TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/8 W250 2183898-2

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Veröffentlicht am 08.11.2021
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Entscheidungsdatum

08.11.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W250 2183898-1/26E

W250 2183898-2/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH,

I.

gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.12.2017, Zl. XXXX wegen §§ 3, 8 und 57 AsylG 2005, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides vom 13.12.2017 wird gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs 1 und 2 VwGVG iVm § 8 Abs 1 Z 1 AsylG 2005 stattgegeben und dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

Gemäß § 28 Abs 1 und 2 VwGVG iVm § 8 Abs 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

III. Die Spruchpunkte III. bis IV. des angefochtenen Bescheides werden gemäß § 28 Abs 1 und 2 VwGVG aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

II.

gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.10.2019, Zl. XXXX , wegen § 10 AsylG 2005 und §§ 46, 52 und 55 FPG 2005, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid vom 17.10.2019 wird ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:
I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, stellte als Minderjähriger am 28.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Am 29.12.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass sein Vater in Afghanistan von den Taliban festgenommen, gefoltert und schwer verletzt worden sei, sie hätten seine Hand mit Säure verbrannt und er sei jetzt arbeitsunfähig. Im Alter von XXXX Jahren sei der Beschwerdeführer mit seiner Familie in den Iran gezogen wo sie illegal gelebt hätten. Aus Furcht davor, dass der Beschwerdeführer nach Afghanistan abgeschoben wird, und weil er in Afghanistan niemanden habe, hätten ihn seine Eltern nach Europa geschickt.

3. Am 25.10.2017 fand eine Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Weiteren bezeichnet als Bundesamt bzw. belangte Behörde) statt, in welcher der Beschwerdeführer zu seiner Identität und seinem Leben in Afghanistan und im Iran befragt wurde. Dabei gab er im Wesentlichen an, er habe von seiner Mutter erfahren, dass sein Vater in Afghanistan von den Taliban inhaftiert und gefoltert worden sei, weil er Hazara sei. Deswegen und aus Angst um ihr Leben habe die Familie das Land verlassen. Sein Vater habe nie darüber gesprochen, habe aber durch die Folter Verletzungen erlitten und könne jetzt keiner schweren Arbeit mehr nachgehen. Der Beschwerdeführer sei im Iran aufgewachsen, in Afghanistan kenne er niemanden, bei einer Rückkehr habe er Angst um sein Leben. Aus Angst vor einer Abschiebung nach Afghanistan oder einer Rekrutierung für den Syrienkrieg habe er den Iran verlassen.

Vom Beschwerdeführer wurden folgende Unterlagen vorgelegt: Rechnung und Anmeldung zum Pflichtschulabschluss-Kurs vom 04.09.2017 (AS 231), eine Teilnahmebestätigung zum Deutschkurs A2.1 vom 23.08.2017 (AS 233), eine Teilnahmebestätigung zum Deutschkurs A1, A2 vom 10.05.2017 (AS 235), eine Urkunde vom XXXX vom 11.09.2016 (AS 237), eine Bestätigung über den Besuch eines Kurses zum Pflichtschulabschluss vom 20.10.2017 (AS 239).

4. Am 25.10.2017 gab die rechtliche Vertretung des Beschwerdeführers eine Stellungnahme zu dem ins Verfahren eingebrachten Länderinformationsblatt ab. In dieser wurde im Wesentlichen vorgebracht eine Rückkehr nach Afghanistan verletze Art. 3 EMRK, der Status des subsidiär Schutzberechtigten sei dem Beschwerdeführer zu gewähren.

5. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 13.12.2017, zugestellt am 18.12.2017, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers vom 28.12.2015 auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 Asylgesetz 2005 – AsylG (Spruchpunkt I.) als auch jenen auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 9 Abs 3 BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG wurde festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung vorübergehend unzulässig ist (Spruchpunkt IV.).

