TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/10 W162 2175050-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.11.2021
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Entscheidungsdatum

10.11.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W162 2175050-2/35E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Ulrike LECHNER, LL.M als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Julia Ecker, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.09.2018, Zl. XXXX , zu Recht:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und die Spruchpunkte I. sowie III. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

In Erledigung der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird dem Antrag vom 30.07.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG stattgegeben und die befristete Aufenthaltsberechtigung von XXXX als subsidiär Schutzberechtigter um zwei Jahre verlängert.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die beschwerdeführende Partei führt nach eigenen Angaben den im Spruch genannten Namen, ist Staatsangehöriger Afghanistans, gehört der tadschikischen Volksgruppe an, ist sunnitischen Glaubens und stellte am 23.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen. Dem Beschwerdeführer wurde jedoch der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. In der Begründung wurde ausgeführt, dass keine individuelle Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe glaubhaft gemacht worden sei, er jedoch im Falle einer Rückkehr aufgrund der allgemein prekären Sicherheitslage in Afghanistan einer Gefährdung ausgesetzt wäre. Hinzu komme, dass er in Afghanistan über keine tragfähigen familiären Anknüpfungspunkte verfüge und in seiner Heimat daher damit konfrontiert sei, sich keine neue Existenz aufbauen zu können. Die soziale Absicherung liege laut Länderberichten traditionell bei den Familien und Stammesverbänden. Afghanen, denen das notwendige soziale und familiäre Netzwerk fehle, sei der Aufbau eines neuen Lebens nicht möglich. Gegen die Abweisung der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an das BVwG.

Der Beschwerdeführer stellte am 30.07.2018 einen Antrag auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung.

Mit Urteil des LG Wien vom 26.07.2018, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften gemäß §§ 27 Abs. 1 Z 1, 8. Fall, 27 Abs. 2a, 2. 3. Fall, Abs. 3 SMG § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 7 Monaten, bedingt auf eine Probezeit von 3 Jahren, rechtskräftig verurteilt.

Aufgrund dieser Verurteilung leitete das BFA mit Aktenvermerk vom 01.08.2018 von Amts wegen ein Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ein.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 30.08.2018 zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Pashtu eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer in Anwesenheit seiner damaligen Rechtsvertreterin neuerlich zu seinen Fluchtgründen und im Hinblick auf das eingeleitete Verfahren zur Aberkennung des subsidiären Schutzes zu seinen Lebensverhältnissen und einer etwaigen Integration in Österreich befragt wurde. Das BFA wurde ordnungsgemäß zu dieser öffentlichen mündlichen Verhandlung geladen, ein Vertreter des Bundesamtes nahm jedoch entschuldigt nicht an der Verhandlung teil. Hierbei bekräftigte der Beschwerdeführer im Wesentlichen die Richtigkeit seines bisherigen Vorbringens und legte Unterlagen vor.

Mit Erkenntnis des BVwG vom 13.05.2019, Zl. W162 175050-1/20E wurde dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten versagt.

Am 14.09.2018 wurde der Beschwerdeführer vom BFA bezüglich des Verfahrens zur Aberkennung des subsidiären Schutzes einvernommen.

Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 18.09.2018 wurde dem Beschwerdeführer der mit 23.09.2017 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gem. § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.). Sein Antrag vom 30.07.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung wurde gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 abgewiesen (II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm nicht erteilt (III.). Es wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (IV.). Es wurde festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist (V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (VI.). Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nicht mehr vorlägen, da sich seine subjektive Lage im Vergleich zum Entscheidungszeitpunkt verändert hätte. Es bestehe eine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative. Zudem wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer unzählige Familienangehörige in Afghanistan hätte und er bei einer Rückkehr nicht auf sich allein gestellt wäre. Eine Rückkehr sei nach aktueller Rechtsprechung aber ohnehin auch ohne finanzielle Unterstützung durch seine Familienangehören möglich, da er jung, gesund und arbeitsfähig sei.

