan, inklusive der Stadt Tayeeglow;
5. sowie die südliche Hälfte von Galgaduud mit den Städten Ceel Dheere und Ceel Buur; und angrenzende Gebiete von Mudug und Middle Shabelle, namentlich die Städte Xaradheere (Mudug) und Adan Yabaal (Middle Shabelle) (PGN 2.2021).
Dahingegen können nur wenige Gebiete in Süd-/Zentralsomalia als frei von al Shabaab bezeichnet werden – etwa Dhusamareb oder Guri Ceel. In Puntland gilt dies für größere Gebiete, darunter Garoowe (BMLV 25.2.2021).
Andere Akteure: Auch der Konflikt um Ressourcen (Land, Wasser etc.) führt regelmäßig zu Gewalt (BS 2020, S. 31). Zusätzlich wird die Sicherheitslage durch die große Anzahl lokaler und sogar föderaler Milizen verkompliziert (BS 2020, S. 7). Es kommt immer wieder auch zu Auseinandersetzungen somalischer Milizen untereinander (AA 3.12.2020) sowie zwischen Milizen einzelner Subclans bzw. religiöser Gruppierungen wie Ahlu Sunna Wal Jama’a (AA 18.4.2021, S. 18). Kämpfe zwischen (Sub-)Clans - vorrangig um Land und Wasser - gab es 2020 v.a. in Galmudug, Hiiraan, Lower und Middle Shabelle und Sool (USDOS 30.3.2021, S. 3f). Bei durch das Clansystem hervorgerufener (teils politischer) Gewalt kommt es auch zu Rachemorden und Angriffen auf Zivilisten (USDOS 30.3.2021, S. 13). Generell sind Clan-Auseinandersetzungen üblicherweise lokal begrenzt und dauern nur kurze Zeit, können aber mit großer – generell gegen feindliche Kämpfer gerichteter – Gewalt verbunden sein (LI 28.6.2019, S. 8).
Seit dem Jahr 1991 gibt es in weiten Landesteilen kaum wirksamen Schutz gegen Übergriffe durch Clan- und andere Milizen sowie bewaffnete kriminelle Banden (AA 18.4.2021, S. 18).
Der sogenannte Islamische Staat bleibt in Somalia in Puntland konzentriert, in Mogadischu gibt es nur eine minimale Präsenz. Größere Aktivitäten des IS gab es in Puntland in den Jahren 2016 und 2017. In Mogadischu richtet sich der IS mit gezielten Tötungen v.a. gegen Sicherheitskräfte (JF 14.1.2020). Für den Zeitraum Mai-August 2020 werden dem IS allerdings nur zwei Attacken – beide in Mogadischu – zugeschrieben (UNSC 13.8.2020, Abs. 24). Im Zeitraum August-Oktober 2020 (UNSC 13.11.2020, Abs. 16) sowie November 2020-Feber 2021 gab es keine Aktivitäten (UNSC 17.2.2021, Abs. 17), im Zeitraum Feber-Mai 2021 lediglich defensive Aktivitäten im eigenen Bereich (UNSC 19.5.2021, Abs. 19).
Zivile Opfer: Al Shabaab ist für einen Großteil der zivilen Opfer verantwortlich (siehe Tabelle weiter unten). Allerdings greift al Shabaab Zivilisten nicht spezifisch an. Doch auch wenn die Gruppe eigentlich andere Ziele angreift, enden oft Zivilisten als Opfer, da sie sich zur falschen Zeit am falschen Ort befunden haben (NLMBZ 3.2020, S. 17/37).
Allgemein ist die Datenlage zu Zahlen ziviler Opfer unklar und heterogen. Der Experte Matt Bryden veranschaulicht dies mit den Angaben mehrerer Organisationen. So gab es laut UNMAS (Mine Action Service) 2020 wesentlich weniger zivile Tote und Verletzte: 454 zu 1.140 im Jahr 2019. Dahingegen berichtet US-AFRICOM von 776 Vorfällen mit insgesamt 2.395 Opfern im Jahr 2020 und 676 Vorfällen mit 1.799 Opfern 2019. US-AFRICOM zählt zivile und militärische Opfer zusammen. Dementsprechend wären 2020 wesentlich mehr Sicherheitskräfte untern den Opfern gewesen als Zivilisten – ein Widerspruch zu den Angaben der UN, wonach Zivilisten die Hauptlast der Sprengstoffanschläge tragen würden. Dies wird auch von AMISOM bestätigt: Demnach richteten sich 2019 28% der Anschläge direkt gegen Zivilisten, 2020 waren es nur 20% (Sahan 6.4.2021a).
Bei einer geschätzten Bevölkerung von rund 15,4 Millionen Einwohnern (WHO 12.1.2021) lag die Quote getöteter oder verletzter Zivilisten in Relation zur Gesamtbevölkerung für Gesamtsomalia zuletzt bei 1:14064.
Luftangriffe: Im Jahr 2017 führten die USA 35 Luftschläge in Somalia durch, 2018 waren es 47 und 2019 63. Im Jahr 2020 ist die Zahl auf 51 gesunken. Die Luftangriffe auf al Shabaab und den IS, bei denen seit 2017 ca. 1.000 Kämpfer getötet worden sind (HIPS 2021, S. 21) konzentrierten sich vor allem auf die Regionen Lower Shabelle, Lower Juba, Middle Juba, Gedo und Bari (UNSC 13.8.2020, Abs. 24). Die Luftangriffe werden in der Regel mit bewaffneten Drohnen geflogen (PGN 10.2020, S. 8). Neben den offiziell bekannt gegebenen Luftschlägen kommen noch verdeckte hinzu. Zusätzlich führt auch die kenianische Luftwaffe Angriffe durch, vorwiegend in Gedo und Lower Juba (PGN 10.2020, S. 15ff). Insgesamt gab es demnach 2020 72 Luftangriffe, bei welchen die USA als Angreifer bestätigt sind oder vermutet werden (PGN 2.2021, S. 11).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (18.4.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2050118/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Januar_2021%29%2C_18.04.2021.pdf, Zugriff 23.4.2021
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.12.2020): Somalia – Reise- und Sicherheitshinweise – Reisewarnung, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/somalia-node/somaliasicherheit/203132#content_6, Zugriff 3.12.2020
? ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 28.6.2021
? AJ - Al Jazeera (14.4.2021a): Five things to know about Somalia’s political turmoil, https://www.aljazeera.com/news/2021/4/14/five-things-to-know-about-somalias-political-turmoil, Zugriff 16