Die belangte Behörde führte begründend im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer habe keine Bedrohung oder Verfolgung seiner Person in seinem Heimatland im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention oder aus sonstigen Gründen glaubhaft gemacht. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung habe nicht festgestellt werden können. Weiters wurde ausgeführt, der Beschwerdeführer sei in Kabul geboren und eine Rückkehr dorthin sei ihm zumutbar. Auch liege keine Gefährdungslage in Bezug auf die Heimatprovinz XXXX vor. Der Beschwerdeführer sei alphabetisiert und könne jahrelange Berufserfahrung vorweisen, er könne daher bei einer Rückkehr für seinen Unterhalt sorgen. Ein schützenswertes Privatleben wurde nicht festgestellt.

Aufgrund der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers und weil daher eine „mögliche Gefährdung bei einer innerstaatlichen Änderung seines Lebensmittelpunktes nicht gänzlich ausgeschlossen“ sei, ergebe sich im Fall des Beschwerdeführers die vorübergehende Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung. Der Beschwerdeführer sei als junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann aufgetreten. Bis zum Erreichen seiner Volljährigkeit mit dem XXXX werde die Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs 3. BFA-VG für vorübergehend unzulässig erklärt.

6. Mit Schreiben vom 12.01.2018 erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch das Land XXXX als Kinder- und Jugendhilfeträger, dieses vertreten durch den Verein Menschen Leben, fristgerecht vollumfängliche Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 13.12.2017. Darin beantragte er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, die Gewährung des Status des Asylberechtigten, in eventu des subsidiär Schutzberechtigten, in eventu die Feststellung, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, in eventu den Bescheid zu beheben und an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

In der Beschwerde wurde vorgebracht, der Beschwerdeführer sei aufgrund seiner Minderjährigkeit vulnerabel und dies würde auch nicht mit dem Tag des Erreichens der Volljährigkeit sofort enden. Seine Minderjährigkeit sei im Zuge der gesamten Beweiswürdigung des Fluchtvorbringens nicht bedacht worden. Er werde bei einer Rückkehr aufgrund der Bedrohung der Taliban seinem Vater gegenüber verfolgt, sowie als Angehöriger der schiitischen Hazara bedroht und es drohe ihm Gefahr als verwestlichter Rückkehrer aus Europa. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei ihm nicht zumutbar.

7. Am 22.01.2018 langte die Beschwerdevorlage betreffend das Verfahren 2183898-1 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

8. Mit Beschluss des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.09.2018 wurde die gegenständliche Rechtssache neu zugewiesen.

9. Am 23.09.2019 wurde der Beschwerdeführer von der belangten Behörde zur Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung niederschriftlich einvernommen. Er gab an, er habe in Österreich Deutschkurse und die Pflichtschule besucht, bereits gearbeitet, spiele XXXX , habe unter Depressionen gelitten und werde in drei Monaten zu arbeiten beginnen. Seine ganze Familie lebe im Iran, in Afghanistan kenne er niemanden. Weil sein Vater in Afghanistan Feinde habe, könne der Beschwerdeführer dorthin nicht zurückkehren.

Er legte ein Konvolut an weiteren Unterlagen, seine Integrationsbemühungen betreffend vor: eine Bestätigung über die Teilnahme XXXX vom 20.11.2018, Teilnahmebestätigungen vom Verein XXXX aus dem Jahr 2017, weitere Kursteilnahmebestätigungen aus den Jahren 2017 und 2018, mehrere A2. 1 Deutschkurs-Teilnahmebestätigungen aus dem Jahr 2017, eine Bestätigung eines XXXX vom 31.05.2017, sowie mehrere Bestätigungen der XXXX aus dem Jahr 2017 über die medizinische Betreuung des Beschwerdeführers.

10. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 17.10.2019, zugestellt am 22.10.2019, wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 52 Abs 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.). Als Frist für die freiwillige Ausreise wurden zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung eingeräumt (Spruchpunkt III.).

Begründend wurde ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Volljährigkeit und der mittlerweile gesammelten Bildungs- und Berufserfahrung eine Rückkehr nach Afghanistan in sichere Gebiete wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif möglich und zumutbar sei.

