Entscheidungsdatum
17.11.2021Norm
BFA-VG §22a Abs1 Z3Spruch
W117 2232698-1/28E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. DRUCKENTHANER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. AFGHANISTAN, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, RD NÖ Außenstelle St. Pölten vom 24.06.2020, Zl. 1109024007-200444696,, sowie die Anhaltung in Schubhaft zu Recht erkannt:
A)
I. Der Beschwerde wird gemäß § 22a Abs. 1 Z 3 BFA-VG idgF, § 76 Abs. 2 Z 1 FPG und § 76 Abs. 3 erster Satz FPG idgF stattgegeben und der Schubhaftbescheid sowie die Anhaltung in Schubhaft vom 26.06.2020 bis zum 08.07.2020 für rechtswidrig erklärt.
II. Gemäß § 35 Abs. 1 und Abs. 4 Z 1 VwGVG idgF iVm § 1 Z. 1 und Z 2 VwG-AufwErsV idgF hat der Bund (Bundesminister für Inneres) der beschwerdeführenden Partei Aufwendungen in der Höhe von (€ 1689,60) Euro binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
IV. Der Antrag der Verwaltungsbehörde auf Kostenersatz wird gemäß § 35 Abs. 1 VwGVG idgF abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Verfahrensgang und Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte nach seiner illegalen Einreise in das Bundesgebiet am 19. März 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 12. März 2018 vollumfänglich abgewiesen wurde; unter einem sprach das BFA aus, dass dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und gewährte eine Frist für die freiwillige Ausreise. Das Verfahren über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht war im Zeitpunkt der Erlassung des hier in Revision gezogenen Erkenntnisses noch nicht abgeschlossen.
Mit Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau vom 17. Juli 2019 wurde der Beschwerdeführer wegen Sachbeschädigung nach § 125 StGB und wegen versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 erster Fall StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt.
In der Folge stellte das BFA mit Bescheid vom 23. September 2019 fest, dass der Beschwerdeführer ab dem 9. August 2019 gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG 2005 sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet verloren habe.
Der Beschwerdeführer wurde neuerlich straffällig und am 17. April 2020 durch das Landesgericht Krems an der Donau wegen Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB, gefährlicher Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB und versuchter schwerer Körperverletzung nach §§ 15, 84 Abs. 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten (davon 13 Monate bedingt nachgesehen) verurteilt. Am 26. Juni 2020 wurde er vorzeitig aus der Strafhaft entlassen.
Im unmittelbaren Anschluss daran wurde er in Schubhaft genommen. Grundlage hierfür war ein Bescheid des BFA vom 24. Juni 2020, mit dem gegen den Beschwerdeführer gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme angeordnet worden war, wobei die Rechtsfolgen des Bescheides nach der Entlassung aus der Strafhaft eintreten sollten.
Die gegen diesen Bescheid und die fortdauernde Anhaltung in Schubhaft erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen Erkenntnis gemäß § 22a Abs. 1 Z 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 1 und Abs. 3 Z 9 FPG als unbegründet ab. Gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 1 und Abs. 3 Z 9 FPG stellte es fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.
Begründend stellte das Bundesverwaltungsgericht zur ersten Verurteilung des Beschwerdeführers fest, dass er am 20. November 2018 eine Auseinandersetzung mit einer österreichischen Staatsbürgerin (seiner Freundin) gehabt habe, wobei die beiden einander alkoholisiert gegenseitig verletzt hätten; der Beschwerdeführer sei von den einschreitenden Polizeibeamten mehrmals abgemahnt worden, habe aber in seinem aggressiven Verhalten verharrt und die Beamten attackiert. Den Spruch des zweiten gegen den Beschwerdeführer ergangenen Strafurteils gab das Bundesverwaltungsgericht wörtlich wieder; daraus geht hervor, dass der Beschwerdeführer dieselbe österreichische Staatsbürgerin am 23. Jänner 2019 durch einen Schlag gegen den Hinterkopf mit einem schweren Trinkglas und am 16. März 2020 durch einen Faustschlag in das Gesicht verletzt sowie außerdem eine gefährliche Drohung gegen sie ausgesprochen und eine weitere (schwere) Körperverletzung durch Hantieren mit einem Messer versucht hatte.
