TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/16 L519 2241274-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.08.2021
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Entscheidungsdatum

16.08.2021

Norm

B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §53
FPG §55

Spruch


L519 2241274-1/9E

Schriftliche Ausfertigung des am 25.05.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. ZOPF über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.03.2021, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 25.05.2021 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge als BF bezeichnet), ein Staatsangehöriger der Türkei, wurde am XXXX in XXXX geboren und ist im Besitz eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt – EU“.

I.2. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 01.06.2006 (rk. 07.06.206), Zahl 11 HV 70/2006Z wurde der BF gemäß §§ 27 Abs. 1 und Abs. 2/2 1.Fall SMG zur einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten, bedingt auf drei Jahre, verurteilt.

I.3. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 03.08.2007 (rk. 07.08.2007), Zahl 11 HV 196/2006D wurde der BF wegen gefährlicher Drohung, Körperverletzung, Betrug, Sachbeschädigung und versuchtem Diebstahl gemäß §§ 107 Abs. 1, 83 Abs. 1, 146, 15/127 und 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt auf drei Jahre, verurteilt.

I.4. Mit Urteil des BG XXXX vom 18.06.2008 (rk. 23.04.2009), Zahl 5 U 367/2007 wurde der BF wegen Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt.

I.5. Mit Urteil des LG XXXX vom 25.05.2009 (rk. 29.05.2009), Zahl 46 HV 3/2009B wurde der BF wegen Körperverletzung und schwerer Körperverletzung gemäß §§ 83 Abs. 1 und 84 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt.

I.6. Mit Urteil des LG XXXX vom 06.07.2009 (rk. 10.07.2009), Zahl HV 38/2009T wurde der BF wegen Weitergabe und Besitz nachgemachten und gefälschten Geldes gemäß §§ 12 (3.Fall) 233 Abs. 1/1 und 1/2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt.

I.7. Mit Urteil des LG XXXX vom 09.09.2009 (rk. 15.09.2009), Zahl 11 HV 80/2009Z wurde der BF wegen gewerbsmäßigen Diebstahls, Betrug und Raub gemäß §§ 127, 130, 146 und 142 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt.

I.8. Mit Urteil des BG XXXX vom 13.10.2009 (rk. 17.10.2009), Zahl 28 U 289/2009T wurde der BF wegen Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB rechtskräftig verurteilt. Von der Verhängung einer Zusatzstrafe wurde ob der Verurteilungen des LG XXXX als auch des LG XXXX abgesehen.

I.9. Mit Urteil des BG XXXX vom 09.09.2011 (rk. 13.09.2011), Zahl 8 U 75/2010Z wurde der BF wegen Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 10 Wochen verurteilt.

I.10. Mit Urteil des LG XXXX vom 29.07.2014 (rk. 02.08.2014), Zahl 040 HV 18/2014x wurde der BF wegen Erpressung, schwerer Erpressung, Betrug und gewerbsmäßigem Betrug gemäß §§ 144 Abs. 1, 145 Abs. 2 Z 1, 146 und 148 1.Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

I.11. Mit Urteil des LG XXXX vom 25.10.2013 (rk. 04.09.2014), Zahl 051 HV 10/2013z wurde der BF wegen Betrug und versuchter Erpressung gemäß §§ 146 und 15,144 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt.

I.12. Für die Zeit vom 03.10.2015 bis 04.10.2015 wurde dem BF Ausgang von der JA XXXX zur Aufrechterhaltung seiner persönlichen Bindungen gewährt. Der BF kehrte jedoch von diesem Ausgang nicht zurück. Am 04.07.2017 konnte der BF von der Exekutive aufgrund der aufrechten Fahndung festgenommen und erneut in die JA XXXX eingeliefert werden.

I.13. Mit Urteil des LG XXXX vom 10.11.2017 (rk. 04.01.2018), Zahl 038 HV 68/2017i wurde der BF wegen Betrug, schweren Betrug, gewerbsmäßigen Betrug und unerlaubten Umgang mit Suchtgiften gemäß §§ 146, 147 Abs. 2, 148 1. Fall StGB, §§ 27 Abs. 1 Z1 1. und 2. Fall, 8. und 9. Fall und Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

I.14. Mit Schreiben vom 28.02.2018 gewährte das Bundesamt dem BF Parteiengehör (beabsichtigte Erlassung einer Rückkehrentscheidung iVm einem Einreiseverbot), zu welchem er zusammengefasst angab, dass er seit der Geburt in Österreich lebe und gesund sei. Seine Kernfamilie wohnt im Bundesgebiet, zur Türkei hätte er keinen Bezug, weswegen eine Ausreise in die Türkei nicht vorstellbar sei.

I.15. In Zusammenhang mit der beabsichtigten aufenthaltsbeendenden Maßnahme wurde der BF am 10.02.2021 in der JA XXXX vom Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Der BF gab dabei bekannt, dass er noch Verwandte zweiten und dritten Grades in der Türkei hat. Zudem hätte jeder Mensch eine zweite Chance verdient, er möchte in der Nähe seiner im Bundesgebiet wohnhaften Familie bleiben.

