TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/29 W253 2184429-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.10.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

29.10.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W253 2184429-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Jörg Clemens Binder als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundeamtes für Fremdenwesen und Asyl (in Folge kurz „BFA“) vom 19.12.2017, XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkte I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 29.10.2022 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. und VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in Folge kurz „BF“) stellte am 23.01.2016 vor Organen der LPD Steiermark einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Zuge der Erstbefragung am 23.01.2016 gab der Beschwerdeführer an, dass er von den Taliban verfolgt worden sei und immer wieder Drohbriefe erhalten habe. Die Taliban hätten gewollt, dass er gegen die afghanische Regierung kämpfe und als Selbstmordattentäter agiere. Dies hätte er nicht gewollt. Dari wurde als Muttersprache des BFs protokolliert.

3. Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 12.07.2017 gab der Beschwerdeführer an, dass er in seinem Heimatdorf 2 Jahre die Grundschule und danach die Koranschule besucht habe. Der Lehrer/Prediger sei den Taliban sehr positiv gegenüber eingestellt gewesen und habe gewollt, dass sich die Kinder den Taliban anschließen. Dann habe der Lehrer die Kinder zu den Taliban gebracht. Sie hätten dort Waffen in die Hände gelegt bekommen und Belehrungen über Bombenbau und Selbstmordattentate erhalten. Nach einer Nacht bei den Taliban hätte der BF wieder nach Hause gehen dürfen. Der Beschwerdeführer habe alles seinem Vater erzählt. Dieser habe den Beschwerdeführer daraufhin nicht mehr in die Koranschule geschickt und sich für 2-3 Tage zuhause versteckt. Die Taliban seien zum Haus der Familie gekommen und hätten nach dem Verbleib des Beschwerdeführers gefragt. Auch in der Moschee sei der Vater auf den Verbleib seines Sohnes angesprochen worden. In Folge dessen hätte sich der Vater des Beschwerdeführers entschlossen diesen mithilfe eines Schleppers ins Ausland zu bringen. Die Einvernahme fand auf Usbekisch statt.

4. Mit Bescheid vom 19.12.2017, Zl XXXX wies das Bundesamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.). und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für eine freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft des Bescheids festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Begründend führte das Bundesamt aus, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers sehr allgemein gehalten sei, nicht glaubwürdig sei und dem Beschwerdeführer kein subsidiärer Schutz zu gewähren sei, weil diesem eine Rückkehr nach Kabul als innerstaatliche Fluchtalternative zumutbar sei.

5. Gegen diesen Bescheid brachte Beschwerdeführer rechtzeitig Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (in Folge kurz „BVwG“) ein. In der Beschwerde wurde vorgebracht, dass die vom BFA dem Verfahren zu Grund gelegten Länderberichte veraltet seien und zu wenig auf die konkrete Situation des Beschwerdeführers eingehen würden. Die Beweiswürdigung des Bundesamtes sei mangelhaft. Es sei hinsichtlich der Detailliertheit der Schilderungen zu beachten gewesen, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der fluchtauslösenden Ereignisse noch minderjährig gewesen war. Kabul sei aufgrund der erheblichen Gefahren für Zivilisten keine zumutbare innerstaatlich Fluchtalternative. Es wurde beantragt dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen.

6. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 16.02.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. In dieser ersten mündlichen Verhandlung wendete der Beschwerdeführer ein, dass er auf Usbekisch und nicht Dari aussagen möchte, weil er nur seine Muttersprache Usbekisch so gut beherrsche, dass er sein Vorbringen richtig und vollständig darlegen könne. Die Verhandlung wurde daraufhin vertagt und am 29.03.2021 fortgesetzt.

7. Am 29.03.2021 langte am BVwG zudem eine Stellungnahme der Rechtsvertreterin via Web-ERV ein. In dieser wurde vorgebracht, dass die Situation im Herkunftsstaat dem BF aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage und der COVID Situation nicht zumutbar sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht auf Grundlage der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie durch ein Organ des BFA, dessen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem zur Entscheidung berufenen Richter sowie der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister, das Grundversorgungs-Informationssystem, das Länderinformationsblatt der Staatdokumentation sowie mehrerer aktueller Medienberichte fest. Aus den diesbezügliche Angaben und Informationen werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zu Grunde gelegt:

1. Feststellungen:

Zur Person:

Der Beschwerdeführer trägt den Namen XXXX alis XXXX , er wurde (fiktiv) am XXXX , XXXX , Afghanistan geboren, ist dort aufgewachsen und ist afghanischer Staatsangehöriger. Er ist Angehöriger der Volksgruppe der Usbeken und sunnitischer Moslem. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Usbekisch. Er spricht auch ein wenig Dari, Farsi und Türkisch. Der Beschwerdeführer ist in Österreich unbescholten.

Zum Fluchtgrund

Der BF wurde von den Taliban nicht rekrutiert und wird von diesen nicht verfolgt. Sein Vater und seine 2 älteren Brüder wurden nicht getötet. Seine Mutter und seine 2 jüngeren Brüder haben Afghanistan nicht verlassen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan im Falle einer Rückkehr keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt.

Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast. Die Taliban haben in Afghanistan die faktische Kontrolle übernommen. Sie konnten jedoch kein stabiles Gewaltmonopol aufbauen. Der Islamische Staat konnte am 26.08.2021 erfolgreich einen großen Anschlag am Flughafen Kabul verüben und damit die Fähigkeit der Taliban das Land zu kontrollieren ernsthaft in Frage stellen. Ein zweiter großer Sprengstoffanschlag auf den Flughafen Kabul konnte nur knapp verhindert werden. Selbst die Taliban warnen vor der hohen Gefahr weiterer Anschläge. Seit dem 27.08.2021 führen der USA Drohnenangriffe gegen IS Mitglieder in Afghanistan durch. Am 30.08.2021 feuerten Kämpfer des IS Raketen auf den Flughafen Kabul ab.

Im Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz XXXX droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen zwischen Taliban feindlichen Gruppierungen und Streitkräften der Taliban zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden. Des Weiteren besteht die Gefahr, dass die Taliban, sobald die internationale Aufmerksamkeit auf Afghanistan abnimmt, beginnen werden (willkürliche) Repressalien im Sinne von Körperstrafen und Tötungen gegen die Zivilbevölkerung auszuüben.

Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und der hochgradig instabilen Sicherheitslage mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

Dem Beschwerdeführer ist es auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat, Mazar-e-Sharif und Kabul, sowie quasi das ganze Land, nun von den Taliban eingenommen wurden.

Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

Aus dem Länderinformationsblatt für Afghanistan (Stand 16.12.2020) wird auszugsweise, soweit gegenständlich (noch) maßgeblich, wie folgt angeführt:

5.9. Faryab

Letzte Änderung: 14.12.2020

Die Provinz Faryab grenzt im Westen und Norden an Turkmenistan, im Osten an Jawzjan und Sar-e Pul, im Süden an Ghor und im Südwesten an Badghis und liegt im Nordwesten Afghanistans (UNOCHA Faryab 4.2014). Die Provinzhauptstadt ist Maimana. Faryab umfasst die folgenden Distrikte: Almar, Andkhoy, Bilchiragh, Dawlat Abad, Gurziwan, Khani Charbagh, KhwajaSabz Posh-i Wali, Kohistan, Maimana, Pashtun Kot, Qaram Qul, Qaisar, Qurghan, Shirin Tagab (NSIA 01.06.2020; vgl. IEC Faryab 2019). Die administrative Zugehörigkeit des Distrikts Ghormach wechselte in der Vergangenheit. Obwohl der Distrikt traditionell Teil von Badghis ist (AAN 22.02.2017), wurde er nach 2007 mitunter Faryab zugerechnet (AAN 22.02.2017; vgl. UNODC/MCN 11.2018). 2018 wurde angekündigt, dass die Verwaltungsangelegenheiten von Ghormach aus Sicherheitsgründen zurück nach Badghis transferiert würden (FRP 28.08.2018; vgl. NSIA 01.06.2020; IEC Faryab 2019).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Faryab im Zeitraum 2020-21 auf 1.109.223 Personen (NSIA 01.06.2020). Zusammen mit Sar-e Pul ist Faryab eine der beiden Provinzen mit usbekischer Mehrheit in Afghanistan. Darüber hinaus leben in der Provinz Tadschiken/Aimaqs, Paschtunen, Hazara, Moghol und andere kleinere Ethnien (AAN 17.03.2017; vgl. PAJ Faryab o.D.), wie zum Beispiel die Magats in Andkhoy (AAN 08.07.2020).

Ein Teil der Ring Road führt durch Faryab und verbindet die Provinz im Osten mit der Nachbarprovinz Jawzjan und schließlich Mazar-e Sharif in Balkh, sowie im Westen mit Badghis (TD 05.12.2017; vgl. LCA 04.07.2018). Trotz erheblicher Finanzierung seit 2005 waren im September 2017 nur rund 15% eines geplanten 233 Kilometer langen Abschnitts der Ring Road zwischen dem Distrikt Qaisar in Faryab und dem Ort Laman in Badghis fertiggestellt. SIGAR führte das Projektversagen hauptsächlich auf Sicherheitsprobleme zurück und schätzte die Aussichten auf eine zeitnahe Fertigstellung aufgrund zunehmender Unsicherheit in der Region als düster ein (SIGAR 6.2018) [zum jetzigen Zeitpunkt (11.2020) sind keine neueren Informationen zur Fertigstellung des Abschnitts bekannt, Anmerkung].