Im Rahmen seiner Beweiswürdigung erwog das Bundesverwaltungsgericht, dass der Beschwerdeführer seine strafbaren Handlungen mit dem Vorliegen einer Alkoholisierung und Stress gerechtfertigt habe. Der Beschwerdeführer habe demnach Alkohol getrunken, um seine Probleme und die Geschehnisse der Vergangenheit zu vergessen. An der äußeren Situation, welche den Beschwerdeführer offensichtlich in Stress versetzt und letztlich zum Alkoholkonsum geführt habe, was wiederum die Straftaten zur Folge gehabt habe, habe sich weder zum Zeitpunkt der Schubhaftverhängung noch zum aktuellen Zeitpunkt etwas geändert. Es sei - im Gegenteil - ehebaldigst mit einer (negativen) Entscheidung im Asylverfahren zu rechnen, was die Leiterin der für das Asylverfahren zuständigen Gerichtsabteilung mitgeteilt habe. Eine Grobprüfung des Asylantrages, insbesondere basierend auf den Angaben des Beschwerdeführers im Rahmen seiner Asyleinvernahme, habe dessen Aussichtslosigkeit ergeben. Da nach wie vor von einer „sehr hohen Stresssituation“ des Beschwerdeführer auszugehen sei, dränge sich geradezu der Schluss auf, dass er, je näher die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts rücke, wieder in den Alkohol flüchten und wieder ähnliche Straftaten begehen werde. Das zeige nicht nur, dass er eine Gefahr für die österreichische Gesellschaft sei, sondern es ergebe sich „als logische Konsequenz der zu erwartenden neuerlichen Straftaten“, dass sich der Beschwerdeführer „dem Zugriff der Justiz und damit auch den Verwaltungsbehörden entziehen“ werde.
In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass das BFA den Sachverhalt zutreffend den Tatbeständen des § 76 Abs. 2 Z 1 und Abs. 3 Z 9 FPG unterstellt habe. Es wiederholte sodann seine Einschätzung, dass der Beschwerdeführer, je näher die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Asylverfahren rücke, wieder in den Alkohol flüchten und daher ähnliche Straftaten wie in der Vergangenheit begehen werde, sodass er eine große Gefahr für die österreichische Gesellschaft im Sinne des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG sei und sich dem Zugriff der Justiz und damit auch den Verwaltungsbehörden entziehen werde (Hinweis auf § 76 Abs. 3 Z 9 FPG).
Aufgrund der besonderen Gefährlichkeit des Beschwerdeführers und der damit verbundenen Gefahr des Untertauchens, gerade im Hinblick auf die bevorstehende Asylentscheidung, habe das BFA auch zu Recht von einem gelinderen Mittel Abstand genommen. Da der Beschwerdeführer bis zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht lange in Schubhaft angehalten worden sei, erweise sich die bisherige Anhaltung auch in zeitlicher Hinsicht als verhältnismäßig. Aufgrund der vom Beschwerdeführer ausgehenden besonderen Gefährlichkeit sei dem Interesse des Staates am Vollzug fremdenrechtlicher Normen jedenfalls der Vorrang gegenüber dem Interesse des Beschwerdeführers an seiner Freiheit einzuräumen. Das Gesagte gelte im Hinblick auf die bevorstehende Asylentscheidung auch für den Ausspruch über die Fortsetzung der Haft. Die weitere Anhaltung stelle sich daher jedenfalls als nicht unverhältnismäßig dar.
Gegen dieses Erkenntnis richtete sich die außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat wie folgt erwogen hatte:
„Der Revisionswerber war bis zuletzt Asylwerber und genoss ungeachtet dessen, dass er infolge seiner Straffälligkeit sein asylrechtliches Aufenthaltsrecht nach § 13 Abs. 2 AsylG 2005 verloren hatte, gemäß § 13 Abs. 3 AsylG 2005 (weiterhin) faktischen Abschiebeschutz. Im Hinblick darauf kam die Verhängung von Schubhaft gegen den Revisionswerber von vornherein nur nach dem - vom BFA und vom Bundesverwaltungsgericht auch herangezogenen - Schubhafttatbestand des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG in Betracht (vgl. VwGH 17.4.2020, Ro 2020/21/0004, Rn. 9).
Gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG darf Schubhaft nur angeordnet werden, wenn dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 FPG gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist.
Aus dem Verweis auf § 67 FPG folgt im Einklang mit den diesbezüglichen unionsrechtlichen Vorgaben, dass eine „tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr“ vorliegen muss, die ein „Grundinteresse der Gesellschaft berührt“ (vgl. VwGH 12.11.2019, Ra 2019/21/0305, Rn. 9). Das Bundesverwaltungsgericht hat sich zwar - anders als das BFA im Schubhaftbescheid - nicht ausdrücklich auf diesen Gefährdungsmaßstab bezogen, ist aber angesichts der festgestellten wiederholten Straftaten und mangels Hinweisen auf einen Wegfall der Neigung des Revisionswerbers zum Alkoholmissbrauch im Ergebnis zu Recht von einer für die Anwendung des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG ausreichenden Gefährdung ausgegangen.