Gegen diesen Bescheid richtete sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde, in der der Beschwerdeführer im Wesentlichen monierte, dass die Zuerkennung des subsidiären Schutzes insbesondere mit der Sicherheitslage in Afghanistan begründet worden sei, aufgrund der er im Falle einer Rückkehr als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit ausgesetzt gewesen wäre. Weiters hätte das BFA angegeben, er habe über keine tragfähigen familiären Anknüpfungspunkte bzw. Unterstützungsnetzwerke in Städten außerhalb seiner Heimatprovinz verfügt, weshalb er im Falle einer Rückkehr mit erheblichen Schwierigkeiten bei der Existenzsicherung konfrontiert worden wäre. Hierzu gab der Beschwerdeführer an, dass keine wesentliche Änderung im Hinblick auf die individuelle Situation erfolgt und eine solche vom BFA auch nicht dargelegt worden sei. Eine Verbesserung der Lage in Afghanistan sei ebenfalls nicht ersichtlich und eine IFA in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat ausgeschlossen. Dass der VwGH nunmehr eine restriktivere Rechtsansicht in Bezug auf erwachsene, gesunde und arbeitsfähige afghanische Männer vertrete, könne nicht zur Folge haben, dass dem Beschwerdeführer der subsidiäre Schutzstatus aufgehoben werde, zumal der Beschwerdeführer diese Voraussetzungen bereits zum Zeitpunkt der Zuerkennung des subsidiären Schutzes erfüllt hätte. Eine derartige Vorgehensweise verletze den Vertrauensschutz des Beschwerdeführers. Eine Judikaturänderung könne kein Aberkennungsgrund sein. Zudem sei eine Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer aufgrund seiner bereits fortgeschrittenen Integration nicht zulässig.

Mit Urteil des LG Wien vom 29.10.2019, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen der versuchten Nötigung und gefährlichen Drohung gemäß § 107 Abs. 1 StGB und §§ 15, 105 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten, bedingt auf eine Probezeit von 3 Jahren, rechtskräftig verurteilt.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 07.11.2019, Zl. W162 2175050-2/8E, wurde die Beschwerde des Beschwerdeführers als unbegründet abgewiesen. Im vorliegenden Fall würden die Voraussetzungen für die Aberkennung des subsidiären Schutzes gem. § 9 Abs. 1 Z 1 erster Fall AsylG 2005 vorliegen. Damit erübrige sich die Prüfung der in § 9 Abs. 2 AsylG 2005 enthaltenen Ausschlussgründe, weil § 9 Abs. 2 leg. cit. nur zu Anwendung gelange, wenn eine Aberkennung nicht bereits gem. § 9 Abs. 1 leg. cit. zu erfolgen habe.

Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 24.02.2020 wurde die Behandlung der Beschwerde abgelehnt. Insbesondere wurde ausgeführt, dass sich das Bundesverwaltungsgericht mit der Frage der Gefährdung des Beschwerdeführers in seinen Rechten auseinandergesetzt habe. Dem Bundesverwaltungsgericht könne unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht entgegengetreten werden, wenn es auf Grund der Umstände des vorliegenden Falles davon ausgehe, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts von Fremden ohne Aufenthaltstiteln das Interesse am Verbleib im Bundesgebiet aus Gründen des Art. 8 EMRK überwiege.

In weiterer Folge wurde das obige Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 07.11.2019 mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 28.12.2020, Ra 2020/14/0205-10, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben. Begründend wurde im Wesentlichen festgehalten, dass entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht davon ausgegangen werden könne, dass es § 9 Abs. 1 Z 1 erster Fall AsylG 2005 der Behörde ermöglichen würde, ohne Bedachtnahme auf die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten stets losgelöst davon eine Neubewertung vorzunehmen, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz vorlägen, und die Aberkennung dieses Status auszusprechen. Somit stehe die vom Bundesverwaltungsgericht vertretene Ansicht nicht mit dem Gesetz in Einklang. In Verkennung der dargestellten Rechtslage habe das Verwaltungsgericht auch keine ausreichenden Feststellungen getroffen, die die Beurteilung ermöglicht hätten, ob die für die Zuerkennung maßgeblichen Feststellungen unrichtig gewesen wären oder sich gegenüber den für Zuerkennung entscheidungswesentlichen Umständen maßgebliche Änderungen ergeben hätten.

Mit Schreiben vom 15.03.2021 und 12.05.2021, eingelangt am 14.05.2021, übermittelte der Beschwerdeführer jeweils Urkunden und verwies auf ein aufrechtes Privat- und Familienleben in Österreich.