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Faryab hat strategische Bedeutung, da es die westlichen Teile Afghanistans mit dem Norden verbindet (AAN 17.03.2017). Faryab ist eine der unsicheren Provinzen des Landes, in denen die Taliban häufig Angriffe gegen Zivilisten, Regierungsbeamte und Sicherheitskräfte durchführen (KP 11.10.2020). Nach Einschätzung des Long War Journal standen die Distrikte Bilchiragh, Kohistan, Pashtun Kot, Qaram Qul und Shirin Tagab im Oktober 2020 unter Talibankontrolle, während die Distrikte Almar, DawlatAbad, Gurziwan, KhwajaSabz Posh-i Wali, Maimana, Qaisar und Qurghan umkämpft waren (LWJ o.D.). Der Distrikt Khani Charbagh an der Grenze zu Turkmenistan galt im Juli 2020 dagegen als vergleichsweise sicher (XI 19.07.2020).

Neben den Taliban sind noch weitere Gruppierungen in Faryab präsent: Das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU) operiert in Faryab, wo sie Verbindungen zu den Splittergruppen Islamischer Jihad und Khatiba Imam al-Bukhari (KIB) unterhält (UNSC 27.05.2020). Die zentralasiatische KIB hat eine Zelle in Faryab, welche aus etwa 70 Kämpfern besteht. Die KIB beteiligt sich aktiv an den Feindseligkeiten gegen die afghanischen Regierungstruppen (UNSC 20.01.2020; vgl. LWJ 07.07.2020). Der Islamische Staat bzw. Islamische Staat Provinz Khorasan (ISKP) hat eine verdeckte Präsenz mit bis zu 25 Kämpfern in Faryab (UNSC 04.02.2020).

Auf Regierungsseite befindet sich Faryab im Verantwortungsbereich des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps (USDOD 01.07.2020; vgl. NYT 14.08.2019), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 01.07.2020). Neben den regulären Regierungstruppen gibt es in Faryab so genannte „People's Uprising Forces“ („Khezesh-e mardomi“ (AB 02.09.2020)), welche gegen die Taliban kämpfen (AVA 29.09.2020; KP 09.10.2020) und mitunter Teil der Miliz von Abdul Rashid Dostum und der Partei Jumbesh sind (NYT 04.07.2018; AB 02.09.2020; vgl. NYT 17.12.2019).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung [...]

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 665 zivile Opfer (199 Tote und 466 Verletzte) in der Provinz Faryab. Dies entspricht einer Steigerung von 3% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von Luftangriffen und nicht explodierten Kampfmitteln (unexploded ordnance, UXO)/Landminen (UNAMA 2.2020). Im ersten Halbjahr 2020 zählte UNAMA 233 zivile Opfer in der Provinz, womit Faryab zu den Provinzen mit der höchsten Anzahl an zivilen Opfern zählte (UNAMA 7.2020). UNAMA berichtete zudem, dass die Taliban im Juni 2020 in Faryab eine öffentliche Hinrichtung durchführten, was vergleichsweise selten geschieht (UNAMA 7.2020; vgl. AVA 28.06.2020). Weiters wurde berichtet, dass die Taliban in von ihnen kontrollierten Gebieten in der Provinz nun wieder vermehrt als Moralpolizei auftreten und Gesangsdarbietungen sowie Musik bei Hochzeiten und Feiern wieder weitgehend verbieten (RFE/RL 22.09.2020).

Es kam zu Kämpfen und Angriffen in der Provinz (FRP 09.10.2020; UNOCHA 04.10.2020; UNOCHA 06.09.2020; UNOCHA 18.08.2020; UNOCHA 23.07.2020; BAMF 06.04.2020; BAMF 30.03.2020; BAMF 23.03.2020; BAMF 16.03.2020), als die Taliban Sicherheitsposten (NYTM 24.09.2020; NYTM 30.04.2020; RY 16.03.2020; NYTM 30.01.2020) - unter anderem auch in der Provinzhauptstadt (RY 29.09.2020; NYTM 24.09.2020) - eine Militärbasis (NYTM 30.07.2020) oder Distriktzentren angriffen (UNOCHA 23.07.2020; NYTM 30.04.2020; NYTM 30.01.2020). Die Regierungskräfte führten Operationen durch (TOI 05.09.2020; AT 31.08.2020; XI 24.05.2020), auch aus der Luft (RY 01.09.2020; XI 05.08.2020a; PAJ 02.01.2020).

Weiters wurde von Vorfällen mit lEDs, wie zum Beispiel Sprengfallen am Straßenrand (NYTM 30.04.2020; TN 23.02.2020), sowie auch von gezielten Tötungen (NYTM 30.07.2020; NYTM 30.04.2020) und Entführungen berichtet (BNA 21.07.2020; NYTM 30.04.2020). [...]