11. Am 18.11.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi sowie der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers statt, bei welcher der Beschwerdeführer einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern.

Im Rahmen der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer ua ausführlich zu seiner Identität, seiner Herkunft, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seinen Familienverhältnissen und seinem Leben in Afghanistan und im Iran, seinen Fluchtgründen sowie seinem Leben in Österreich befragt.

Das erkennende Gericht brachte neben dem bereits zur Kenntnis gebrachten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein.

In Ergänzung der bereits vorgelegten Unterlagen legte der Beschwerdeführer ein Konvolut an Integrationsunterlagen im Original vor: - Teilnahmebestätigung Fortbildung XXXX vom 31.01.2018, (Beilage ./A), Teilnahmebestätigung „ XXXX “ vom 29.12.2017, (Beilage ./B), Teilnahmebestätigung des BFI vom 22.11.2018 betreffend „ XXXX “, (Beilage ./C), Bestätigung der XXXX vom 20.11.2018, (Beilage ./D), eine XXXX vom 05.03.2018 über XXXX (Beilage ./E), Foto der Tazkira des Vaters, (Beilage ./F), Foto des Blutbefundes der Mutter (Beilage./G), ein Foto (Beilage ./H), eine Bestätigung vom 31.05.2017 über den regelmäßigen Besuch des Beschwerdeführers XXXX (Beilage ./I).

12. Mit Schreiben vom 22.11.2019 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 17.10.2019 und die erlassene Rückkehrentscheidung. Der Beschwerdeführer brachte vor, es bestehe ein schützenswertes Privatleben in Österreich und beantragte die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären.

13. Am 29.11.2019 langte die Beschwerdevorlage betreffend das Verfahren 2183898-2 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

14. Mit Stellungnahme vom 12.12.2019 nahm der Beschwerdeführer zu den in der Verhandlung eingebrachten Länderinformationen Stellung, und brachte im Wesentlichen vor, eine Rückkehr sei ihm aufgrund dessen, dass er lange Zeit im Iran gelebt und sich nur bis zum Kindesalter in Afghanistan aufgehalten habe und keine Familienangehörigen in Afghanistan habe, nicht zumutbar. Es sei ihm deshalb der Status des Subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe nicht.

15. Am 29.09.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine weitere öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi sowie der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers statt, bei welcher der Beschwerdeführer einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern.

Im Rahmen der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer erneut zu seiner Herkunft, seiner Religionszugehörigkeit, seinen Familienverhältnissen und seinem Leben in Afghanistan, im Iran und seinen Fluchtgründen sowie seinem Leben in Österreich befragt.

Das erkennende Gericht brachte neben dem bereits zur Kenntnis gebrachten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation weitere, aktuelle Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein.

In Ergänzung der bereits vorgelegten Unterlagen legte der Beschwerdeführer Unterlagen betreffend seinen Gesundheitszustand vor: Entlassungsbriefe nach der Operation und stationären Behandlungen vom 23.07.2020, 10.08.2020, 17.08.2020 und 20.08.2020 (Beilage ./A-D).

16. Mit am 13.10.2021 eingelangtem Schreiben nahm der Beschwerdeführer zu der in der Verhandlung am 29.09.2021 eingebrachten Länderinformation der Staatendokumentation vom 16.09.2021 Stellung und brachte im Wesentlichen vor, die Situation habe sich für den Beschwerdeführer verschlechtert, er befürchte Verfolgung durch die Taliban aufgrund seiner Zugehörigkeit zur ethnischen Minderheit der schiitischen Hazara und weil der Beschwerdeführer vor einer Verfolgung durch die Taliban aus Afghanistan ins Ausland geflüchtet sei. Die Situation habe sich seit der Machtübernahme durch die Taliban brisant verschlechtert und eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan sei unmöglich und bedeute eine reale Gefahr der Verletzung des Art. 2 und Art. 3 EMRK.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zum Beschwerdeführer:

1.1.1. Zu seiner Person:

Der volljährige und ledige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari, er versteht und spricht nach eigenen Angaben aber Farsi besser, außerdem beherrscht er etwas Englisch und etwas Deutsch. (AS 11, AS 197, OZ/9 = Verhandlungsprotokoll 1 vom 18.11.2019, aus 2183898-1; S. 2, 8,).