I.16. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.03.2021, Zl. 14926808-180204948, wurde gemäß § 52 Abs. 5 FPG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt I.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG 2005 wurde wider den BF ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt III.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise eingeräumt (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer bereits elfmal rechtskräftig verurteilt worden sei. Es sei erwiesen, dass der BF auf Grund des von ihm gesetzten Verhaltens eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellt. Er verletze massiv die Grundinteressen der Gesellschaft, insbesondere jene am Schutz fremden Vermögens, der körperlichen Unversehrtheit, der Volksgesundheit und der Wahrung des sozialen Friedens. Aus diesem Grund ist die Erlassung der Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot in der Dauer von acht Jahren dringend geboten.

I.17. Am 10.03.2021 wurde dem BF die Information über die Verpflichtung zur Ausreise in der JA XXXX zugestellt.

I.18. Gegen den zugestellten Bescheid des Bundesamtes wurde durch die rechtsfreundliche Vertretung fristgerecht Beschwerde erhoben.

In dieser werden inhaltliche Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung, mangelhafte Beweiswürdigung sowie die Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert. Das Bundesamt hätte es verabsäumt, den entscheidungsrelevanten Sachverhalt amtswegig zu ermitteln und die Situation des BF im Falle der Rückkehr in die Türkei nur mangelhaft geprüft. Auch sei das Familien- und Privatleben mangelhaft geprüft worden und wäre die Erlassung eines Einreiseverbotes unter einem mit einer Rückkehrentscheidung nicht mehr zwingend gesetzlich vorgeschrieben.

Weiter wird beantragt, den angefochtenen Bescheid bezüglich der Spruchpunkte I. bis IV. aufzuheben, bzw. dahingehend abzuändern, dass die Rückkehrentscheidung aufgehoben, für auf Dauer unzulässig erklärt und dem BF ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Art 8 EMRK erteilt wird; in eventu den Bescheid im Umfang des Spruchpunktes III. ersatzlos zu beheben; in eventu die Dauer des Einreiseverbotes auf eine angemessene Dauer herabzusetzen; in eventu den Bescheid ersatzlos zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen. Jedenfalls wird eine mündliche Verhandlung beantragt.

In der Sache bringt der Beschwerdeführer vor, er sei in Österreich geboren und hätte dementsprechend auch im Bundesgebiet seine gesamte Familie, weswegen er über ein ausgeprägtes Privat- und Familienleben verfüge. Zur Türkei bestehe nicht einmal der Ansatz einer Verbindung. Die Behörde hätte sich nicht mit den konkreten Inhalten der Strafakte auseinandergesetzt, indem sie lediglich feststellte, dass der BF nicht gewillt sei, sich an die österreichische Rechtsordnung zu halten. Weiter wäre die enge Beziehung zur Familie des BF nicht ausreichend berücksichtigt worden. Aufgrund seiner sozialen Kontakte wäre der BF einem österreichischen Staatsbürger gleichzustellen. Es würde jedenfalls sehr viel für ein schützenswertes Privat- und Familienleben sprechen und würde die Ausweisung gleichzeitig die Trennung von seiner Familie bedeuten.

I.19. Am 25.05.2021 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung und eines Dolmetschers für die Sprache Türkisch durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, seinen Standpunkt umfassend darzulegen.

Im Anschluss an die mündliche Verhandlung wurde das gegenständliche Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen mündlich verkündet und seitens des Beschwerdeführers mit Eingabe vom 25.05.2021 die Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses beantragt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

I.1. Feststellungen:

I.1.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen, er ist Staatsangehöriger der Türkei und somit Drittstaatsangehöriger. Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in XXXX geboren. Er besuchte dort die Vor-, Volks- und Sonderschule, danach den Polytechnischen Lehrgang. Der BF machte keine Ausbildung. Eine in der JA XXXX begonnene Lehre zum Tischler wurde nicht beendet.

Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer ist Moslem.

Der Beschwerdeführer ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung. Er gehört auch nicht zu einer Covid19 Risikogruppe.

Der BF konsumierte ab seinem 14. Lebensjahr Gras, Speed, Ecstasy, Kokain und Chrystal Meth. Er gibt an, seit 2017 keine Drogen mehr zu nehmen.

I.1.2. Der Beschwerdeführer ist im Besitz eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt-EU“ und eines Aufenthaltstitels „Familiengemeinschaft – ausgenommen unselbständiger Erwerb“, welche am 13.08.2021 außer Kraft getreten ist.

Der Beschwerdeführer stellte keinen Antrag auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft.

I.1.3. Der Beschwerdeführer war bis dato zu keinem Zeitpunkt legal beschäftigt. Eine Einstellungszusage wurde nicht vorgelegt.