11.1 Rekrutierung durch regierungsfeindliche Gruppierungen

Letzte Änderung: 16.12.2020

UNAMA dokumentierte glaubwürdige Vorwürfe über die Rekrutierung von 26 Buben im Alter zwischen 12 und 17 Jahren durch regierungsfeindliche Gruppen (darunter pakistanische Taliban, afghanische Taliban und IS) im ersten HalbJahr 2019. Drei Buben wurden von regierungsnahen bewaffneten Gruppen und Sicherheitskräften als Leibwächter, als Waffenträger, für Patrouillen, für sexuelle Zwecke oder für alle vier Zwecke eingesetzt. In einzelnen Fällen wurden Kinder insbesondere in den südlichen Provinzen als Selbstmordattentäter, menschliche Schutzschilde oder Bombenleger eingesetzt (USDOS 11.03.2020; vgl. UNAMA 7.2020). Obwohl die Taliban eine interne Richtlinie haben, keine Kinder zu rekrutieren, gibt es Hinweise auf Kinderrekrutierungen, insbesondere postpubertärer Buben (EASO 6.2018). Die Taliban wenden, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 11.03.2020; vgl. EASO 6.2018, DAI/CNRR 10.2016), teilweise werden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht (EASO 6.2018). Im Jahr 2019 waren es laut UNAMA insgesamt 64 Jungen vor allem im Norden des Landes, welche durch die Taliban sowie durch afghanische Sicherheitskräfte rekrutiert wurden (UNAMA 7.2020; vgl. AA 16.07.2020). Während die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte bei der Verhinderung der Rekrutierung von Kindern Fortschritte gemacht haben, gibt der Einsatz von Kindern durch die afghanische Lokalpolizei und in geringerem Maße durch die afghanische Nationalpolizei weiterhin Anlass zur Sorge (UNAMA 7.2020).

Taliban

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban, enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anmerkung: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta /Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.06.2017). Die UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (UNAMA 7.2020).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.06.2017). Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.06.2017).

Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junge, desillusionierte Männer. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen.

Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.06.2017).

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats. Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook haben sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt, sie dienen auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LI 29.06.2017).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vgl. EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.08.2019).

Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind (LI 29.06.2017). Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen (LI 29.06.2017).

Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LI 29.06.2017).

18.4 Usbeken

Letzte Änderung: 16.12.2020

Die usbekische Minderheit ist die viertgrößte Minderheit Afghanistans und umfasst etwa 9% der Gesamtbevölkerung (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.b). Usbeken sind Sunniten und leben vorwiegend im Norden des Landes, wo sie gemeinsam mit den Turkmenen den größten Teil des landwirtschaftlich genutzten Bodens kontrollieren (MRG o.D.b). Sie siedeln sowohl im ländlichen Raum als auch in urbanen Zentren (Mazar-e Sharif, Kabul, Kandahar, Lashkargah u.a.), wo ihre Wirtschafts- und Lebensformen kaum Unterschiede zu Dari-sprachigen Gruppen aufweisen. In den Städten und in vielen ländlichen Gegenden beherrschen Usbeken neben dem Usbekischen in der Regel auch Dari auf nahezu muttersprachlichem Niveau. Heiratsbeziehungen zwischen Usbeken und Tadschiken sind keine Seltenheit (STDOK 7.2016).

Abdul Rashid Dostum ist der Anführer der usbekischen Minderheit in Afghanistan. Der ehemalige Warlord und einer der Anführer der Nordallianz (MRG o.D.d; vgl. FAZ 19.11.2001) ist inzwischen Erster Vizepräsident Afghanistans und befand sich von Mai 2017 bis Juli 2018 im Exil in der Türkei (SP 22.07.2018). Er kehrte 2018 nach Afghanistan zurück und unterstütze bei der Präsidentschaftswahl 2019 Ghanis Rivalen Abdullah. Als Teil des Abkommens zwischen Ghani und Abdullah wurde er zum Marshall befördert (WZ 15.07.2020).

Die usbekische Minderheit ist im nationalen Durchschnitt mit etwa 8% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (BI 29.09.2017).

24 Rückkehr

Letzte Änderung: 16.12.2020

In den letzten zehn Jahren sind Millionen von Migranten und Flüchtlingen nach Afghanistan zurückgekehrt. Während der Großteil der Rückkehrer aus den Nachbarländern Iran und Pakistan kommt, sinken die Anerkennungsquoten für Afghanen im Asylbereich in der Europäischen Union, und die Zahl derer, die freiwillig, unterstützt und zwangsweise nach Afghanistan zurückkehren, nimmt zu (MMC 1.2019). Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, da sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen (IOM 07.05.2020).

Von 01.01.2020 bis 12.09.2020 sind 527.546 undokumentierter Afghanen aus Iran (523.196) und Pakistan (4.350) nach Afghanistan zurückgekehrt - in der Woche vom 06.09.2020 bis 12.09.2020 waren es ca. 21.500 undokumentierte Rückkehrer (UNHCR 17.09.2020). Im gesamten Jahr 2018 kehrten, im Vergleich dazu, aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 nach Afghanistan zurück: 773.125 (laut AA 775.000) aus Iran und 32.725 (laut AA 46.000) aus Pakistan (IOM 05.01.2019, vgl. AA 16.07.2020). Die Anzahl der seit 01.01.2020 bis 31.07.2020 von IOM unterstützten Rückkehrer aus Iran (53.595) und Pakistan (1.731) beläuft sich auf 55.326 (IOM 29.08.2020).