Der Beschwerdeführer wurde in XXXX in Afghanistan geboren und ist dann gemeinsam mit seinen Eltern in der Provinz XXXX , im Distrikt XXXX im Dorf XXXX aufgewachsen. Im Alter von ca. XXXX Jahren zog der Beschwerdeführer mit seiner Familie in den Iran wo er fortan lebte. Der Beschwerdeführer besuchte keine Schule, er besuchte zehn Monate lang einen Kurs in der Stadt XXXX im Iran wo er auf Dari und Farsi lesen und schreiben gelernt hat. Er arbeitete in der Landwirtschaft und verdiente gemeinsam mit seinem Vater den Lebensunterhalt der Familie (AS 11, AS 198, OZ/9; S. 6, 8 sowie OZ/23 = Verhandlungsprotokoll 2 vom 29.09.2021, aus 2183898-1; S. 8).

Der Beschwerdeführer hat noch zwei jüngere Brüder, diese befinden sich mit den Eltern im Iran in der Stadt XXXX . Der Vater und die Mutter arbeiten als Landarbeiter, sie sind jedoch beide krank. Sonst hat der Beschwerdeführer keine Familienangehörige im Iran. Der Beschwerdeführer hat keine Familienangehörigen in Afghanistan (AS 11, AS 199, OZ/9; S. 9, 10).

Der Beschwerdeführer stellte im Alter von XXXX Jahren als unbegleiteter Minderjähriger einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Mittlerweile befindet er sich seit sechs Jahren im Bundesgebiet. Er hat österreichische Freunde und Bekannte, er spricht und versteht gut Deutsch, besuchte Deutschkurse, besuchte in Österreich die Schule, spielte XXXX und arbeitete als XXXX (AS 197 f., OZ/9; S. 10, 11 sowie OZ/23; S. 8).

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.1.2. Zur befürchteten Verfolgung in Afghanistan:

1.1.2.1. Aus der vom Beschwerdeführer zu seinem Leben im Iran vorgebrachten Situation, ergibt sich keine Verfolgung des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat Afghanistan.

1.1.2.2. Der Vater des Beschwerdeführers wurde weder von den Taliban noch sonstigen Feinden in Afghanistan bedroht, entführt oder verletzt.

Es droht dem Beschwerdeführer aufgrund der vorgebrachten Bedrohung seinem Vater gegenüber keine konkrete und individuelle physische oder psychische Gewalt in Afghanistan.

Der Beschwerdeführer hat im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder durch Private, im speziellen durch die Taliban, nicht zu erwarten.

1.1.2.3. Weiters droht dem Beschwerdeführer aufgrund seiner ethnisch-religiösen Zugehörigkeit zu den schiitischen Hazara keine konkrete und individuelle physische oder psychische Gewalt in Afghanistan. Angehörige der Religionsgemeinschaft der Schiiten oder der Volksgruppe der Hazara sind in Afghanistan allein aufgrund der Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit keiner physischen und/oder psychischen Gewalt ausgesetzt.

1.1.2.4. Der vom Beschwerdeführer in Österreich gelebte Lebensstil bzw. seine Wertvorstellungen, bringen ihn nicht in eine derart exponierte Stellung, aufgrund der er in Afghanistan Anfeindungen bzw. psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre.

1.1.2.5. Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt. Gründe, die eine Verfolgung oder sonstige Gefährdung des Beschwerdeführers im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen, wurden nicht glaubhaft gemacht.