Zum angenommenen Vorliegen der nach § 76 Abs. 2 Z 1 FPG weiters erforderlichen Fluchtgefahr stützte sich das Bundesverwaltungsgericht auf § 76 Abs. 3 Z 9 FPG, während im Schubhaftbescheid eine ausdrückliche Bezugnahme auf einen der Tatbestände des § 76 Abs. 3 FPG ganz fehlt. Nach § 76 Abs. 3 Z 9 FPG ist bei der Beurteilung der Fluchtgefahr „der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes“ zu berücksichtigen; es darf also, um Fluchtgefahr bejahen zu können, keine maßgebliche - der Annahme einer Entziehungsabsicht entgegenstehende - soziale Verankerung des Fremden in Österreich vorliegen, was an Hand der genannten Parameter zu beurteilen ist (vgl. etwa VwGH 27.10.2020, Ra 2019/21/0274, Rn. 10, mwN). Das Bundesverwaltungsgericht hat sich allerdings mit den beim Revisionswerber nach einem mehr als vierjährigen Aufenthalt in Österreich vorhandenen Anhaltspunkten für eine soziale Verankerung - wie etwa der schon gegenüber dem BFA behaupteten Lebensgemeinschaft mit einer österreichischen Staatsbürgerin - nicht auseinandergesetzt.
Vielmehr hat das Bundesverwaltungsgericht die Annahme einer Gefahr des Untertauchens allein damit begründet, dass es sich dabei um die „logische Konsequenz“ der zu erwartenden neuerlichen Straftaten handle. Eine mangelnde soziale Verankerung im Sinn des herangezogenen § 76 Abs. 3 Z 9 FPG wird damit nicht dargetan. Im Übrigen ist die Ableitung einer Fluchtgefahr aus den prognostizierten Straftaten schon deswegen nicht schlüssig, weil der Revisionswerber auch im Gefolge seiner bisher begangenen Straftaten nicht untergetaucht war. Generell kann ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten für sich genommen - schon mangels Nennung im Katalog des § 76 Abs. 3 FPG - keine Fluchtgefahr begründen (vgl. nochmals VwGH 27.10.2020, Ra 2019/21/0274, Rn. 12).
Da die Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts somit weder die Schlussfolgerung, dass § 76 Abs. 3 Z 9 FPG erfüllt sei, noch die Annahme einer Fluchtgefahr zu tragen vermögen und insoweit auch schon der Schubhaftbescheid unzureichend begründet war, erweisen sich sowohl die Abweisung der Schubhaftbeschwerde als auch der Fortsetzungsausspruch und die darauf aufbauende Kostenentscheidung als rechtswidrig.
Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.“
Beweiswürdigung:
Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich (unzweifelhaft) aus der Aktenlage; insbesondere waren die vom Verwaltungsgerichtshof in seinem behebenden Erkenntnis angeführten Sachverhaltsparameter und darauf aufbauend die vom VwGH gezogenen Schlussfolgerungen zugrunde zu legen – siehe dazu auch rechtliche Beurteilung.
Rechtliche Beurteilung
Zuständigkeit
Gemäß Artikel 130 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) idgF erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden
1. gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit;
2. gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt wegen Rechtswidrigkeit;
3. wegen Verletzung der Entscheidungspflicht durch eine Verwaltungsbehörde;
4. gegen Weisungen gemäß Art. 81a Abs. 4.
Gemäß § 9 Abs. 2 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Entscheidungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
§ 7 Abs. 1 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr 87/2012 idgF, lautet:
(1) Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet über
1. Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes,
2. Beschwerden gegen Bescheide der Vertretungsbehörden gemäß dem 11. Hauptstück des FPG,
3. Beschwerden gegen Maßnahmen unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt gemäß dem 1. Hauptstück des 2. Teiles des BFA-VG und gemäß dem 7. und 8. Hauptstück des FPG,
4. Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesamtes und
5. Beschwerden gegen Bescheide des Bundesministers für Inneres in Verfahren gemäß §§ 3 Abs. 2 Z 1 bis 6 und 4 Abs. 1 Z 1 und 2
Gemäß § 7 Abs. 2 BFA-VG hat das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der Verwaltungsgerichtshof einer Revision oder der Verfassungsgerichtshof einer Beschwerde gegen ein Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes gemäß Abs. 1 stattgegeben hat.