Mit Schreiben vom 28.09.2021, eingelangt am 29.09.2021, übermittelte der Beschwerdeführer weitere Integrationsunterlagen (u.a. Dienstvertrag, Lohnzettel) und gab an, dass er nunmehr als Küchenhilfe arbeite, eine österreichische Lebensgefährtin und ein Kind in Österreich habe und mittlerweile eine herausragende Integration aufweise. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei ihm zudem aufgrund der Sicherheitslage weiterhin nicht zumutbar.

In der Folge wurden den Verfahrensparteien Länderfeststellungen zur Situation in Afghanistan (u.a. LIB 16.09.2021) übermittelt und Gelegenheit gegeben, dazu Stellung zu nehmen.

Das BFA hat keine Stellungnahme hierzu abgegeben.

Der Beschwerdeführer verwies mit Stellungnahme vom 28.10.2021 auf die derzeitige schlechte Sicherheitslage in Afghanistan aufgrund der Übernahme durch die Taliban und übermittelte einen Zeitungsartikel. Zudem bekräftigte er, dass in seinem Fall kein Grund für eine Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gegeben sei. Überdies sei in Bezug auf die Entwicklung der Versorgungssituation in Afghanistan von einer negativen Prognose auszugehen und seien Rückkehrer besonders hiervon betroffen. Unter einem verwies der Beschwerdeführer auf Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes, wonach gegenwärtig schon aus der allgemeinen Lage in Afghanistan die Notwendigkeit einer Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuleiten sei. Schließlich übermittelte der Beschwerdeführer auch ein aktuelles Empfehlungsschreiben seiner Arbeitskollegen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger Afghanistans, Tadschike, Sunnit, gesund, spricht Pashtu und Dari als Muttersprache, reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 23.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er stammt aus der Provinz Nangarhar. Der Beschwerdeführer hat sein Leben bis zu seiner Ausreise nach Österreich im gemeinsamen Familienverband mit seiner Familie verbracht.

Er lebte in der Stadt Jalalabad und ging zwölf Jahre lang in Kabul in die Schule. Er hat die Schule abgeschlossen und dann in der Provinz Nangarhar im Gefängnis gearbeitet. Er hatte keine exponierte Stelle an seinem Arbeitsplatz im Gefängnis inne, sondern war für administrative Schreibarbeiten und die gelegentliche Begleitung sowie administrative Erfassung von Insassen innerhalb des Gefängnisses zuständig.

Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig. Er hat einen jüngeren Bruder und eine Mutter in Afghanistan. Seine Mutter lebt bei einem Onkel mütterlicherseits in Nangarhar.

Der Beschwerdeführer hält sich nachweislich seit August 2015 in Österreich auf.

Er wurde mit Urteil des LG Wien vom 26.07.2018, Zl. XXXX , rechtskräftig vom Landesgericht für Strafsachen Wien wegen Vergehen nach dem Suchtmittelgesetz gemäß §§ 27 Abs 1 Z 1 8. Fall, 27 Abs 2a 2. 3. Fall, Abs 3 SMG, §15 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sieben Monaten verurteilt, welche unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Mit Urteil des LG Wien vom 29.10.2019, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen der versuchten Nötigung und gefährlichen Drohung gemäß § 107 Abs. 1 StGB und §§ 15, 105 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten, bedingt auf eine Probezeit von 3 Jahren, rechtskräftig verurteilt.

Der Beschwerdeführer hat einen gemeinsamen Sohn namens XXXX mit einer österreichischen Staatsbürgerin namens XXXX . Der Sohn wurde am XXXX geboren. Sie teilen sich die gemeinsame Obsorge, haben derzeit aber keinen gemeinsamen Haushalt. Der Beschwerdeführer hat sich verpflichtet, ab 01.04.2021 monatlich einen Unterhaltsbeitrag von € 100,- zu leisten. Die Wiener Kinder- und Jugendhilfe ist seit der Geburt des Kindes mit der Familie befasst und betreut sie im Rahmen einer Unterstützung bei der Erziehung.

Vom 26.06.2020 bis zum 10.09.2020 hat der Beschwerdeführer Vollzeit als Küchenhilfe bei XXXX gearbeitet. Vom 22.01.2020 bis zum 14.03.2020 hat er Vollzeit als Lagerarbeiter bei der XXXX gearbeitet. Vom 01.10.2020 bis zum 15.05.2021 hat der Beschwerdeführer Vollzeit als Abwäscher im Bereich Küche bei der XXXX gearbeitet. Seit 29.06.2021 arbeitet der Beschwerdeführer Vollzeit als Küchenhilfe bei der XXXX und verdient € 1.840,00. Er ist selbsterhaltungsfähig und bezieht keine Grundversorgung.