1.1.3. Zu seinen Rückkehrmöglichkeiten nach Afghanistan:

1.1.3.1. Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan im Alter von XXXX Jahren. Er lebte dann XXXX Jahre im Iran, bevor er nach Europa kam. Im Iran sprach der Beschwerdeführer Dari und Farsi gemischt. Er spricht besser Farsi obwohl Dari seine Muttersprache ist, wenn er Dari spricht, ist ein Farsidialekt hörbar. Im Iran war der Beschwerdeführer hauptsächlich von Iranern umgeben. Der Beschwerdeführer arbeitete im Iran als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft (AS 11 ff., AS 201 ff., OZ/9; S. 6, 8, 15). Auch in Österreich umgibt sich der Beschwerdeführer mehr mit Österreichern oder Afghanen die im Iran aufgewachsen sind, als mit Afghanen aus dem Heimatland (OZ/9; S. 17).

Die Eltern des Beschwerdeführers und seine zwei Brüder leben in der Stadt XXXX im Iran. (AS 199, OZ/9; S. 6, 8). Der Beschwerdeführer hat keine Familienangehörigen in Afghanistan (OZ/23; S. 7 sowie OZ/9; S. 6, 8). Der Beschwerdeführer hat regelmäßigen Kontakt zu seinen Eltern im Iran (OZ/23; S. 7 sowie OZ/9; S. 6, 8).

Seine Eltern im Iran können den Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr nach Afghanistan nicht finanziell unterstützen. Sie arbeiten beide als Landarbeiter, sind jedoch krank und befinden sich in einer schweren finanziellen Situation. Ein jüngerer Bruder des Beschwerdeführers arbeitet ebenfalls, der zweite Bruder ist noch ein Kind (OZ/23; S. 7, 9 sowie OZ/9; S. 14, 17, AS 19 aus 2183898-2).

Der Beschwerdeführer sammelte lediglich im kindes- und minderjährigen Alter von XXXX Jahren Berufserfahrung im Iran als Hilfsarbeiter in einer Hühnerfarm, einem Obstgarten und in der Landwirtschaft (AS 201).

1.1.3.2. Der Beschwerdeführer war in den Jahren 2016 und 2017 in XXXX , und im Jahr 2019 ca. vier Monate XXXX (OZ/9; S. 18). XXXX (AS 13 aus 2183898-2)

Infolge eines XXXX , wurde beim Beschwerdeführer am XXXX eine Operation durchgeführt. Seither hat der Beschwerdeführer XXXX (vgl. OZ/23; S. 6. sowie Beilagen ./A-D).

Der Beschwerdeführer ist auf regelmäßige medizinische Behandlungen und Medikamente angewiesen (vgl. OZ/23; S. 6. sowie Beilagen ./A-D). Er kann einer Arbeit nur soweit nachgehen, als er nicht lange Zeit sitzen kann und ständig – vor allem nach längerem Sitzen – Schmerzen hat (vgl. OZ/23; S. 3, 6. sowie Beilagen ./A-D).

1.1.3.3. Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan drastisch verschlechtert. Es kam zu verstärkten Kampfhandlungen zwischen den Taliban und Regierungstruppen in ganz Afghanistan. Aktuell kontrollieren die Taliban das gesamte Land und es kommt zu schwerwiegenden Übergriffen von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen sowie Hinrichtungen von Zivilistinnen und Zivilisten und grobe Menschenrechtsverletzungen umfassen.

Durch die angespannte allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage seit der Machtübernahme der Taliban sowie die mangelhafte medizinische Versorgung in Afghanistan und die individuelle Situation des Beschwerdeführers erscheint eine Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat Afghanistan derzeit nicht zumutbar. Die Rückführung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat würde mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht dem Beschwerdeführer nicht zur Verfügung.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Im Verfahren wurden folgende Quellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:

?        Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan mit Stand vom 16.09.2021, Version 5 (LIB)

?        UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018

?        EASO Country Guidance Afghanistan, Juni 2019

1.2.1. Sicherheitslage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]

Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021).

Vorfälle am Flughafen Kabul

Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.8.2021; BBC 8.9.2021c, UNGASC 2.9.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.8.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.8.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.8.2021).

Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden (AAN 1.9.2021; vgl. BBC 30.8.2021). Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (AAN 1.9.2021; vgl. NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021).

Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vgl. NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021).

Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.8.2021; vgl. FP 23.8.2021, BBC 31.8.2021, GN 10.9.2021, Times 12.9.2021, ICG 14.8.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.8.2021). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.8.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.8.2021; vgl. FP 23.8.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.8.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefägnissen entlassen (UNGASC 2.9.2021): Eine Richterin (REU 3.9.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.9.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 3.9.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.9.2021).

(…)

1.2.2. Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Letzte Änderung: 16.09.2021

Nach der Machtübernahme der Taliban wurde berichtet, dass die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021; vgl. DW 20.8.2021). Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (FP 23.8.2021).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (GO 20.8.2021, BBC 6.9.2021). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021). Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen (INS 17.8.2021) bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden (ROW 20.8.2021). Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (BBC 6.9.2021; vgl. ROW 20.8.2021, SKN 27.8.2021).

Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus (GO 20.8.2021, BBC 6.9.2021). Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, welche sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (GO 20.8.2021, vgl. MMM 20.8.2021).

Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE ("Handheld Interagency Identity Detection Equipment")-Geräte] (TIN 18.8.2021; vgl. HO 8.9.2021, SKN 27.8.2021). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium. Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenminsteriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (HO 8.9.2021; vgl. SKN 27.8.2021).

Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E-Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine "wahre Fundgrube an Informationen" für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien "wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber" (TT 4.9.2021).

Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros zudem keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten (SKN 27.8.2021).

Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen von Ausländern und afghanischen Ortskräften nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anm.: US-amer. Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren - eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine "Todesliste" gesetzt (POL 26.8.2021), wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden (NYP 26.8.2021).

(…)

TALIBAN

Letzte Änderung: 14.09.2021

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). 2018 begannen die USA Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation in Doha (NYT 26.5.2020), im Februar 2020 wurde der Vertrag, in welchem sich die US-amerikanische Regierung zum Truppenabzug verpflichtete, unterschrieben (NYT 29.2.2020), wobei die US-Truppen bis Ende August 2021 aus Afghanistan abzogen (DP 31.8.2021). Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021). Die Taliban-Führung kehrte daraufhin aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte (DW 31.8.2021). Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (NZZ 7.9.2021).

Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020). Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (FA 23.8.2021).

Struktur und Führung

Letzte Änderung: 16.09.2021

Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vgl. BBC 15.4.2021). Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020), die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019; BBC 15.4.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an (NZZ 17.8.2021). Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001 (IT 16.8.2021). Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hat (UNSC 1.6.2021), sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (RFE/RL 6.8.2021).

Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als "Ministerien" fungierten (IT 16.8.2021). Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021).

Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021). Er ist seit 2016 der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen", ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde (FR 18.8.2021). Er hat drei Stellvertreter: 1.) der Stellvertreter für Politisches ist Mullah Abdul Ghani Baradar, der Leiter der Kommission für politische Angelegenheiten und Vorsitzender des Verhandlungsteams der Taliban in Doha; 2.) der Stellvertreter für die südlichen Provinzen und Leiter der militärischen Operationen (RFE/RL 6.8.2021) bzw. der einflussreichen Kommission für militärische Angelegenheiten (FR 18.8.2021) ist Mullah Mohammad Yaqoob; 3.) der Stellvertreter für die östlichen Provinzen ist Sirajuddin Haqqani, der auch der Anführer des Haqqani-Netzwerks (RFE/RL 6.8.2021) und der Miran Shah-Schura ist (UNSC 1.6.2021). Im September 2021 wurde angekündigt, dass Baradar in der "Übergangsregierung" die Position des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats einnehmen wird, Yaqoob soll Verteidigungsminister werden, Sirajuddin Haqqani Innenminister (NZZ 7.9.2021). Haibatullah Akhunzada wird sich als "Oberster Führer" auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021; vgl. TN 3.9.2021).

Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban (UNSC 1.6.2021). Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet (HT 5.9.2021; BAMF 6.9.2021), was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (DS 6.9.2021).

Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation (TWN 20.4.2020). Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40-45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani, dem Kopf des Haqqani-Netzwerks und Stellvertreter von Mullah Akhundzada angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken) (GN 31.8.2021). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

1.2.3. Rekrutierungsstrategien

Letzte Änderung: 16.09.2021

[Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 stellte sich die Lage folgendermaßen dar:]

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban [vor ihrer Machtübernahme im August 2021] teilte die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert wurden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet waren (LI 29.6.2017).

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgte: Sie lief hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eine der Sonderkomitees der Quetta Schura [Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta/Pakistan] war für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.6.2017). UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (UNAMA 2.2021a; vgl. UNAMA 7.2020).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen in der Vergangenheit Kontrolle ausübten, gab es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.6.2017). Grundsätzlich hatten die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machten nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, waren jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.6.2017).

Sympathisanten der Taliban waren Einzelpersonen und Gruppen von, vielfach jungen, desillusionierten Männern. Ihre Motive waren der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlten sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glaubten nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schlossen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven waren die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.6.2017).

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats der Taliban. Während Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt haben, dienen sie auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien konnten die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternahmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten lief über religiöse Netzwerke (LI 29.6.2017).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vgl. EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.8.2019). Andererseits wurde berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert wurden oder in denen die Taliban stark präsent waren, de facto unmöglich war, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten (LI 29.6.2017).

Die erweiterte Familie konnte angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien waren, die Kämpfer stellten, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen (LI 29.6.2017).

Die Taliban wandten, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 30.3.2021; vgl. EASO 6.2018, DAI/CNRR 10.2016), teilweise wurden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht (EASO 6.2018). Im Jahr 2020 gab es laut UNAMA insgesamt 196 Jungen, hauptsächlich im Norden und Nordosten des Landes, die sowohl von den Taliban als auch von den afghanischen Sicherheitskräften rekrutiert wurden. Es ist wichtig anzumerken, dass Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern in Afghanistan aufgrund der damit verbundenen Sensibilität und der Sorge um die Sicherheit der Kinder in hohem Maße unterrepräsentiert sind (UNAMA 2.2021a).

[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf die Rekrutierungsstrategien der Gruppierung sind noch keine validen Informationen bekannt]

1.2.3. Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 14.09.2021

Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme im August 2021 an, dass zukünftig eine islamische Regierung von islamischen Gesetzen angeleitet werden soll, das Regierungssystem solle auf der Scharia basieren. Sie blieben dabei allerdings sehr vage bezüglich der konkreten Auslegung. "Scharia" bedeutet auf Arabisch "der Weg" und bezieht sich auf ein breites Spektrum an moralischen und ethischen Grundsätzen, die sich aus dem Koran sowie aus den Aussprüchen und Praktiken des Propheten Mohammed ergeben. Die Grundsätze variieren je nach der Auslegung verschiedener Gelehrter, die Denkschulen gegründet haben, denen die Muslime folgen und die sie als Richtschnur für ihr tägliches Leben nutzen (AJ 23.8.2021; vgl. NYT 19.8.2021). Die Auslegung der Scharia ist in der muslimischen Welt Gegenstand von Diskussionen. Jene Gruppen und Regierungen, die ihr Rechtssystem auf die Scharia stützen, haben dies auf unterschiedliche Weise getan. Wenn die Taliban sagen, dass sie die Scharia einführen, bedeutet das nicht, dass sie dies auf eine Weise tun, der andere islamische Gelehrte oder islamische Autoritäten zustimmen würden (NYT 19.8.2021). Sogar in Afghanistan haben sowohl die Taliban, die das Land zwischen 1996 und 2001 regierten, als auch die Regierung von Ashraf Ghani behauptet, das islamische Recht zu wahren, obwohl sie unterschiedliche Rechtssysteme hatten (AJ 23.8.2021).