Die freiwillige Rückkehr nach Afghanistan ist aktuell (Stand 24.09.2020) über den Luftweg möglich. Es gibt internationale Flüge nach Kabul, Mazar-e Sharif und Kandahar (IOM 23.09.2020; vgl. Flightradar 24.09.2020). Es sei darauf hingewiesen, dass diese Flugverbindungen unzuverlässig sind - in Zeiten einer Pandemie können Flüge gestrichen oder verschoben werden (IOM 23.09.2020).

Seit 12.08.2020 ist der Spin Boldak Grenzübergang an der pakistanischen Grenze sieben Tage in der Woche für Fußgänger und Lastkraftwagen geöffnet (UNHCR 12.09.2020). Der pakistanische Grenzübergang in Torkham ist montags und dienstags für Rückkehrbewegungen nach Afghanistan und zusätzlich am Samstag für undokumentierte Rückkehrer und andere Fußgänger geöffnet (UNHCR 12.09.2020).

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.04.2020, Reach 10.2017). Ohne familiäre Netzwerke kann es sehr schwer sein, sich selbst zu erhalten, da in Afghanistan vieles von sozialen Netzwerken abhängig ist. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme, und einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder nach Iran, Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.04.2020; vgl. Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen (STDOK 4.2018; vgl. STDOK 14.07.2020; IOM AUT 23.01.2020). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (AA 16.07.2020).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (IOM KBL 30.04.2020; vgl. MMC 1.2019, Reach 10.2017). Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.06.2019, IOM KBL 30.04.2020), auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.06.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (STDOK 4.2018).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird (AA 16.07.2020). UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (STDOK 13.06.2019).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (AA 16.07.2020) und auch IOM Kabul sind keine solchen Vorkommnisse bekannt (IOM KBL 30.04.2020) Andere Quellen geben jedoch an, dass es zu tätlichen Angriffen auf Rückkehrer gekommen sein soll (STDOK 10.2020; vgl. Seefar 7.2018), wobei dies auch im Zusammenhang mit einem fehlenden Netzwerk vor Ort gesehen wird (Seefar 7.2018). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (STDOK 13.06.2019).

Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen (STDOK 21.07.2020; vgl. STDOK 13.06.2020, STDOK 4.2018). Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab (AA 16.07.2020; vgl. IOM KBL 30.04.2020, STDOK 10.2020). Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, bleibt begrenzt und ist weiterhin von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig (USDOS 11.03.2020). Moscheen unterstützen in der Regel nur besonders vulnerable Personen und für eine begrenzte Zeit. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch. Deshalb versuchen sie in der Regel, so bald wie möglich wieder in den Iran zurückzukehren (STDOK 13.06.2019).

Viele afghanische Rückkehrer werden de-facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren (UNOCHA 12.2018). Trotz offenem Werben für Rückkehr sind essenzielle Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit in den grenznahen Provinzen nicht auf einen Massenzuzug vorbereitet (AAN 31.01.2018). Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (UNOCHA 12.2018).

2. Beweiswürdigung:

Zur Person:

Die Feststellung zum (fiktiven) Geburtsdatum des BF ergibt sich aus dem medizinischen Sachverständigengutachten erstellt von XXXX (AS 107ff). Die Feststellungen zum Namen, Staatsangehörigkeit Volksgruppe, Religion und der Herkunft des BF ergeben sich aus dessen gleichbleibenden Angaben im Verwaltungsverfahren sowie vor dem BVwG (AS 11, 485, 729 und VHP S. 6 [Anmerkung: Ist nicht gesondert das Datum des VHP angeführt, ist die Verhandlung vom 29.03.2021 gemeint])

Die Feststellungen zu den Sprachkenntnissen des BF ergeben sich aus dessen Angaben im Verwaltungsverfahren sowie vor dem BVwG (AS 11, 481ff, 503 und VHP vom 16.02.2021 S. 2f)

Die Feststellung zur Unbescholtenheit ergibt sich aus der Einsicht in den Strafregisterauszug (OZ 21).

Zum Fluchtgrund Verfolgung durch die Taliban:

Die Schilderungen des Beschwerdeführers weisen eklatante Widersprüche auf.

In der Verhandlung vor dem BVwG gab der BF an, dass er am Anfang des Jahres 2017 einen Telefonanruf von seiner Mutter erhalten habe (VHP S. 7). Sie hätte ihm mitgeteilt, dass der Vater und die 2 älteren Brüder des BF getötet worden seien und, dass sie mit den anderen 2 Brüdern Afghanistan verlassen habe. Wohin wisse der BF nicht. Es sei der letzte Kontakt gewesen, den er mit seiner Mutter gehabt habe. Dies hätte er auch im Zuge der Einvernahme vor dem BFA am 12.07.2017 vorgebracht. Der Dolmetsch hätte dies jedoch nicht verstanden.