Für das gegenständliche Verfahren ist sohin das Bundesverwaltungsgericht zuständig.
Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.
Zu Spruchpunkt A) I. (Schubhaftbescheid, bisherige Anhaltung):
Gesetzliche Grundlagen:
Entsprechend dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2015 - FrÄG 2015 vom 18.06.2015, BGBl. I Nr. 70/2015, lautet §22a des BFA-Verfahrensgesetzes (BFA-VG) wie folgt:
§ 22a. (1) Der Fremde hat das Recht, das Bundesverwaltungsgericht mit der Behauptung der Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides, der Festnahme oder der Anhaltung anzurufen, wenn
1. er nach diesem Bundesgesetz festgenommen worden ist,
2. er unter Berufung auf dieses Bundesgesetz angehalten wird oder wurde, oder
3. gegen ihn Schubhaft gemäß dem 8. Hauptstück des FPG angeordnet wurde.
Die Bestimmung des §22a BFA-VG idgF bildet im gegenständlichen Fall die formelle Grundlage.
Materielle Rechtsgrundlage:
Darauf aufbauend wiederum folgende innerstaatliche Normen des Fremdenpolizeigesetzes 2005, welche in der anzuwendenden geltenden Fassung lauten:
§ 76. (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern der Zweck der Schubhaft nicht durch ein gelinderes Mittel (§ 77) erreicht werden kann. Unmündige Minderjährige dürfen nicht in Schubhaft angehalten werden.
(2) Die Schubhaft darf nur angeordnet werden, wenn
1. dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist,
(…)
(2a) Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (Abs. 2 und Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung) ist auch ein allfälliges strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen, insbesondere ob unter Berücksichtigung der Schwere der Straftaten das öffentliche Interesse an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung den Schutz der persönlichen Freiheit des Fremden überwiegt.
(3) Eine Fluchtgefahr im Sinne des Abs. 2 Z 1 oder 2 oder im Sinne des Art. 2 lit n Dublin-Verordnung liegt vor, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen wird oder dass der Fremde die Abschiebung wesentlich erschweren wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen,
(…)
Der Schubhaftbescheid und die darauf aufbauende Anhaltung waren schon deshalb für rechtswidrig zu erklären, da nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes nicht nur das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, sondern bereits der Schubhaftbescheid unter dem Aspekt des §76 Abs. 3 Z 9 FPG hinsichtlich der Annahme der Fluchtgefahr nicht ausreichend begründet war:
Da die Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts somit weder die Schlussfolgerung, dass § 76 Abs. 3 Z 9 FPG erfüllt sei, noch die Annahme einer Fluchtgefahr zu tragen vermögen und insoweit auch schon der Schubhaftbescheid unzureichend begründet war, erweisen sich sowohl die Abweisung der Schubhaftbeschwerde als auch der Fortsetzungsausspruch und die darauf aufbauende Kostenentscheidung als rechtswidrig.
In diesem Zusammenhang hatte der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung ausgeführt, dass „ein einmal rechtswidriger Schubhaftbescheid nicht - quasi partiell für einen "Teilzeitraum" – konvalidieren kann, zumal dies im Ergebnis einer im Gesetz insoweit nicht vorgesehenen Schubhaftverhängung "auf Vorrat" gleichkommen würde. War der Schubhaftbescheid rechtswidrig, so muss das auch für die gesamte Zeit der auf ihn gestützten Anhaltung gelten“ (VwGH, 2010/21/0388, v. 28.08.2012 u.v.a.).
Die von der Verwaltungsbehörde und dem Bundesverwaltungsgericht aus der Vielzahl der Straftaten und der Neigung zum Alkoholmissbrauch abgeleitete Fluchtgefahr erachtete der Verwaltungsgerichtshof als zwar hinreichend für die Annahme Vorliegens einer ausreichenden Gefährdung im Sinne des § 76 Abs. 1 Z 1 FPG, aber nicht für die Annahme von Fluchtgefahr:
„Vielmehr hat das Bundesverwaltungsgericht die Annahme einer Gefahr des Untertauchens allein damit begründet, dass es sich dabei um die „logische Konsequenz“ der zu erwartenden neuerlichen Straftaten handle. Eine mangelnde soziale Verankerung im Sinn des herangezogenen § 76 Abs. 3 Z 9 FPG wird damit nicht dargetan. Im Übrigen ist die Ableitung einer Fluchtgefahr aus den prognostizierten Straftaten schon deswegen nicht schlüssig, weil der Revisionswerber auch im Gefolge seiner bisher begangenen Straftaten nicht untergetaucht war. Generell kann ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten für sich genommen - schon mangels Nennung im Katalog des § 76 Abs. 3 FPG - keine Fluchtgefahr begründen (vgl. nochmals VwGH 27.10.2020, Ra 2019/21/0274, Rn. 12).“
In diesem Sinne war spruchgemäß zu entscheiden – der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass nunmehr ein Ausspruch über die Fortsetzung einer Anhaltung zu entfallen hatte, da sich der Beschwerdeführer aktuell nicht mehr in Schubhaft befindet; insofern hatte sich die Frage der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Anhaltung nur auf den Zeitraum zwischen Schubhaftbescheid und dem Tag der Verhandlung zu beziehen.