Die Auslegung des islamischen Rechts durch die Taliban entstammt nach Angaben eines Experten dem Deobandi-Strang der Hanafi-Rechtsprechung - einem Zweig, der in mehreren Teilen Südostasiens, darunter Pakistan und Indien, anzutreffen ist - und der eigenen gelebten Erfahrung als überwiegend ländliche und stammesbezogene Gesellschaft (AJ 23.8.2021; vgl. WTN 3.9.2021). Als die Taliban 1996 an die Macht kamen, setzten sie strenge Kleidervorschriften für Männer und Frauen durch und schlossen Frauen weitgehend von Arbeit und Bildung aus. Die Taliban führten auch strafrechtliche Bestrafungen (hudood) im Einklang mit ihrer strengen Auslegung des islamischen Rechts ein, darunter öffentliche Hinrichtungen von Menschen, die von Taliban-Richtern des Mordes oder des Ehebruchs für schuldig befunden wurden, und Amputationen für diejenigen, die aufgrund von Diebstahl verurteilt wurden (AJ 23.8.2021; vgl. VOA 24.8.2021).

[Weitergehende Informationen zum konkreten Rechtssystem und Justizwesen unter der im Entstehen begriffenen Talibanregierung sind zum aktuellen Zeitpunkt mit September 2021 noch nicht bekannt]

1.2.4. Ethnische Gruppen

Letzte Änderung: 16.09.2021

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 37,5 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 23.8.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016 ; vgl. CIA 23.8.2021). Schätzungen zufolge sind die größten Bevölkerungsgruppen: 32 bis 42% Paschtunen, ca. 27% Tadschiken, 9 bis 20% Hazara, ca. 9% Usbeken, 2% Turkmenen und 2% Belutschen (AA 16.7.2021).

Neben den alten Blöcken der Islamisten und linksgerichteten politischen Organisationen [Anm.: welche oftmals vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan entstanden] mobilisieren politische Parteien in Afghanistan vornehmlich entlang ethnischer Linien, wobei letztere Tendenz durch den Krieg noch weiter zugenommen hat (AAN 24.3.2021; vgl. Karrell 26.1.2017). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 30.3.2021).

[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf die verschiedenen ethnischen Gruppen sind noch keine validen Informationen bekannt]

HAZARA

Letzte Änderung: 15.09.2021

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazarajat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).

Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.3.2019).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 12.5.2021). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazarajat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 12.5.2021).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft [1996-2001] besonders verfolgt waren, hat sich [bis zur erneuten Machtübernahme durch die Taliban im August 2021] grundsätzlich verbessert (AA 16.7.2021; vgl. FH 4.3.2020). Sie wurden jedoch weiterhin am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, fanden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 30.3.2021).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.3.2018).

Während des gesamten Jahres 2020 und auch 2021 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Am 6.3.2021 griffen Bewaffnete eine Zeremonie in Kabul an, an der hauptsächlich schiitische Hazara teilnahmen, und töteten 32 Personen. Am 24.10.2021 tötete ein Selbstmordattentäter in einem Bildungszentrum in einem Hazara-Viertel von Kabul 40 Personen und verwundete 72 weitere. Der ISKP bekannte sich dazu. Viele der Opfer waren zwischen 15 und 26 Jahre alt (USDOS 30.3.2021). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen (USDOS 12.5.2021) wie im Mai 2021, als eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi explodierte, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen, getötet und mehr als 100 verletzt wurden (AJ 9.5.2021; vgl. RFE/RL 9.5.2021, BBC 9.5.2021. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (MEI 10.2018; vgl. WP 21.3.2018).

In Randgebieten des Hazarajat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).

Im Juli 2021 berichtete AI (Amnesty International) über die Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni (AI 19.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021). AI nimmt an, dass diese Tötungen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Todesopfer durch die Taliban darstellen, da die Gruppe in vielen Gebieten, die sie kürzlich erobert hat, die Mobilfunkverbindung gekappt hat und kontrolliert, welche Fotos und Videos aus diesen Regionen verbreitet werden (AI 19.8.2021).

1.2.5. COVID-19

Mit Stand 18.10.2021.

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 20 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen (60 Jahre oder älter) und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Bluthoc

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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