Zur den behaupteten Verständigungsschwierigkeiten ist auszuführen, dass dem Beschwerdeführer seine Einvernahme vom 12.07.2017 wortwörtlich rückübersetzt wurde und er explizit bestätigte den Dolmetsch einwandfrei verstanden zu haben (AS 503). Im Lichte des Umstandes, dass der BF bei der Einvernahme am 12.07.17 selbst anmerkte (AS 483), dass es bei einer vorausgegangen Befragung Probleme gegeben haben soll, ist nicht ersichtlich, wieso der BF am 12.07.2017 leichtfertig die einwandfreie Verständigung und die Rückübersetzung bestätigt haben sollte. Darüber hinaus sind die Diskrepanzen so groß, dass sie selbst mit erheblichen Übersetzungsfehlern nicht mehr erklärt werden könnten.

Siebenmal antwortete der Beschwerdeführer auf eine Art, die nur den Schluss zulässt, dass der Vater und die Brüder des Beschwerdeführers am 12.07.2017 noch lebten und auch dessen restliche Familie bis dahin Afghanistan nicht verlassen hatte. Keine der Antworten des BF in der Einvernahme am 12.07.2017 gibt den leisesten Hinweis auf eine Tötung von Familienmitgliedern bzw. eine Flucht der übrigen Familienmitglieder aus Afghanistan

LA: Unter welchen Umständen und mit wem lebten Sie dort? BF: Mit meinen Eltern, mit meinem Vater und meiner Mutter. Es war ein großes Haus mit vier Zimmer. Zwei jüngere Brüder und zwei ältere Brüder lebten auch dort. Nachgefragt gebe ich an, dass das ein Eigentumshaus der Eltern war. (AS 485 Abs. 5)

LA: Welche Angehörigen haben Sie jetzt noch in Ihrer Heimat? BF: Vier Brüder, zwei ältere Brüder und zwei jüngere Brüder. Wir sind zu fünft. Auch meine Eltern habe ich noch im Heimatland. (AS 485 Abs. 6)

LA: Wo halten sich Ihre Angehörigen aktuell auf? BF: Zuhause in meinem Heimatdorf XXXX . (AS 485 Abs. 7)

LA: Wovon bestreiten Ihre Angehörigen den Lebensunterhalt? BF: Sie leben von der Landwirtschaft und eine Gärtnerei. Sie bauen Weizen sowie Obst und Gemüse an. (AS 487 Abs. 3)

LA: Wer ist der Miteigentümer der landwirtschaftlichen Grundstücke? BF: Mein Vater hat Kontakt zu ihm, ich kenne ihn nicht. (AS 487 Abs. 6)

LA: Wie funktioniert eine Kalaschnikow? Können Sie das kurz erklären? BF: […] Die Taliban kommen immer noch zu uns nach Hause und fragen meinen Vater, wo ich mich jetzt befinde. Sie lassen meine Eltern nicht in Ruhe und fragen immer wieder nach mir. […] (AS 497 Abs. 2)

LA: Hatten Sie noch weitere Fluchtgründe? BF: Mein einziger Grund sind die Taliban. Ich wurde von Ihnen verfolgt. Sie kommen immer noch zu uns nach Hause und fragen meine Eltern nach mir. (AS 499 Abs. 1)

Es ist, ob des Stils und der Spezifität der Antworten, nicht glaubhaft, dass bei allen oben angeführten Antworten des BF die Tötung bzw. Flucht seiner Familienangehörigen, als Folge eines Übersetzungsfehlers, unter den Tisch gefallen sind. Daher ist davon auszugehen, dass der BF seine Geschichte abgeändert hat.

Auf die Nachfrage des Richters in der mündlichen Verhandlung konnte der BF die massiven Widersprüche nicht auflösen, sondern beschränkte sich lediglich darauf schon bei der Einvernahme durch das BFA von der Tötung bzw. Flucht seiner Familienmitglieder erzählt zu haben, dies sei aber vom Dolmetsch nicht verstanden worden.

Die Schilderung darüber, wie er von der Tötung bzw. Flucht seiner Angehörigen erfahren haben will ist äußerst kurz und oberflächlich. (VHP S. 7)

RI: Woher wissen Sie von der Ermordung Ihres Vaters und Ihres Bruders und woher wissen Sie davon, dass Ihre Mutter mit Ihren restlichen Geschwistern aus AFG geflüchtet ist?

BF: Von einer unbekannten Nummer hat mich meine Mutter im 2. Monat des Jahres 2017 angerufen. Sie hat gesagt, dass mein Vater und meine zwei Brüder getötet worden sind und sie mit meinen zwei Brüdern AFG verlassen hätte.

RI: Wohin ist sie geflüchtet?

BF: Das ist mir nicht bekannt. Ich weiß nicht, ob sie im Iran oder in Pakistan ist.

Es wirkt unglaubwürdig, dass jemand ein derart einschneidendes Erlebnis wie den beschrieben Anruf nur so trocken, knapp und oberflächlich schildert.