Zu Spruchpunkt III. und IV (Kosten):
In der Frage des Kostenanspruches – beide Verfahrensparteien begehrten den Ersatz ihrer Aufwendungen - sind gemäß § 56 (3) leg. cit. die §§22 (1a) leg. cit. und § 35 VwGVG die maßgeblichen Normen - diese lauten:
§22 (1a) Für Beschwerden gemäß Abs. 1 gelten die für Be schwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG anwendbaren Bestimmungen des VwGVG mit der Maßgabe, dass belangte Behörde jene Behörde ist, die den angefochtenen Schubhaftbescheid erlassen hat oder der die Festnahme oder die Anhaltung zuzurechnen ist.
(1) Dem Verfahren über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbar verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (Art. 130 Abs. 1 Z 2 b B-VG) obsiegende Partei hat Anspruch auf Ersatz ihrer Aufwendungen durch die unterlegene Partei.
(2) Wenn die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt für rechtswidrig erklärt wird, dann ist der Beschwerdeführer die obsiegende und die Behörde die unterlegene Partei.
(3) Wenn die Beschwerde zurückgewiesen oder abgewiesen wird oder vom Beschwerdeführer vor der Entscheidung durch das Verwaltungsgericht zurückgezogen wird, dann ist die Behörde die obsiegende und der Beschwerdeführer die unterlegene Partei.
Da der Beschwerdeführer vollständig obsiegte, steht ihm nach den angeführten Bestimmungen dem Grunde nach der Ersatz seiner Aufwendungen zu.
Hinsichtlich der konkreten Höhe des "Ersatzes ihrer Aufwendungen" sind § 35 Abs. 4 und 5 iVm § 1 der VwG-Aufwandersatzverordnung (VwG-AufwErsV) maßgeblich.
(4) Als Aufwendungen gemäß Abs. 1 gelten:
1. die Kommissionsgebühren sowie die Barauslagen, für die der Beschwerdeführer aufzukommen hat,
(…)"
§ 1 der VwG-Aufwandersatzverordnung (VwG-AufwErsV), BGBl. II Nr. 517/2013 lautet:
1. Ersatz des Schriftsatzaufwands des Beschwerdeführers als obsiegende Partei 737,60 Euro
2. Ersatz des Verhandlungsaufwands des Beschwerdeführers als obsiegende Partei 922,00 Euro
(…)
Dem Beschwerdeführer gebührt daher gemäß § 35 Abs. 1 und Abs. 4 VwGVG iVm § 1 Z. 1 und Z 2 VwG-AufwErsV Kostenersatz in der spruchgemäßen Höhe. Darin enthalten ist auch der Kostenersatz im Umfang der Eingabengebühr, da diese entsprechend der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ebenfalls zu ersetzen ist (vgl. VwGH vom 28.05.2020, Ra 2019/21/0336).
Zu Spruchpunkt B. (Revision):
Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, wenn die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.
Wie der oben dargelegten rechtlichen Beurteilung zu obigen Spruchpunkten zu entnehmen ist, warf die Tatsachenlastigkeit des gegenständlichen Falles im Hinblick auf die bereits zitierte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes keine Auslegungsprobleme der anzuwendenden Normen auf, schon gar nicht waren Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu lösen.
Die Revision war daher nicht zuzulassen.
Schlagworte
Begründungsmangel faktischer Abschiebeschutz Fluchtgefahr Kostenersatz öffentliche Interessen öffentliche Ordnung öffentliche Sicherheit Rechtsanschauung des VwGH Rechtswidrigkeit Rückkehrentscheidung Schubhaft Straffälligkeit Strafhaft strafrechtliche Verurteilung UntertauchenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W117.2232698.1.00Im RIS seit
09.12.2021Zuletzt aktualisiert am
09.12.2021