I.1.4. Im Bundesgebiet leben noch die Eltern, eine Schwester und zwei Brüder des BF. In der Türkei begründen eine Tante und zwei Onkel sowie mehrere Cousinen und Cousins väterlicherseits ihren Lebensmittelpunkt.

Der Beschwerdeführer ist seit seiner Haftentlassung am 06.04.2021 in XXXX (Verein für Integrationshilfe) gemeldet.

Zu folgenden Zeitpunkten war der BF im Bundesgebiet in Haft:

15.10.2009 bis 30.07.2010 JA Eisenstadt

06.01.2011 bis 10.01.2011 PAZ Eisenstadt

23.06.2011 bis 15.11.2011 JA Eisenstadt

15.11.2011 bis 02.07.2012 JA St. Pölten

17.04.2014 bis 16.09.2014 JA Wiener Neustadt

16.09.2014 bis 04.10.2015  JA Hirtenberg (vom Ausgang nicht zurückgekehrt)

04.07.2017 bis 06.04.2021 JA Hirtenberg

Der Beschwerdeführer ist in Österreich geboren und spricht Deutsch und Türkisch.

Ein vereinsmäßiges Engagement des Beschwerdeführers ist nicht feststellbar.

I.1.5. Der Beschwerdeführer ist ein gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger Mensch mit in Österreich erworbener grundlegender Schulbildung.

Der Beschwerdeführer verfügt in seinem Herkunftsstaat über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage sowie über familiäre Anknüpfungspunkte in Antalya und Adana in Gestalt seiner dort lebenden Tante, zwei Onkel sowie mehrere Cousinen und Cousins väterlicherseits. Dem Beschwerdeführer ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens in der Türkei möglich und zumutbar.

I.1.6. Der Beschwerdeführer verfügt über ein türkisches Reisedokument im Original.

I.1.7 Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 01.06.2006 (rk. 07.06.206), Zahl 11 HV 70/2006Z wurde der BF gemäß §§ 27 Abs. 1 und Abs. 2/2 1.Fall SMG zur einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten, bedingt auf drei Jahre, verurteilt. Der BF hat demnach Suchtgift gemeinsam mit einer zweiten Person im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter nicht mehr feststellbare Mengen an Cannabisharz erworben, besessen und entgeltlich und gewerbsmäßig an andere überlassen. Mildernd wurden das Geständnis, die Unbescholtenheit und die Jugendlichkeit bewertet.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 03.08.2007 (rk. 07.08.2007), Zahl 11 HV 196/2006D wurde der BF wegen gefährlicher Drohung, Körperverletzung, Betrug, Sachbeschädigung und versuchter Diebstahl gemäß §§ 107 Abs. 1, 83 Abs. 1, 146, 15/127 und 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt auf drei Jahre, verurteilt. Demnach hat der BF am 16.10.2006 mehrere Fahrgäste in einem Zug der ÖBB mit den Worten „ich bring dich um. Ich bin kein Österreicher, ich kann machen was ich will, ich bringe euch um“ zumindest mit einer Verletzung am Körper gefährlich bedroht um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen. Weiter verletzte er ein Opfer mit einem heftigen Schlag in das Gesicht vorsätzlich. Am 25.10.2006 hat der BF mit dem Vorsatz, durch das Verhalten des Getäuschten sich unrechtmäßig zu bereichern sein Opfer am Vermögen geschädigt. Am 21.06.2006 einem Opfer Bargeld in der Höhe von € 260 weggenommen, am 08.12.2006 im Geschäft C&A versucht einen Pullover im Wert von € 24,90 wegzunehmen und am 20.04.2006 einen Tisch in einer Bar durch Abbrennen vorsätzlich beschädigt. Mildernd wurde das Geständnis, erschwerend das Zusammentreffen strafbarer Handlungen berücksichtigt.

Mit Urteil des BG XXXX vom 18.06.2008 (rk. 23.04.2009), Zahl 5 U 367/2007 wurde der BF wegen Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Der BF hat demnach am 19.09.2007 seinem Opfer mit der flachen Hand in das Gesicht geschlagen, sodass dieser eine Prellung des Nasenrückens zur Folge hatte. Weiter hat er am 19.10.2007 sein Opfer durch Versetzen von Tritten gegen den Bauch und Rücken, wodurch dieses zu Sturz kam und Versetzen von mehreren Tritten gegen den dann bereits am Boden liegenden Opfer in das Gesicht und gegen den Oberkörper, wodurch dieses einen Bruch des Nasenbeines erlitt, am Körper verletzt. Mildernd wurden das Geständnis und das Alter von unter 21 Jahren berücksichtigt, erschwerend die einschlägigen Vorstrafen, die zweimalige Begehung der Tat und dass die Tat ohne Anlass mit großer Brutalität verübt worden ist. Einer diesbezüglichen Berufung wegen Nichtigkeit wurde vom LG XXXX keine Folge gegeben.

Mit Urteil des LG XXXX vom 25.05.2009 (rk. 29.05.2009), Zahl 46 HV 3/2009B wurde der BF wegen Körperverletzung und schwerer Körperverletzung gemäß §§ 83 Abs. 1 und 84 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt. Der BF versetzte dabei am 18.01.2009 seinem Opfer einen Faustschlag in das Gesicht, wodurch dieser einen Bluterguss samt Schwellung unterhalb des rechten Auges erlitt. Am 03.01.2009 versetzte der BF seinem Opfer einen Faustschlag in das Gesicht, wodurch dieses eine Schädelprellung sowie eine offene Nasenbeinfraktur erlitt. Das Alter unter 21 Jahren und ein Geständnis wurden als mildernd berücksichtigt, erschwerend waren die einschlägigen Vorstrafen und das Zusammentreffen zweier Vergehen.

Mit Urteil des LG XXXX vom 06.07.2009 (rk. 10.07.2009), Zahl HV 38/2009T wurde der BF wegen Weitergabe und Besitz nachgemachten und gefälschten Geldes gemäß §§ 12 (3.Fall) 233 Abs. 1/1 und 1/2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Der BF hat demnach von abgesondert verfolgten Personen zahlreiche Falsifikate (€ 5,-, 20,- und 50,-) im Nominalwert von € 980,- mit dem Vorsatz übernommen, dass es als echt und unverfälscht ausgegeben werde. Weiter hat er das nachgemachte Geld in Zusammenwirken mit drei anderen, denen er es zuvor mit dem Vorsatz übergeben hatte, dass es als echt und unverfälscht ausgegeben werde, als echt und unverfälscht ausgegeben. Mildernd: Geständnis und Alter und 21 Jahren, erschwerend: das Zusammentreffen mehrerer Vergehen und eine einschlägige Vorstrafe.

Mit Urteil des LG XXXX vom 09.09.2009 (rk. 15.09.2009), Zahl 11 HV 80/2009Z wurde der BF wegen gewerbsmäßigen Diebstahl, Betrug und Raub gemäß §§ 127, 130, 146 und 142 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Der BF hat zwei Opfer mit dem Vorsatz, sich unrechtmäßig zu bereichern zu verschiedenen Zeitpunkten Bargeld weggenommen. Weiter hat er sein Opfer durch Täuschung über seine Rückzahlungsunfähigkeit und –willigkeit zur Übergabe von Bargeld verleitet um sich so unrechtmäßig zu bereichern. Zuletzt hat der BF dadurch, dass er seinem Opfer die Hand um dessen Hand legte und zudrückte und dabei € 10,- aus dessen Geldbörse nahm, mit Gewalt gegen seine Person eine fremde bewegliche Sache mit dem Vorsatz weggenommen sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern. Mildernd waren das Geständnis und das Alter von unter 21 Jahren, erschwerend das Zusammentreffen strafbarer Handlungen und einschlägige Vorstrafen.

Mit Urteil des BG XXXX vom 13.10.2009 (rk. 17.10.2009), Zahl 28 U 289/2009T wurde der BF wegen Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB rechtskräftig verurteilt. Von der Verhängung einer Zusatzstrafe wurde ob der Verurteilungen des LG XXXX als auch des LG XXXX abgesehen. Der BF hat dabei sein weibliches Opfer durch einen Schlag gegen den Kopf am Körper verletzt, wodurch dieses eine Kieferprellung erlitt.

Mit Urteil des BG XXXX vom 09.09.2011 (rk. 13.09.2011), Zahl 8 U 75/2010Z wurde der BF wegen Körperverletzung gemäß § 83 Abs 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 10 Wochen verurteilt. Er hat dabei sein Opfer durch Versetzen eines Fußtrittes gegen den Brustkorb verletzt, wobei dieses eine Prellung am Unterkiefer erlitt. Das Geständnis wurde als Milderungsgrund, die Vorstrafen als erschwerend angeführt.

Mit Urteil des LG XXXX vom 29.07.2014 (rk. 02.08.2014), Zahl 040 HV 18/2014x wurde der BF wegen Erpressung, schwerer Erpressung, Betrug und gewerbsmäßigen Betrug gemäß §§ 144 Abs 1, 145 Abs. 2 Z 1, 146 und 148 1.Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der BF hat in zwei Angriffen sein Opfer durch die Vorspiegelung seiner Lieferbereitschaft betreffend Cannabiskraut zur Überlassung von € 200,- verleitet und dieses am Vermögen geschädigt. Weiter durch das Verhalten des Genötigten sich unrechtmäßig zu bereichern, indem er sinngemäß ankündigte, sein Opfer zusammenzuschlagen, sohin durch gefährliche Drohung mit einer Verletzung am Körper zu Handlungen genötigt, die dieses am Vermögen schädigten, wobei die Schadenssumme insgesamt € 750,- betrug. Sowohl der Betrug als auch die Erpressung erfolgten gewerbsmäßig. Mildernd wurde das teilweise Geständnis und dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, erschwerend das Zusammentreffen von Verbrechen, die Begehung während anhängigem Strafverfahren, sowie die einschlägigen rückfallsbegründeten Vorstrafen berücksichtigt.

Mit Urteil des LG XXXX vom 25.10.2013 (rk. 04.09.2014), Zahl 051 HV 10/2013z wurde der BF wegen Betrug und versuchter Erpressung gemäß §§ 146 und 15-144 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt. Der BF hat dabei seinem Opfer dessen Mobiltelefon gestohlen und anschließend € 70,- Lösegeld gefordert. Zudem hat er sich in wiederholten Angriffen unrechtmäßig bereichert, indem er seinem Opfer durch Täuschung über Tatsachen zur darlehensweisen Überlassung von € 66,- verleitet und weder zur Rückzahlung fähig, noch willig war. Mildernd die teilweise Schadensgutmachung, die teilweise geständige Verantwortung und dass es teilweise beim Versuch geblieben ist. Erschwerend die einschlägigen Vorstrafen und das Zusammentreffen von Verbrechen und Vergehen.

Mit Urteil des LG XXXX vom 10.11.2017 (rk. 04.01.2018), Zahl 038 HV 68/2017i wurde der BF wegen Betrug, schweren Betrug, gewerbsmäßigen Betrug und unerlaubten Umgang mit Suchtgiften gemäß §§ 146, 147 Abs. 2, 148 1. Fall StGB, §§ 27 Abs. 1 Z1 1. und 2. Fall, 8. und 9. Fall und Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Der BF hat demnach in wiederholten Angriffen eine vorsatz- bzw. schuldlose Person zur Ausführung strafbarer Handlungen dazu bestimmt, mehrere Mobilfunkbetreiber durch die Vorspiegelung, ein zahlungsfähiger und –williger Vertragspartner zu sein, zur Ausfolgung von Mobiltelefonen verleitet und sich so durch das Verhalten des Getäuschten unrechtmäßig zu bereichern. In acht Angriffen entstand so ein Schaden von mindestens € 4.800,-, im Falle des Versuches € 629,-. Das Opfer wurde weiter dazu aufgefordert, unter seinem Namen entsprechende Telekommunikationsverträge abzuschließen um dadurch € 120.000,- zu „verdienen“, wobei dieser Ertrag aufgeteilt worden wäre. Zudem hat er sein Opfer durch die Vorspiegelung seiner Rückzahlungsbereitschaft dadurch am Vermögen geschädigt, dass dieses ihm € 400,- übergab, wodurch sich der BF unrechtmäßig bereicherte. In oftmals wiederholten Angriffen zudem vorschriftswidrig zwischen März und Juli 2017 Suchtgift anderen gewerbsmäßig überlassen bzw. verschafft, und zwar unbekannten Abnehmern 1. Mindestens 15 Gramm amphetaminhältiges Speedpulver (mit Kreatin aufgestreckt auf 60 Gramm) durch gewinnbringenden Verkauf im Lokal „ XXXX “, 2. Weitere nicht mehr festzustellende Mengen amphetaminhältigen Speedpulvers durch gewinnbringenden Verkauf auf illegalen Rave-Partys, 3. Mindestens 200 MDMA-hältige Ecstasy-Tabletten durch Weitervermittlung an einen unbekannten Dealer auf Provisionsbasis. Zudem das oben angeführte Suchtgift sowie weitere nicht mehr festzustellende Mengen amphetaminhältiges Speedpulver, MDMA-hältige Ecstasy-Tabletten und Kokain erworben und besessen zu haben. Als mildernd wurde das Geständnis, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, die Konfiskation und die teilweise Schadensgutmachung durch den Verfall berücksichtigt. Erschwerungsgründe waren Tatwiederholung, die mehrfache Qualifikation, das Zusammentreffen mehrerer Vergehen, die Begehung während des Strafvollzuges und die sieben einschlägigen, rückfallsbegründenden Vorstrafen.

I.1.8. Zur aktuellen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer vollständig offengelegten Quellen getroffen:

COVID-19

Letzte Änderung: 16.05.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (FNS 16.3.2020; vgl. DS 11.3.2020). Nach den ersten vier Monaten des Jahres 2021 verzeichnete das Land 40.000 Corona-Tote bei offiziell annähernd 4,9 Mio. Infizierten. Bis Jahresende 2020 waren es rund 2,2 Mio Fälle und cirka 21.000 Tote. Das heißt innert der ersten vier Monate des Jahres 2021 haben sich beide Werte fast verdoppelt (JHU 3.5.2021). Mit Stand 5.5.2021 waren laut Angaben des Gesundheitsministeriums 14,25 Mio. Menschen, bei einer Bevölkerung von 85 Mio., mit einer ersten Dosis des Impfstoffs geimpft, während 9,82 Millionen eine zweite Dosis erhalten haben. Somit waren offiziell 25% der Einwohner zumindest einmal geimpft (Ahval 5.5.2021).

Am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca, dass nunmehr alle positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik aufgenommen werden. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020).

Beginnend mit 1.12.2020 war ein Lockdown in Kraft getreten, welcher u.a. unter der Woche eine nächtliche und an den Wochenenden eine totale Ausgangssperre vorsah. Eingeführt wurde der sogenannte HES (Hayat Eve Sigar) - Code, ein behördlich verliehener elektronischer Schlüssel, mittels welchem der momentane Status der jeweiligen Person in Hinblick auf Corona verfolgt und überprüft werden kann. Er dient z.B. als Zutrittsvoraussetzung zu Ämtern oder eben Einkaufszentren (WKO 21.1.2021).

Nachdem es durch strenge Maßnahmen gelang, die zweite Corona-Welle im Jänner etwas unter Kontrolle zu bringen, folgten ab 1.3.2021 Lockerungen, die die Regierung als "Normalisierungsprozess" bezeichnete (DW 3.4.2021). Davon abgesehen, ermächtigte die Regierung die Provinzbehörden, lokale Quarantänen und Ausgangssperren auf der Grundlage von epidemiologischen Daten zu verhängen (Garda World 1.3.2021). Doch seit den Lockerungen stiegen die Corona-Infektionen explosionsartig. Opposition und Ärzte gaben der Regierung die Schuld, wonach letztere mehrfach fahrlässig gehandelt hätte. Besonders der Türkische Ärztebund (TTB) rüttelte stets an der Glaubwürdigkeit der türkischen Regierung und ihrem Corona-Krisenmanagement (DW 3.4.2021). Der TTB verlangte Ende März 2021 angesichts der rasant steigenden Fallzahlen, u.a. die Mobilität auf stark frequentierten Straßen in den Städten ebenso einzuschränken wie Massenkontakte zwischen Menschen in geschlossenen Räumen. Zudem forderte der Ärzteverband von der Regierung mehr Transparenz hinsichtlich der COVID-19-Zahlen, des Impfprogramms sowie der Anwendung der Klassifizierungskritierien für die Provinzen (Reuters 26.3.2021).

Am 13.4.2021 wurde zunächst ein Teil-Lockdown wieder eingeführt, welcher eine verlängerte abendliche Ausgangssperre an Wochentagen, eine Rückkehr zum Online-Unterricht und ein Verbot von unnötigen Überlandfahrten beinhaltete (AP 18.4.2021). Die Bewohner mussten während der Ausgangssperre in ihren Häusern bleiben, außer zwecks Verrichtung einer wichtigen Arbeit oder aus dringenden medizinischen Gründen. Alle Veranstaltungen wie Hochzeiten und persönliche Feiern wurden bis zum 12.5.2021 ausgesetzt (Garda World 13.4.2021). Angesichts von täglichen Fallzahlen von über 60.000 bei über 300 Toten wurde überdies eine Ausgangssperre am Wochenende in Risikostädten, wie Istanbul oder Ankara, verhängt (Ahval 21.4.2021). Zuvor hatte Präsident Erdo?an auch wieder Wochenendsperren verhängt und die Schließung von Restaurants und Cafés während des heiligen muslimischen Monats Ramadan angeordnet (AP 18.4.2021).

Angesichts der steigenden Fall- und Todeszahlen wurde am 26.4.2021 ein fast dreiwöchiger verschärfter Lockdown, beginnend mit 29.4.2021, verkündet (AP 27.4.2021). Bis 17.5.2021 besteht (bestand) landesweit ein generelles Ausgangsverbot. Nebst Mindestabstand gilt an allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, Maskenpflicht. Einkäufe dürfen nur montags bis samstags von 10.00 Uhr bis 17.00 Uhr in Gehnähe und zu Fuß, nicht mit dem PKW, durchgeführt werden. Gastronomische Stätten haben nur für Lieferservice geöffnet. Einzelhandel, körpernahe Berufe ebenso wie Kinos, Bäder etc, bleiben geschlossen. Versammlungen und Hochzeiten sind verboten. Schulen und Kindergärten bleiben für den Präsenzunterricht geschlossen (WKÖ 27.4.2021; vgl. Garda World 27.4.2021). Allerdings wurden Millionen von Menschen von diesem ersten landesweiten Lockddown ausgenommen. Dazu gehörten neben Mitarbeitern des Gesundheitssektors und Vollzugsbeamten auch Fabrik- und Landwirtschaftsarbeiter sowie Mitarbeiter von Lieferketten und Logistikunternehmen. Auch Touristen waren ausgenommen. Schätzungen gingen davon aus, dass bis zu 16 Mio. der 84 Mio. Einwohner während des Lockdowns trotzdem unterwegs sein würden (AP 30.4.2021).

Quellen:

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?        Ahval (21.4.2021): Turkey registers record COVID-19 death toll of 362, over 60,000 new cases, https://ahvalnews.com/pandemic/turkey-registers-record-covid-19-death-toll-362-over-60000-new-cases, Zugriff 22.4.2021

?        AP – Associated Press (30.4.2021): Despite 3-week lockdown, many remain on the move in Turkey, https://apnews.com/article/middle-east-europe-turkey-religion-coronavirus-de48eb49ba5ade8961f87adee48cec4c, Zugriff 3.5.2021

?        AP – Associated Press (27.4.2021): Full COVID-19 lockdown adds to financial strain in Turkey, https://apnews.com/article/istanbul-recep-tayyip-erdogan-arts-and-entertainment-lifestyle-health-3151b3d113058d455ac44bca8ad71817, Zugriff 28.4.2021

?        AP – Associated Press (18.4.2021): Turkey reports record daily number of COVID-19 deaths, https://apnews.com/article/general-news-health-religion-turkey-51616e9efa1032384fa2282efc499261, Zugriff 21.4.2021

?        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (30.11.2020): Briefing Notes, KW 49, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw49-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=4, Zugriff 6.5.2021

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Garda World (1.3.2021): Turkey: Authorities ease certain COVID-19-related domestic restrictions as of March 1 /update 33, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/449486/turkey-authorities-ease-certain-covid-19-related-domestic-restrictions-as-of-march-1-update-33, Zugriff 21.4.2021

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?        Reuters (26.3.2021): Turkish medics call for tougher measures as COVID-19 surges, https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-turkey-healthcare-idUKKBN2BI2SK, Zugriff 21.4.2021

?        WKO – Wirtschaftskammer Österreich (27.4.2020): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Schutzmassnahmen_und_Geschaeftsleben, Zugriff 28.4.2021

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Politische Lage

Letzte Änderung: 05.05.2021

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 24.8.2020; vgl. DFAT 10.9.2020).

Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei zugunsten des neuen präsidialen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert, die Institutionen verkrüppelt und es herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S.2). Die Verfassungsarchitektur ist weiterhin von einer fortschreitenden Zentralisierung der Befugnisse im Bereich des Präsidentenamtes geprägt, ohne eine solide und wirksame Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu gewährleisten (EC 29.5.2019).

Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats (Kabinetts) übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art.8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S.9).

Da es keinen wirksamen Kontroll- und Ausgleichsmechanismus gibt, bleibt die demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive auf Wahlen beschränkt. Unter diesen Bedingungen setzten sich die gravierenden Rückschritte bei der Achtung demokratischer Normen, der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten fort. Die politische Polarisierung verhindert einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die parlamentarische Kontrolle über die Exekutive bleibt schwach. Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020).

Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S.1).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht gesenkt. Die unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und PACE kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem (damals noch) geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31.3.2019 hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu, mit einem Vorsprung von nur 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). ?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Y?ld?r?m, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).

Die Gesetzgebungsverfahren sind nicht effektiv. Präsidialdekrete bleiben der parlamentarischen Beratung und Kontrolle entzogen (EC 6.10.2020; vgl. ÖB 10.2020). Präsidialdekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 10.2020) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S.9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsident und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialdekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments, nichtsdestotrotz hat der Präsident bis Dezember 2019 53 Dekrete erlassen, die ein breites Spektrum sozioökonomischer Politikbereiche abdecken und eben nicht in den Geltungsbereich von Präsidialdekreten fallen (EC 6.10.2020). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialdekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialdekreten beantragen kann (EC 29.5.2019).

Der Präsident kann einen Ausnahmezustand selbständig ausrufen. Die zulässigen Gründe sind extrem weit gefasst. Im Ausnahmezustand gibt es keine Grenzen für die Reichweite von Präsidialdekreten. Gegen diese ist kein Einspruch beim Verfassungsgericht möglich (SWP 4.2021, S.9).

Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft (Stand Ende Dezember 2020), im Falle von Selahattin Demirta? trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlio?lu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021) Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsfreiheit von gewählten Amtsträgern außerhalb des Parlaments einschränkt, bleiben ungelöst (EC 6.10.2020).

PACE beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend Parlamentarier der Opposition sind von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum die Parlamentarier der HDP mehrheitlich betroffen sind. Auf letztere entfallen 75% der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen. In der Besorgnis, dass die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Oppositionsmandataren zur Routine wird, forderte PACE daher die türkischen Behörden auf, die gerichtlichen Schikanen gegen Parlamentarier zu beenden und von der Einleitung zahlreicher Verfahren zur unzulässigen Aufhebung ihrer Immunität abzusehen, die die Ausübung ihres politischen Mandats ernsthaft behindern (PACE 22.4.2021, S.2f.).

Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 6.10.2020). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt auch im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018). Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands verhaftet und mehr als 78.000 aufgrund Vorwürfen mit Terrorismusbezug festgenommen (EC 29.5.2019).

Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020). Mit Stand Oktober 2020 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister, hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblich Verbindungen zu terroristischen Organisationen hatten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 6.10.2020; vgl. bianet 2.10.2020). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Da keine Anklage erhoben wurde, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020).

[siehe auch die Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Opposition und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

Quellen:

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?        AM – Al Monitor (17.3.2021): Lawsuit filed to close pro-Kurdish party after lawmaker stripped of parliamentary seat, https://www.al-monitor.com/originals/2021/03/lawsuit-close-pro-kurdish-party-lawmaker-parliament-seat.html, Zugriff 23.2.2021

?        Anadolu – Anadolu Agency (23.6.2019): CHP's Imamoglu wins Istanbul’s mayoral poll, https://www.aa.com.tr/en/politics/chps-imamoglu-wins-istanbul-s-mayoral-poll/1513613, Zugriff 20.10.2020

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?        FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.6.2019): Erdogan gratuliert Imamoglu zum Wahlsieg in Istanbul, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wieder-niederlage-fuer-erdogans-akp-in-istanbul-16250529.html, Zugriff 20.10.2020

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?        HDN – Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 20.10.2020

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (23.6.2019): Niederlage für Erdogans AKP: CHP-Kandidat Imamoglu gewinnt erneut die Bürgermeisterwahl in Istanbul, https://www.nzz.ch/international/niederlage-fuer-erdogans-akp-chp-kandidat-imamoglu-gewinnt-erneut-die-buergermeisterwahl-in-istanbul-ld.1490981, Zugriff 20.10.2020

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 25.1.2021

?        ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf, Zugriff 20.10.2020

?        OSCE – Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true, Zugriff 20.10.2020

?        OSCE/PACE – Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey – Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 20.10.2020

?        OSCE/ODIHR – Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (21.9.2018): Turkey, Early Presidential and Parliamentary Elections, 24 June 2018: Final Report,https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/397046?download=true, 20.10.2020

?        PACE – Parliamentary Assembly of the Council of Europe (22.4.2021): The functioning of democratic institutions in Turkey, Resolution 2376 (2021), https://pace.coe.int/files/29189/pdf, Zugriff 23.4.2021

?        Standard – Der Standard (23.6.2019): Opposition gewinnt Wahlwiederholung in Istanbul, https://derstandard.at/2000105305388/Imamoglu-bei-Auszaehlung-der-Wahlwiederholung-in-Istanbul-in-Fuehrungin-Istanbul, Zugriff 20.10.2020

?        Standard – Der Standard (1.4.2019): Erdo?ans AKP verliert bei türkischer Kommunalwahl die Großstädte, https://derstandard.at/2000100581333/Erdogans-AKP-verliert-die-tuerkischen-Grossstaedte, Zugriff 20.10.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik [Seufert, Günter/ Adar, Sinem] (4.2021): Turkey’s Presidential System after Two and a Half Years. An Overview of Institutions and Politics, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/research_papers/2021RP02_Turkey_Presidential_System.pdf, Zugriff 28.4.2021

?        ZO – Zeit Online (22.12.2020): Menschenrechtshof fordert Freilassung von türkischem Oppositionellen, https://www.zeit.de/politik/2020-12/selahattin-demirtas-europaeischer-gerichtshof-menschenrechte-tuerkei, Zugriff 28.12.2020

?        ZO – Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen, Zugriff 20.10.2020

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 05.05.2021

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020).

Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie der linksextremistischen DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die "Terrorbekämpfung" und die Sicherung "nationaler Interessen" hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht. Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihre Ableger, den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (AA 24.8.2020; vgl. SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016).

Die Lage im Südosten des Landes ist weiterhin sehr besorgniserregend (EC 6.10.2020). Der Konflikt zwischen der Regierung und der PKK dauert an. Bestehende Spannungen werden durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak verstärkt. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen PKK-Kämpfern und den Sicherheitskräften (EDA 28.4.2021), wenn auch auf einem geringeren Niveau als in den Vorjahren. Diese führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat (USDOS 30.3.2021, S.2;25). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, treffen jedoch auch Zivilpersonen. Die Sicherheitskräfte führen groß angelegte Operationen und Strassencheckpoints durch, bei denen es auch zu Risiken für anwesende Zivilpersonen kommen kann. Auch bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und den Sicherheitskräften kann es zu Todesopfern und Verletzten kommen (EDA 28.4.2021). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 6.10.2020).

Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (?HD) kamen 2019 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 440 Personen ums Leben, davon 98 Angehörige der Sicherheitskräfte, 324 bewaffnete Militante und 18 Zivilisten (?HD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (?HD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (?HD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (?HD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe über 5.300 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis April 2021. Im Jahr 2020 wurden 366 Opfer registriert. Besonders hoch waren die Zahlen in den Monaten Mai bis September 2020. In den ersten vier Monaten des Jahres 2021 wurden 56 Tote gezählt (ICG 4.5.2021). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 6.10.2020).

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 28.4.2021). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern. Können Bewohner vor Beginn von Sicherheits

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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