Es fällt auf, dass der BF bei Fragen zum Aufenthalt im Taliban-Camp ausweichende Antworten gab (AS 495 Abs. 5 und VHP S 8. „RI Wie sprengt man sich in die Luft?“). Der BF lenkte immer wieder auf die Aspekte, dass er nur einen Tag im Camp gewesen sei, es seinem Vater erzählt habe, dieser ihn versteckt und wegschickt habe und, dass die Taliban regelmäßig nach ihm fragen würden. Fragen zu Erinnerung an den Camp-Aufenthalt wich er aus oder ging nur darauf ein, nachdem ein zweites Mal gefragt wurde. Es wirkt so als hätte der BF Geschichte einstudiert und wolle den Fokus der Befragung auf diesen Aspekten lassen.

Des Weiteren scheint es unwahrscheinlich, dass die Taliban einen 18-jährigen Mann ohne militärische Erfahrung oder militärisch nützlichen Fähigkeiten derart aggressiv rekrutieren, wie es der BF behauptet hat. Den Länderberichten ist zu entnehmen, dass es den Taliban grundsätzlich nicht an Freiwilligen fehlt und Zwangsrekrutierung eher nur bei Personen vorkommen die den Taliban nützliches militärisches Wissen oder Fähigkeiten bringen (LIB vom 16.12.2020 S. 232).

Aufgrund der teilweise inadäquat oberflächlichen Schilderungen und aufgrund der massiven Widersprüche bezüglich des Verbleibs seiner Angehörigen bzw. deren Begegnungen mit den Taliban, war das Fluchtvorbringen als nicht glaubhaft zu beurteilen.

Zu einer Verfolgung wegen „Verwestlichung“:

Dafür, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines Aufenthalts in Europa und einer allfälligen „Verwestlichung“ seines Lebensstils psychischer und/oder physischer Gewalt oder anderen erheblichen Eingriffen ausgesetzt wäre, bestehen keine Anhaltspunkte. Dass dem BF, eine konkret gegen ihn gerichtete physische und/oder psychische Gewalt oder andere erhebliche Eingriffe drohen würden, wurde von diesem auch nicht vorgebracht.

Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan hauptsozialisiert, lebte bis zu seiner Ausreise in einem afghanischen Familienverband eingebettet und spricht mehr als eine in Afghanistan weit verbreitete Sprache.

Vor diesem Hintergrund kann nicht erkannt werden, dass dem Beschwerdeführer aufgrund einer „Verwestlichung“ eine konkrete Verfolgungsgefahr in Afghanistan drohen würde. Dass jeder afghanische Staatsangehörige, der sich einige Jahre in Europa aufgehalten hat, im Falle einer Rückkehr alleine aus diesem Grund einer Verfolgung ausgesetzt wäre, ergibt sich auch aus der Berichtslage nicht. Aus den vorhandenen Länderberichten sowie dem notorischen Amtswissen ist nicht ableitbar, dass alleine eine westliche Geisteshaltung bei Männern bereits mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung asylrelevanter Intensität auslösen würde; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt dafür nicht (so z.B. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185, mwN).

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass im vorliegenden Fall Eingriffe von asylrelevanter Intensität wegen eines möglichen „westlichen Lebensstils“ des männlichen Beschwerdeführers bzw. wegen seines Aufenthalts im „westlichen Ausland“ bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten wären.

Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur Machtübernahme der Taliban und aktuellen Verschlechterung der Sicherheitslage in ganz Afghanistan ergeben sich aus der Einsicht in die „Kurzinformation der Staatendokumentation Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan Stand: 20.8.2021“, Einsicht das Kartenmaterial der https://afghanistan.liveuamap.com vom 31.08.2021, Einsicht in die Nachrichtenartikel am 31.08.2021 Kabul: US-Militär fliegt Luftangriff gegen IS | tagesschau.de der deutschen Tagesschau, Mehrere Raketen auf Flughafen Kabul abgefeuert | DiePresse.com der „Presse“ sowie Kabul: Raketenangriff auf Flughafen abgewehrt - news.ORF.at des ORF.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1.    Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

§ 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:

„Status des Asylberechtigten

§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1.         dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2.         der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

…“

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0370). Verlangt wird eine "Verfolgungsgefahr", wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; 26.02.2002, 99/20/0509, mwN; 17.09.2003, 2001/20/0177) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH vom 22.03.2000, 99/01/0256, mwN).

Nach der Rechtsprechung des VwGH ist der Begriff der "Glaubhaftmachung" im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften iSd ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der [Beschwerdeführer] die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, dh er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG § 45 Rz 3 mit Judikaturhinweisen). Die "Glaubhaftmachung" wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der "hierzu geeigneten Beweismittel", insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 19.03.1997, 95/01/0466). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).

Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

Der Beschwerdeführer stütze sein Fluchtvorbringen primär auf die Furcht vor Verfolgung durch die Taliban, die ihn aufgrund seiner Weigerung für sie zu kämpfen bedroht suchen und töten wollen würden. Dem Vorbringen des Beschwerdeführers kommt jedoch, wie bereits in der Beweiswürdigung dargelegt, keine Glaubwürdigkeit zu, allen voran konnte er die vorgebrachten Ereignisse nicht glaubhaft machen.