Seit seiner Asylantragstellung am 23.08.2015 war der Beschwerdeführer als Asylwerber vorläufig rechtmäßig in Österreich aufhältig. Nach Erlassung des Bescheides des BFA vom 23.09.2017 war er in Österreich aufgrund einer bis zum 23.09.2018 befristet erteilten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter rechtmäßig aufhältig. In der Begründung wurde ausgeführt, dass er im Falle einer Rückkehr aufgrund der allgemein prekären Sicherheitslage in Afghanistan einer Gefährdung ausgesetzt wäre. Hinzu komme, dass er in Afghanistan über keine tragfähigen familiären Anknüpfungspunkte verfüge und in seiner Heimat daher damit konfrontiert sei, sich keine neue Existenz aufbauen zu können. Die soziale Absicherung liege laut Länderberichten traditionell bei den Familien und Stammesverbänden. Afghanen, denen das notwendige soziale und familiäre Netzwerk fehle, sei der Aufbau eines neuen Lebens nicht möglich. Gegen die Abweisung der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an das BVwG.

Der Beschwerdeführer stellte am 30.07.2018 den Antrag auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung.

Mit Bescheid vom 18.09.2018 wurde dem Beschwerdeführer der mit 23.09.2017 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gem. § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.). Sein Antrag vom 30.07.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung wurde gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 abgewiesen (II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm nicht erteilt (III.). Es wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (IV.). Es wurde festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist (V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (VI.). Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nicht mehr vorlägen, da sich seine subjektive Lage im Vergleich zum Entscheidungszeitpunkt verändert hätte. Es bestehe eine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative. Zudem wurde seitens des BFA festgestellt, dass der Beschwerdeführer unzählige Familienangehörige in Afghanistan hätte und er bei einer Rückkehr nicht auf sich allein gestellt wäre. Eine Rückkehr sei nach aktueller Rechtsprechung aber ohnehin auch ohne finanzielle Unterstützung durch seine Familienangehören möglich, da er jung, gesund und arbeitsfähig sei.

Festgestellt wird, dass sich unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Beschwerdeführers und der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan die Umstände, die zur Gewährung des subsidiären Schutzes geführt haben, seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten durch die belangte Behörde nicht wesentlich und nachhaltig verändert bzw. verbessert (sondern vielmehr verschlechtert) haben.

Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß bzw. der Machtübernahme durch die Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der zum Entscheidungszeitpunkt instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Dem Beschwerdeführer ist es dementsprechend auch nicht möglich und auch nicht zumutbar, sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Mazar-e Sharif, Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden. In der Folge ist es ihm auch nicht möglich, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. nicht, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der Beschwerdeführer gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar und der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.

Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).

Zu Afghanistan:

1. COVID-19:

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).

Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).

Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban

DDas vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“ (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen.

Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen – mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Frauen und Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

Quellen:

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2. Politische Lage:

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offengehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Quellen:

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-        RFE/RL - Radio Free Europe / Radio Liberty (6.8.2021): Who’s Who In The Taliban: The Men Who Run The Extremist Group And How They Operate, https://gandhara.rferl.org/a/taliban-leadershipstructure-afghan/31397337.html , Zugriff 3.9.2021

-        TAG - Tagesschau (15.8.2021): Präsident Ghani ins Ausland geflohen, https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-kabul-ghani-101.html , Zugriff 3.9.2021

-        TD - The Diplomat (10.9.2021): What the Taliban’s Interim Government Means for Afghanistan’s Neighbors, https://thediplomat.com/2021/09/what-the-talibans-interim-government-means-for-afghanistans-neighbors/ , Zugriff 13.9.2021

-        UNGASC - United Nations General Assembly Security Council (2.9.2021): The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060189/sg_report_on_afghanistan_september_2021.pdf , Zugriff 13.9.2021

-        WoM - Worldometers (o.D.): Afghanistan Population, https://www.worldometers.info/world-population/afghanistan-population/ , Zugriff 9.9.2021

3. Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban:

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass „irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen“ (USDOS 29.2.2020).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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