Entscheidungsdatum
10.11.2021Norm
Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen §1Spruch
W261 2241291-1/19E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Vorsitzende und die Richterin Mag.a Karin RETTENHABER-LAGLER sowie die fachkundige Laienrichterin Dr.in Christina MEIERSCHITZ als Beisitzerinnen über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, vom 30.11.2020, in der Fassung der Beschwerdevorentscheidung vom 18.03.2021, betreffend die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass, zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid in der Fassung der Beschwerdevorentscheidung wird ersatzlos behoben.
Die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung auf Grund einer Behinderung" in den Behindertenpass liegen vor.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin ist seit 06.06.2016 Inhaberin eines Behindertenpasses mit einem Grad der Behinderung von 50 von Hundert (in der Folge v.H.).
2. Am 14.02.2020 stellte sie beim Sozialministeriumservice (in der Folge „belangte Behörde“ genannt) einen Antrag auf Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29 b Straßenverkehrsordnung (StVO) (Parkausweis), der entsprechend dem von der belangten Behörde zur Verfügung gestellten und von der Beschwerdeführerin ausgefüllten Antragsformular auch als Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass gilt und legte eine Reihe von ärztlichen Befunden vor.
3. Die belangte Behörde holte in weiterer Folge ein Sachverständigengutachten eines Facharztes für Orthopädie ein. In dem auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 22.10.2020 erstatteten Gutachten vom selben Tag stellte der medizinische Sachverständige fest, dass die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass aus medizinischer Sicht nicht vorlägen.
4. Die belangte Behörde übermittelte das genannte Gutachten der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 22.10.2020 im Rahmen des Parteiengehörs und räumt ihr die Möglichkeit ein, hierzu innerhalb einer Frist von zwei Wochen eine Stellungnahme abzugeben.
5. Die Beschwerdeführerin machte mit Schreiben vom 06.11.2020 von diesem Recht Gebrauch und legte weitere Befunde vor. Darin brachte sie im Wesentlichen vor, dass sie ergänzende Unterlagen vorlege, welche sie bei der Untersuchung nicht mitgenommen habe. Sie müsse täglich Novalgin nehmen, weil sie ansonsten wegen der Schmerzen an der Lendenwirbelsäule nicht gehen und stehen könne. Sie müsse sich ständig niedersetzen, dann können sie mit dem Rollator für 5 Minuten gehen. Sie könne alle Arbeiten im Haushalt nur sitzend erledigen, bzw. würden diese von ihrer Tochter oder ihrer Bekannten erledigt werden. Der Parkausweis würde ihr das Leben sehr erleichtern und lebenswert machen. Dies würde ihr das Parken beim Merkur und bei allen Ärzten sehr erleichtern. Die Beschwerdeführerin schloss dieser Stellungnahme eine Reihe von Unterlagen an, unter anderem einen Pflegegeldbescheid der PVA vom 06.12.2019, wonach sie Pflegegeld Stufe 2 beziehe.
6. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 30.11.2020 wies die belangte Behörde den Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass gemäß §§ 42 und 45 BBG ab.
Darüber hinaus führte die belangte Behörde anmerkend aus, dass über den Antrag auf Ausstellung eines § 29b-Ausweises nach der Straßenverkehrsordnung (StVO) nicht abgesprochen werde, da die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass nicht vorliegen würden.
Die belangte Behörde schloss dem genannten Bescheid das eingeholte Sachverständigengutachten in Kopie an.
7. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht die gegenständliche Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Darin brachte die Beschwerdeführerin vor, dass sie seit ihrer ersten Knieprothese im Jahr 2013 ausschließlich mit dem Rollator mobil sei, da sie nicht nur in den Knien und in der Hüfte, sondern auch in der Lendenwirbelsäule starke Schmerzen habe, welche in vorgebeugter Haltung besser erträglich seien. Sie könne in der Wohnung 5 bis 10 Meter frei gehen, wenn sie sich an einem Möbelstück abstützen könne. Derzeit müsse sie 5 Stück Novalgin einnehmen, um die Schmerzen erträglich zu halten. Sie hätte am 06.11.2020 eine Hüft-Prothese links erhalten sollen, aufgrund einer Entzündung habe die Operation ins Frühjahr 2021 verschoben werden müssen. Sie übermittle im Anhang Befunde, aus welchen hervorgehen würde, dass sie seit vielen Jahren auf den Rollator angewiesen sei und daher keine öffentlichen Verkehrsmittel benützen könne. Sie ersuche um Änderung des angefochtenen Bescheides und Zuerkennung der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel. Andernfalls ersuche sie um eine erneute Begutachtung durch einen Sachverständigen aus dem Fachbereich der Orthopäde und Vorlage der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Die Beschwerdeführerin schloss ihrer Beschwerde einen Auszug aus einem Befund an.
8. Die belangte Behörde nahm diese Beschwerde zum Anlass, um ein ergänzendes Sachverständigengutachten des befassten medizinischen Sachverständigen auf Grund der Aktenlage einzuholen. In seinem Sachverständigengutachten auf Grund der Aktenlage vom 11.03.2021 führte der medizinische Sachverständige aus dem Fachbereich der Orthopädie aus, dass die vorgelegten Befunde allesamt schon im Rahmen der Untersuchung zugänglich gewesen seien. Es handle sich dabei um Befunde der Jahre 2017 bis zum Frühjahr/Sommer 2020. Aufgrund der Befundlage ergebe sich keine Änderung zum Vorgutachten. Durch die geplante Implantation im Bereich der Hüftgelenke könne allerdings aus orthopädischer Sicht mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Funktionsverbesserung erzielt werden.
9. Mit Bescheid vom 18.03.2021 wies die belangte Behörde die Beschwerde der Beschwerdeführerin durch eine Beschwerdevorentscheidung ab. Die belangte Behörde schloss dieser Beschwerde das Aktengutachten des medizinischen Sachverständigen aus dem Fachbereich der Orthopädie an.
10. Die Beschwerdeführerin erstattete innerhalb offener Frist einen Vorlageantrag. Darin führte sie aus, dass lediglich ein Aktengutachten erstellt worden sei. Zudem habe die Hüftoperation noch nicht stattgefunden, da derzeit aufgrund der Pandemie nur lebensnotwendige Operationen stattfinden würden. Aus dem Pflegegeldbescheid sei zu entnehmen, dass sie Mobilitätshilfe im weiteren Sinn benötigen würde. Sie sei auf eine Begleitung angewiesen, weil sie mit dem Rollmobil nicht im öffentlichen Verkehrsmittel zurechtkomme. Sie werde am 12.04.2021 auf eigene Kosten ein Sachverständigengutachten bei einem gerichtlich beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen einholen und dem Gericht zukommen lassen. Sie ersuche um Berücksichtigung bei Prüfung der Aktenlage.
11. Die belangte Behörde legte den Aktenvorgang dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 09.04.2021 vor, wo dieser am selben Tag einlangte.
12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 12.04.2021 eine Abfrage im Zentralen Melderegister durch, wonach die Beschwerdeführerin österreichische Staatsbürgerin ist, und ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hat.
13. Die Beschwerdeführerin legte dem Bundesverwaltungsgericht und der belangten Behörde mit Schreiben vom 27.04.2021 ein von ihr in Auftrag gegebenes Sachverständigengutachten eines gerichtlich beeideten und zertifizierten medizinischen Sachverständigen aus dem Fachbereich der Orthopädie vor. Der medizinische Sachverständige nahm eine Einschätzung der von ihm diagnostizierten Leiden der Beschwerdeführerin vor, wonach sie an Problemen an der Wirbelsäule (Position 02.01.03, GdB 60% - 70%), an den Hüftgelenken (Position 02.05.10, GdB 50 %), an den Kniegelenken (Position 02.05.19, GdB 20%), an den Schultergelenken (Position 02.06.02, GdB 10 - 20%) und an den Fingergelenken (02.06.26, GdB 10 - 20%) leide. Der Gesamtgrad der Behinderung werde mit 100 % eingeschätzt. Die maximale Gehstrecke, welche die Beschwerdeführerin aus eigener Kraft und ohne Gehilfe zurücklegen könne, betrage 15 bis 20 Meter, und mit einem Rollmobil könne sie ohne Pause 40 bis 50 Meter zurücklegen. Aus orthopädischer Sicht sei die Benutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels nicht zumutbar.
14. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 29.04.2021 auf die im § 46 Bundesbehindertengesetz (BBG) normierte Neuerungsbeschränkung hin, wonach ab dem Zeitpunkt des Einlangens der Beschwerde bzw. des Vorlageantrages beim Bundesverwaltungsgericht, keine neuen Tatsachen und Beweismittel vorgebracht werden dürfen, weswegen das vorgelegte medizinische Sachverständigengutachten bei der Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt werden könne.
15. Das Bundesverwaltungsgericht nahm die Beschwerde zum Anlass, um ein medizinisches Sachverständigengutachten aus den Fachbereichen Unfallchirurgie/Orthopädie und Allgemeinmedizin einzuholen. In deren medizinischen Sachverständigengutachten vom 30.09.2021, beruhend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 23.09.2021 (eingelangt im Bundesverwaltungsgericht am 20.10.2021) kommt diese zusammenfassend zum Ergebnis, dass sich der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin maßgeblich verschlechtert habe, weswegen eine Neubewertung vorzunehmen sei. Es sei der Beschwerdeführerin nicht zuzumuten, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.
16. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte dieses Sachverständigengutachten den Parteien des Beschwerdeverfahrens im Rahmen des Parteiengehörs und räumte diesen die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme ein.
17. Die Beschwerdeführerin führte in deren Stellungnahme vom 28.10.2021 (eingelangt am 02.11.2021) zusammenfassend aus, dass sie sich für die neue Gutachtenserstellung bedanke und dass sie alle ihre Einwendungen aufrechterhalte. Die belangte Behörde gab keine Stellungnahme ab.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
Die Beschwerdeführerin erfüllt die allgemeinen Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses. Die Beschwerdeführerin hat ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland und besitzt einen Behindertenpass.
Der Beschwerdeführerin ist die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar.
Vorgeschichte:
Knietotalendoprothese rechts 2013, links 2019 Rehabilitation in RZ XXXX .
Coxarthrose links, noch kein Ersatztermin für Hüfttotalendoprothese links.
Hypertensive Kardiomyopathie, paroxysmales Vorhofflimmern unter OAK Carpaltunnelsyndrom beidseits.
Chronisch venöse Insuffizienz, Beinödeme, Stauungsdermatitis.
Zwischenanamnese seit 3/2021:
Keine Operation, kein stationärer Aufenthalt.
Befunde:
Befund Dr. XXXX Facharzt für Orthopädie, nicht datiert (Knietotalendoprothese beidseits, schwere Gehbehinderung, öffentliche Verkehrsmittel können nicht mehr benützt werden. Schwere degenerative Veränderungen der gesamten Lendenwirbelsäule, Coxarthrose beidseits).
Pflegegeld Stufe 2
Röntgen gesamte Wirbelsäule, 14. 10. 2019 (schwere Spondylosis und Spondylarthrosis deformans gesamte Wirbelsäule).
Röntgen Hand, 25. 11. 2019 (hochgradige Rhizarthrose, deutliche Arthrose Handwurzel, mittelgradige bis deutliche Arthrose Handgelenk).
Röntgen linkes Knie, 07. 05. 2019 (Totalendoprothese, schmaler Aufhellungssaum um Tibiaplateau).
Ambulanzkarte Krankenhaus XXXX Schmerzambulanz, 29.01. 2018 (kommt mit Rollator in die Ordination, berichtet über Rückenschmerzen seit 6 Jahren, Gehstrecke 5 Schritte mit Rollator. Stauungsdermatitis und Ödeme der Beine, offene Wunden seit Ende 2017. Konservative Therapie).
Institut für physikalische Medizin, 05. 12. 2017 (kein Hinweis auf PAVK, chronisch venöse Insuffizienz, Stauungsdermatitis beidseits, Zustand nach Erosionen beider Unterschenkel)
Status, nicht datiert (Gangbild: breitbasiges Gangbild mit Schonhinken links, Mobilisation mit Vollbelastung möglich, geschlossener Stand sicher, Romberg mit multilateraler Positionstendenz, Einbeinstand beidseits und Tantengang nicht durchführbar).
Bericht Gesundheitszentrum XXXX , 10. 11. 2019 (Knietotalendoprothese beidseits, Lumbalgie, schwere Spondylarthrosis deformans gesamte Wirbelsäule, Zervikobrachialsyndrom, Coxarthrose beidseits, CTS beidseits, arterielle Hypertonie, Vorhofflimmern).
Elektroneurodiagnostischer Befund, 22.10.2019 (hochgradig ausgeprägtes CTS beidseits).
Rechnungen über Heilverfahren in XXXX .
Pflegegeldgutachten PVA, Seite 7, nicht datiert (Mobilitätshilfe im weiteren Sinn).
Orthopädisches Gutachten Dr. XXXX , 15.04.2021.
Im Rahmen der aktuellen Begutachtung nachgereichte Befunde:
Befund plastische Chirurgie Krankenanstalt XXXX , 29. 01. 2020 (Dekompression des N. medianus rechts)
Sozialanamnese:
Geschieden, eine Tochter, lebt alleine in Kleingartenhaus, ebenerdig. Berufsanamnese: Pensionistin, zuvor kaufmännische Angestellte.
Medikamente:
Cipralex, Daflon, Concor Cor, Gastroloc, Mirtabene, Novalgin, Oleovit D3, Xarelto, Schmerzgel, Lasix.
Allergien: 0. Nikotin: 0.
Hilfsmittel: Rollator
Laufende Therapie bei Hausarzt Dr. XXXX , 1100
Derzeitige Beschwerden:
„Schmerzen habe ich vor allem in der Lendenwirbelsäule seitlich ausstrahlend und in das rechte Bein bis zu den Waden. Jeder Schritt tut weh. Ich kann höchstens 5 bis maximal 10 m gehen, außer Haus gehe ich nur mit Rollator seit vielen Jahren. Hergekommen bin ich mit dem Auto, wurde von der Tochter gebracht. Heute habe ich schon 3 Tabletten Novalgin eingenommen. Lähmungen habe ich nicht, immer wieder eingeschlafene Füße. Habe immer wieder Wasser in den Beinen und muss Kompressionsstrümpfe tragen.
Vom 03.10. bis 10.10.2021 mache ich einen Kuraufenthalt in Bad XXXX , im Zuge des Aufenthalts ist eine Behandlung in der Schmerzambulanz Dr. XXXX .“
STATUS:
Allgemeinzustand gut, Ernährungszustand gut.
Größe 158 cm, Gewicht 110 kg, Alter: 81a
Caput/Collum: klinisch unauffälliges Hör- und Sehvermögen Thorax: symmetrisch, elastisch. Atemexkursion seitengleich, sonorer Klopfschall, VA, Dyspnoe beim Ausziehen, Anziehen und beim Untersuchungsgang, endexspiratorisch obstruktiv. HAT rein, rhythmisch. Abdomen: klinisch unauffällig, keine pathologischen Resistenzen tastbar, kein Druckschmerz. Integument: unauffällig.
Schultergürtel und beide oberen Extremitäten:
Rechtshänderin. Der Schultergürtel steht horizontal, symmetrische Muskelverhältnisse. Die Durchblutung ist ungestört, die Sensibilität wird beidseits als gestört angegeben. Die Benützungszeichen sind seitengleich vorhanden.
Schultergelenke beidseits etwas verkürzt und verbacken, endlagige Bewegungsschmerzen. Handgelenke beidseits geringradig umfangsvermehrt, rechts Narbe bei Zustand nach CTS- Operation, Thenar rechts geringgradig geschwächt, Fingerkuppenhohlhandabstand 1-2 cm beidseits. Opponensfunktion möglich. Geringgradige Rhizarthrose beidseits.
Sämtliche weiteren Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig.
Aktive Beweglichkeit: Schultern F und S0/110, IR/AR eingeschränkt, Ellbogengelenke, Unterarmdrehung frei, Handgelenke endlagig eingeschränkt, Daumen und Langfinger geringgradig eingeschränkt beweglich. Grob- und Spitzgriff sind uneingeschränkt durchführbar. Tonus und Trophik unauffällig. Nacken- und Schürzengriff sind endlagig eingeschränkt durchführbar.
Becken und beide unteren Extremitäten:
Freies Stehen kurz möglich, Zehenballenstand und Fersenstand ansatzweise mit Anhalten durchführbar. Der Einbeinstand ist mit Anhalten kurz möglich. Die tiefe Hocke ist nicht möglich. Die Beinachse ist im Lot. Symmetrische Muskelverhältnisse. Beinlänge ident.
Die Durchblutung ist ungestört, geringgradige Unterschenkelödeme beidseits bei angelegtem Unterschenkelkompressionsstrumpf beidseits, keine sichtbaren Varizen, trophische Störung mit livider Verfärbung der distalen Unterschenkel bei chronisch venöser Insuffizienz, kein Ulcus, die Sensibilität wird als ungestört angegeben.
Hüftgelenke beidseits: Beugeschmerzen und Rotationsschmerzen rechts mehr als links Kniegelenk beidseits: Narbe bei Knietotalendoprothese, Umfangsvermehrung und geringgradige Überwärmung, geringgradig Erguss, Patella deutlich verbacken, Bewegungsschmerzen, stabil. Sprunggelenke geringgradig umfangsvermehrt, endlagig eingeschränkt Sämtliche weiteren Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig.
Aktive Beweglichkeit: Hüften S beidseits 0/90, konstitutionell überlagert, IR/AR 5/0/25, Knie beidseits 0/5/100, Sprunggelenke endlagig eingeschränkt, Zehen sind seitengleich frei beweglich. Das Abheben der gestreckten unteren Extremität ist beidseits bis 60° bei KG 5 möglich.
Wirbelsäule:
Schultergürtel und Becken stehen horizontal, in etwa im Lot, regelrechte Krümmungsverhältnisse. Die Rückenmuskulatur ist symmetrisch ausgebildet, deutlich Hartspann, Klopfschmerz über der gesamten LWS.
Aktive Beweglichkeit:
HWS: in allen Ebenen endlagig eingeschränkt beweglich. BWS/LWS: FBA: 35 cm, Rotation und Seitneigen 20°. Lasegue bds. negativ, Muskeleigenreflexe seitengleich mittellebhaft auslösbar. Romberg unsicher, Unterberger bei Unsicherheit nicht durchgeführt
Gesamtmobilität und Gangbild:
Kommt selbständig gehend mit Halbschuhen mit Rollator, das Gangbild ohne Rollator einige Schritte im Untersuchungszimmer langsam, breitbasig, behäbig, Richtungswechsel mit Anhalten möglich.
Das Aus- und Ankleiden wird selbständig im Sitzen, teilweise mit Hilfe durchgeführt.
Status psychicus:
Allseits orientiert; Merkfähigkeit, Konzentration und Antrieb unauffällig; Stimmungslage ausgeglichen.
Die Beschwerdeführerin hat folgende Funktionseinschränkungen, die voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
? Hypertensive Kardiomyopathie, arterielle Hypertonie, Vorhofflimmern
? Kniegelenkendoprothese beidseits
? Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Lumboischialgie beidseits
? Carpaltunnelsyndrom beidseits, Zustand nach OP rechts
? Hüftgelenksarthrose beidseits
? chronisch venöse Insuffizienz
Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel:
Bei Abnützungserscheinungen im Bereich der Hüftgelenke, Kniegelenke und chronisch venöser Insuffizienz mit Stauungsdermatitis liegen im Zusammenwirken maßgebliche funktionelle Einschränkungen der unteren Extremitäten vor.
Im Bereich der oberen Extremitäten bestehen zwar mäßige funktionelle Einschränkungen bei Karpaltunnelsyndrom beidseits und mäßigen Arthrosen vor allem im Bereich der Fingergelenke, erhebliche funktionelle Einschränkungen liegen jedoch nicht vor.
Es liegen Einschränkungen der cardiopulmonalen Belastbarkeit vor, es besteht jedoch kein Hinweis auf Dekompensation.
Das Zurücklegen einer Wegstrecke von etwa 300-400 m ist erheblich erschwert. Maßgeblich für die erhebliche Erschwernis sind die erheblichen Funktionseinschränkungen der unteren Extremitäten in Zusammenwirken mit den fortgeschrittenen Abnützungserscheinungen der Wirbelsäule und andauernden Schmerzen. Übergewicht und hypertensive Kardiomyopathie stellen in Zusammenhang mit den Funktionseinschränkungen der unteren Extremitäten einen zusätzlich erschwerenden Faktor dar.
Zur Verbesserung der Stand- und Gangsicherheit ist die Zuhilfenahme eines Rollators nachvollziehbar.
Das Zurücklegen dieser Wegstrecke ist für die Beschwerdeführerin mit Schmerzen verbunden.
Schmerzhafte Erkrankungen liegen im Bereich der Wirbelsäule, Hüft- und Kniegelenke und bei chronisch venöser Insuffizienz vor. Das Ausmaß der Schmerzen führt zu der im aktuellen klinischen Status beschriebenen Gesamtmobilität mit maßgeblicher Beeinträchtigung,
Eine Intensivierung der analgetischen Therapie ist möglich. Hinsichtlich allgemeiner körperlicher Einschränkung der Leistungsfähigkeit führt jedoch die analgetische Therapie zu keiner maßgeblichen Verbesserung, um 300-400 m zurückzulegen zu können.
Unter Beachtung der Adipositas und eingeschränkten Funktionen der unteren Extremitäten mit eingeschränkter cardiopulmonaler Leistungsfähigkeit ist das Überwinden von Niveauunterschieden erheblich erschwert.
Die Fähigkeit der Beschwerdeführerin im Verkehrsmittel zu stehen, sich im Verkehrsmittel fortzubewegen und sich einen Sitzplatz zu suchen ist erschwert.
Die festgestellten Leidenszustände führen zu einer maßgeblichen Gangbildbeeinträchtigung und Gangleistungsminderung und beeinflussen sich wechselseitig negativ. Kompensationsmöglichkeiten, welche zu einer wesentlichen und anhaltenden Verbesserung der Gehleistung führen könnten, liegen nicht vor.
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen zu den allgemeinen Voraussetzungen, dem Wohnsitz der Beschwerdeführerin im Inland und zum Behindertenpass ergeben sich aus dem diesbezüglich unbedenklichen, widerspruchsfreien und unbestrittenen Akteninhalt.
Die Feststellungen zu Art, Ausmaß und Auswirkungen der Funktionseinschränkungen auf die Zumutbarkeit zur Benützung öffentlicher Verkehrsmittel gründen sich – in freier Beweiswürdigung – in nachstehend ausgeführtem Umfang auf die vorgelegten und eingeholten Beweismittel:
Das vom Bundesverwaltungsgericht eingeholte Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Unfallchirurgie und Ärztin für Allgemeinmedizin vom 30.09.2021, basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 23.09.2021 ist schlüssig und nachvollziehbar, dieses weist keine Widersprüche auf. Es wird auf die Art der Leiden und deren Ausmaß ausführlich eingegangen. Auch wird zu den Auswirkungen der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel eingehend Stellung genommen und nachvollziehbar ausgeführt, dass sich der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin seit der letzten Untersuchung im März 2021 nachweislich und dauerhaft so maßgeblich verschlechtert hat, dass es der Beschwerdeführerin nicht mehr möglich und zumutbar ist, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.
Seitens des Bundesverwaltungsgerichtes bestehen jedoch keine Zweifel an der Richtigkeit, Vollständigkeit und Schlüssigkeit des diesem Beschwerdeverfahren zugrundeliegenden Sachverständigengutachtens vom 30.09.2021 ersteres beruhend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 23.09.2021, und wird dieses Sachverständigengutachten in freier Beweiswürdigung der gegenständlichen Entscheidung zu Grunde gelegt.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
1. Zur Entscheidung in der Sache:
Der Vollständigkeit halber wird zunächst darauf hingewiesen, dass mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 30.11.2020, in der Fassung der Beschwerdevorentscheidung vom 18.03.2021, der Antrag der Beschwerdeführerin auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass gemäß §§ 42 und 45 Bundesbehindertengesetz idgF BGBl I Nr. 32/2018 (in der Folge kurz BBG) abgewiesen wurde. Verfahrensgegenstand ist somit nicht die Feststellung des Gesamtgrades der Behinderung, sondern ausschließlich die Prüfung der Voraussetzungen der Vornahme der beantragten Zusatzeintragung.
Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten:
§ 42 (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.
…
§ 45 (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.
(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.
(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.
(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.
…
§ 46 Die Beschwerdefrist beträgt abweichend von den Vorschriften des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes, BGBl. I Nr. 33/2013, sechs Wochen. Die Frist zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung beträgt zwölf Wochen. In Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nicht vorgebracht werden.
§ 47. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, mit Verordnung die näheren Bestimmungen über den nach § 40 auszustellenden Behindertenpass und damit verbundene Berechtigungen festzusetzen.“
§ 1 Abs. 4 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, idg F BGBl II Nr. 263/2016 lautet – soweit im gegenständlichen Fall relevant - auszugsweise:
„§ 1 ….
(4) Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist jedenfalls einzutragen:
1. …….
2. ……
3. die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und
- erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder
- erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder
- erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen oder
- eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder
- eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach § 1 Abs. 4 Z 1 lit. b oder d
vorliegen.
(5) Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein Gutachten eines/einer ärztlichen Sachverständigen des Sozialministeriumservice. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen.
(6)……“
In den Erläuterungen zu § 1 Abs. 2 Z 3 zur Stammfassung der Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen BGBl. II Nr. 495/2013 wird unter anderem - soweit im gegenständlichen Fall relevant - Folgendes ausgeführt:
"Zu § 1 Abs. 2 Z 3 (neu nunmehr § 1 Abs. 4 Z. 3, BGBl. II Nr. 263/2016):
…
Mit der vorliegenden Verordnung sollen präzisere Kriterien für die Beurteilung der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel festgelegt werden. Die durch die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bisher entwickelten Grundsätze werden dabei berücksichtigt.
…
Grundsätzlich ist eine Beurteilung nur im Zuge einer Untersuchung des Antragstellers/der Antragstellerin möglich. Im Rahmen der Mitwirkungspflicht des Menschen mit Behinderung sind therapeutische Möglichkeiten zu berücksichtigen. Therapierefraktion – das heißt keine therapeutische Option ist mehr offen – ist in geeigneter Form nachzuweisen. Eine Bestätigung des Hausarztes/der Hausärztin ist nicht ausreichend.
Durch die Verwendung des Begriffes „dauerhafte Mobilitätseinschränkung“ hat schon der Gesetzgeber (StVO-Novelle) zum Ausdruck gebracht, dass es sich um eine Funktionsbeeinträchtigung handeln muss, die zumindest 6 Monate andauert. Dieser Zeitraum entspricht auch den grundsätzlichen Voraussetzungen für die Erlangung eines Behindertenpasses.
Nachfolgende Beispiele und medizinische Erläuterungen sollen besonders häufige, typische Fälle veranschaulichen und richtungsgebend für die ärztlichen Sachverständigen bei der einheitlichen Beurteilung seltener, untypischer ähnlich gelagerter Sachverhalte sein. Davon abweichende Einzelfälle sind denkbar und werden von den Sachverständigen bei der Beurteilung entsprechend zu begründen sein.
Die Begriffe „erheblich“ und „schwer“ werden bereits jetzt in der Einschätzungsverordnung je nach Funktionseinschränkung oder Erkrankungsbild verwendet und sind inhaltlich gleichbedeutend.
…
Erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit betreffen vorrangig cardiopulmonale Funktionseinschränkungen. Bei den folgenden Einschränkungen liegt jedenfalls eine Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel vor:
- arterielle Verschlusskrankheit ab II/B nach Fontaine bei fehlender therapeutischer Option
- Herzinsuffizienz mit hochgradigen Dekompensationszeichen
- hochgradige Rechtsherzinsuffizienz
- Lungengerüsterkrankungen unter Langzeitsauerstofftherapie
- COPD IV mit Langzeitsauerstofftherapie
- Emphysem mit Langzeitsauerstofftherapie
- mobiles Gerät mit Flüssigsauerstoff muss benützt werden.
…
Erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Funktionen umfassen im Hinblick auf eine Beurteilung der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel folgende Krankheitsbilder:
- Klaustrophobie, Soziophobie und phobische Angststörungen als Hauptdiagnose nach ICD 10 und nach Ausschöpfung des therapeutischen Angebotes und einer nachgewiesenen Behandlung von mindestens 1 Jahr,
- hochgradige Entwicklungsstörungen mit gravierenden Verhaltensauffälligkeiten,
- schwere kognitive Einschränkungen, die mit einer eingeschränkten Gefahreneinschätzung des öffentlichen Raumes einhergehen,
- nachweislich therapierefraktäres, schweres, cerebrales Anfallsleiden – Begleitperson ist erforderlich.
Eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems, die eine Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wegen signifikanter Infektanfälligkeit einschränkt, liegt vor bei:
- anlagebedingten, schweren Erkrankungen des Immunsystems (SCID – sever combined immundeficiency),
- schweren, hämatologischen Erkrankungen mit dauerhaftem, hochgradigem Immundefizit (z.B: akute Leukämie bei Kindern im 2. Halbjahr der Behandlungsphase, Nachuntersuchung nach Ende der Therapie),
- fortgeschrittenen Infektionskrankheiten mit dauerhaftem, hochgradigem Immundefizit,
- selten auftretenden chronischen Abstoßungsreaktion nach Nierentransplantationen, die zu zusätzlichem Immunglobulinverlust führen.
…
Keine Einschränkung im Hinblick auf die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel haben:
- vorübergehende Funktionseinschränkungen des Immunsystem als Nebenwirkung im Rahmen von Chemo-und /oder Strahlentherapien,
- laufende Erhaltungstherapien mit dem therapeutischen Ziel, Abstoßreaktionen von Transplantaten zu verhindern oder die Aktivität von Autoimmunerkrankungen einzuschränken,
- Kleinwuchs
- gut versorgte Ileostoma, Colostoma und Ähnliches mit dichtem Verschluss. Es kommt weder zu Austritt von Stuhl oder Stuhlwasser noch zu Geruchsbelästigungen. Lediglich bei ungünstiger Lokalisation und deswegen permanent undichter Versorgung ist in Ausnahmefällen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar,
- bei Inkontinenz, da die am Markt üblichen Inkontinenzprodukte ausreichend sicher sind und Verunreinigungen der Person durch Stuhl oder Harn vorbeugen. Lediglich bei anhaltend schweren Erkrankungen des Verdauungstraktes ist in Ausnahmefällen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar.
…“
Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu ermitteln, ob die Antragstellerin dauernd an ihrer Gesundheit geschädigt ist, und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung unzumutbar ist (vgl. VwGH 23.02.2011, 2007/11/0142, und die dort zitierten Erkenntnisse vom 18.12.2006, 2006/11/0211, und vom 17.11.2009, 2006/11/0178, jeweils mwN.).
Dabei ist auf die konkrete Fähigkeit der Beschwerdeführerin zur Benützung öffentlicher Verkehrsmittel einzugehen, dies unter Berücksichtigung der hierbei zurückzulegenden größeren Entfernungen, der zu überwindenden Niveauunterschiede beim Aus- und Einsteigen, der Schwierigkeiten beim Stehen, bei der Sitzplatzsuche, bei notwendig werdender Fortbewegung im Verkehrsmittel während der Fahrt etc. (VwGH 22.10.2002, 2001/11/0242; VwGH 14.05.2009, 2007/11/0080).
Bei der Beurteilung der zumutbaren Wegstrecke geht der Verwaltungsgerichtshof von städtischen Verhältnissen und der durchschnittlichen Distanz von 300 bis 400 Metern bis zur nächsten Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels aus (VwGH 27.05.2014, Ro 2014/11/0013).
Wie oben im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt – auf die diesbezüglichen Ausführungen wird verwiesen -, wurde im eingeholten Sachverständigengutachten vom 30.09.2021, beruhend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 23.09.2021, nachvollziehbar bejaht, dass im Fall der Beschwerdeführerin die Voraussetzungen für die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass vorliegen.
Da festgestellt worden ist, dass die dauernden Gesundheitsschädigungen der Beschwerdeführerin aufgrund einer nachweislichen und dauerhaften Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes ein Ausmaß erreichen, welches die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass rechtfertigt, war spruchgemäß zu entscheiden.
2. Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung
Der im Beschwerdefall maßgebliche Sachverhalt ergibt sich aus dem Akt der belangten Behörde und aus dem vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten, das auf einer persönlichen Untersuchung beruht, welches auf alle Einwände und vorgelegten Befunde der Beschwerdeführerin in fachlicher Hinsicht eingeht, und welchem die Beschwerdeführerin im Rahmen des ihr eingeräumten Parteiengehörs XXXX . Die strittige Tatsachenfrage, genauer die Art und das Ausmaß der Funktionseinschränkungen der Beschwerdeführerin und damit verbunden die Frage der Zumutbarkeit der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, sind einem Bereich zuzuordnen, der von einem Sachverständigen zu beurteilen ist. Der Beschwerde war stattzugeben. Die Beschwerdeführerin hat keine mündliche Beschwerdeverhandlung beantragt. All dies lässt die Einschätzung zu, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung im Beschwerdefall nicht nur mit Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC kompatibel ist, sondern der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis (§ 39 Abs. 2a AVG) gedient ist, gleichzeitig aber das Interesse der materiellen Wahrheit und der Wahrung des Parteiengehörs nicht verkürzt wird. Art. 6 EMRK bzw. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union stehen somit dem Absehen von einer mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG nicht entgegen.
Zu Spruchteil B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.
Schlagworte
Behindertenpass öffentliche Verkehrsmittel Sachverständigengutachten Unzumutbarkeit ZusatzeintragungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W261.2241291.1.00Im RIS seit
09.12.2021Zuletzt aktualisiert am
09.12.2021