Da es, wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt, im Herkunftsstaat nicht gleichsam systematisch zu Übergriffen gegen Personen kommt, die – wie es auch beim Beschwerdeführer der Fall wäre – aus dem westlichen Ausland nach Afghanistan zurückkehren, war auch nicht davon auszugehen, dass ihm aufgrund seiner Eigenschaft als „Rückkehrer“ automatisch Verfolgung droht.

Es ist dem Beschwerdeführer daher nicht gelungen, eine aktuelle, persönlich gegen ihn gerichtete asylrelevante Verfolgung oder Bedrohung in seinem Heimatstaat Afghanistan glaubhaft zu machen, weswegen die gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides erhobene Beschwerde als unbegründet abzuweisen war.

3.2.    Zu Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten

§ 8 AsylG lautet auszugsweise:

„Status des subsidiär Schutzberechtigten

§ 8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,

1.       der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

2.       dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht.

…“

Gemäß Art. 2 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Die Protokolle Nr. 6 und Nr. 13 zur Konvention betreffen die Abschaffung der Todesstrafe.

Unter realer Gefahr in diesem Sinne ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr ("a sufficiently real risk") möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (VwGH vom 19.02.2004, 99/20/0573).

Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können (VwGH vom 31.10.2019, Ra 2019/20/0309).

Für die zur Prüfung der Notwendigkeit von subsidiärem Schutz erforderliche Gefahrenprognose ist bei einem nicht landesweiten bewaffneten Konflikt auf den tatsächlichen Zielort des Beschwerdeführers bei seiner Rückkehr abzustellen. Dies ist in der Regel seine Herkunftsregion, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. EuGH 17.02.2009, C-465/07, Elgafaji; VfGH 13.09.2013, U370/2012; VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0029).

Die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers ist auf Grund der dort herrschenden allgemeinen Sicherheitslage volatil. Aus diesem Grund könnte eine Rückführung des Beschwerdeführers in diese Region für ihn mit einer ernstzunehmenden Gefahr für Leib und Leben verbunden sein, weshalb ihm eine Rückkehr dorthin nicht möglich ist.

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht.

§ 11 AsylG lautet:

„Innerstaatliche Fluchtalternative

§ 11. (1) Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

(2) Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.“

Für die Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative sind zwei getrennte und selbständige Voraussetzungen zu prüfen (UNHCR, Kapitel III. C). Zum einen ist zu klären, ob in dem als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und Schutz vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG die Gewährung von subsidiären Schutz rechtfertigen würden, gegeben ist. Das als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet muss zudem sicher und legal zu erreichen sein (VwGH vom 23.01.2018, Ra 2018/18/0001; VwGH vom 08.08.2017, Ra 2017/19/0118). (Analyse der Relevanz). Von dieser Frage ist getrennt zu beurteilen, ob dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann, bzw. dass von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in dem betreffenden Gebiet niederzulassen (Analyse der Zumutbarkeit).

Ob dem Asylwerber ein Aufenthalt in einem bestimmten Gebiet des Herkunftsstaates zugemutet werden kann, hängt von mehreren Faktoren ab, insbesondere von persönlichen Umständen des Betroffenen, der Sicherheit, der Achtung der Menschenrechte und der Aussichten auf wirtschaftliches Überleben. Es muss möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute des Asylwerbers führen können. Ein voraussichtlich niedrigerer Lebensstandard oder eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation sind keine ausreichenden Gründe, um ein vorgeschlagenes Gebiet als unzumutbar abzulehnen. Die Verhältnisse in dem Gebiet müssen aber ein für das betreffende Land relativ normales Leben ermöglichen (VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001; VwGH vom 30.01.2018 Ra 2018/18/0001).

Im Fall des Beschwerdeführers ist weiters auszuführen, dass nunmehr sowohl Kabul als auch Herat an die Taliban gefallen sind und die Taliban folglich den Krieg in Afghanistan für beendet erklärt haben. Dementsprechend liegen in diesen beiden Städten als auch in der Stadt Mazar-e Sharif Bedingungen vor, die gemäß § 8 Abs. 1 AsylG die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen. Dies deshalb, weil nun die aufständischen Taliban mit der Übernahme der Hauptstadt Kabul und der Flucht des Präsidenten aus Afghanistan die Herrschaft über ganz Afghanistan übernommen haben. Dementsprechend kann auch nicht mehr von einer bestehenden innerstaatlichen Fluchtalternative ausgegangen werden (siehe dazu UNHCR Position zu Afghanistan 08/2021).

Denn laut den Richtlinien des UNHCR müssen die schlechten Lebensbedingungen sowie die prekäre Menschenrechtslage von intern vertriebenen afghanischen Staatsangehörigen bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative berücksichtigt werden, wobei angesichts des Zusammenbruchs des t

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten