Entscheidungsdatum
06.08.2021Norm
AsylG 2005 §10Spruch
(1.) L524 2170265-1/29E
(2.) L524 2170272-1/26E
(3.) L524 2170270-1/25E
(4.) L524 2170268-1/25E
(5.) L524 2170627-1/25E
(6.) L524 2170317-1/25E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Veronika SANGLHUBER LL.B. über die Beschwerde der (1.) XXXX , geb. XXXX , StA Irak, des (2.) XXXX , geb. XXXX , StA Irak, der (3.) XXXX , geb. XXXX , StA Irak, der (4.) mj. XXXX , geb. XXXX , StA Irak, der (5.) mj. XXXX , geb. XXXX , StA Irak und des (6.) mj. XXXX , geb. XXXX , StA Irak, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (1.) vom 09.08.2017, Zl. 1098965207-151983498/BMI-BFA_SZB_RD, (2.) vom 10.08.2017, Zl. 1098966008-151983552/BMI-BFA_SZB_RD, (3.) vom 10.08.2017, Zl. 1098966106-151983595/BMI_BFA_SZB_RD, (4.) vom 11.08.2017, Zl. 1098967909-151983641/BMI_BFA_SZB_RD, (5.) vom 10.08.2017, Zl. 1098966400-151983617/BMI_BFA_SZB_RD und (6.) vom 11.08.2017, Zl. 1159643605-170839598/BMI_BFA_SZB_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.07.2020, betreffend Anträge auf internationalen Schutz (hinsichtlich der Zuerkennung der Status der subsidiär Schutzberechtigten) und Erlassung von Rückkehrentscheidungen, zu Recht:
A) Den Beschwerden gegen die Spruchpunkte II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX und XXXX , geb. XXXX wird gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigen in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.
XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX und XXXX , geb. XXXX , wird gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigen in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.
Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wir den Beschwerdeführern jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.
Die Spruchpunkte III. und IV. der angefochtenen Bescheide werden ersatzlos aufgehoben.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Am 11.12.2015 stellte die Erstbeschwerdeführerin für sich und ihre damals minderjährigen Kinder, die Zweit- bis Fünftbeschwerdeführer jeweils Anträge auf internationalen Schutz. Am 13.12.2015 wurden die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einvernommen. Am 30.11.2016 wurde die Erstbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) einvernommen. Am 02.03.2017 wurden der Zweitbeschwerdeführer und die Drittbeschwerdeführerin in Anwesenheit ihrer Mutter als gesetzliche Vertreterin vor dem BFA einvernommen. Am 21.07.2017 wurde für den in Österreich geborenen Sechstbeschwerdeführer ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Mit Bescheiden des BFA (1.) vom 09.08.2017, Zl. 1098965207-151983498/BMI-BFA_SZB_RD, (2.) vom 10.08.2017, Zl. 1098966008-151983552/BMI-BFA_SZB_RD, (3.) vom 10.08.2017, Zl. 1098966106-151983595/BMI_BFA_SZB_RD, (4.) vom 11.08.2017, Zl. 1098967909-151983641/BMI_BFA_SZB_RD, (5.) vom 10.08.2017, Zl. 1098966400-151983617/BMI_BFA_SZB_RD und (6.) vom 11.08.2017, Zl. 1159643605-170839598/BMI_BFA_SZB_RD wurden die Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkte I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen (Spruchpunkte II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Irak zulässig sei (Spruchpunkte III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte IV.).
Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde.
Am 15.07.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durchgeführt, an der nur die Beschwerdeführer als Parteien teilnahmen. Das BFA entsandte keinen Vertreter.
Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.12.2020, (1.) L524 2170265-1/13E, (2.) L524 2170272-1/12E, (3.) L524 2170270-1/11E, (4.) L524 2170268-1/11E, (5.) L524 2170627-1/11E und (6.) L524 2170317-1/11E, wurden die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I., II. und III. erster Satz gemäß § 3, § 8 und § 57 AsylG als unbegründet abgewiesen. Den Beschwerden gegen die Spruchpunkte III. zweiter und dritter Satz und Spruchpunkt IV. wurde stattgegeben und festgestellt, dass die Erlassung von Rückkehrentscheidungen gemäß § 9 BFA-VG auf Dauer unzulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 und 2 AsylG wurde den Beschwerdeführern jeweils der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ erteilt.
Dagegen erhoben die Beschwerdeführer eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. In dieser wird keinerlei Vorbringen hinsichtlich der Nichtgewährung der Status der subsidiär Schutzberechtigten erstattet. Die Beschwerde wendet sich überwiegend gegen die Erteilung der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“. Die Beschwerdeführer monieren, dass sie wegen der Erteilung dieses Aufenthaltstitels keine Leistungen aus der Grundversorgung und keine Sozialhilfe bekommen würden.
Dem Bundesverwaltungsgericht wurde unter Einräumung einer – unangemessen kurzen – Frist von einer Woche die Erstattung einer Gegenschrift freigestellt. Dem kam das Bundesverwaltungsgericht nach und erstattete fristgerecht eine Gegenschrift.
Mit Erkenntnis des Verfassungsgerichthofes vom 10.03.2021, E 345-350/2021, wurde das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts hinsichtlich der Nichtzuerkennung der Status der subsidiär Schutzberechtigten aufgehoben. Im Übrigen wurde die Behandlung der Beschwerde abgelehnt. In seiner Begründung stellte der Verfassungsgerichtshof aktenwidrig fest, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand genommen habe (Rz 10) und ignorierte bei seiner Entscheidungsfindung dann auch die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts in der Gegenschrift.
II. Feststellungen:
Die Beschwerdeführer sind irakische Staatsangehörige, Araber und schiitische Moslems. Die Erstbeschwerdeführerin, XXXX , geb. XXXX , L524 2170265, ist die Mutter des zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährigen und nunmehr volljährigen Zweitbeschwerdeführers, XXXX , geb. XXXX , L524 2170272 und der zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährigen und nunmehr volljährigen Drittbeschwerdeführerin, XXXX , geb. XXXX , L524 2170270, sowie der minderjährigen Viertbeschwerdeführerin, XXXX , geb. XXXX , L524 2170268, der minderjährigen Fünftbeschwerdeführerin, XXXX , geb. XXXX , L524 2170627 und des minderjährigen Sechstbeschwerdeführers XXXX , geb. XXXX , L524 2170317.
Am 11.12.2015 stellte die Erstbeschwerdeführerin für sich und die damals minderjährigen Zweit- bis Fünftbeschwerdeführer jeweils Anträge auf internationalen Schutz. Der Vater der Zweit- und Drittbeschwerdeführer war der erste Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und ist bereits 2003 verstorben. Die Erstbeschwerdeführerin heiratete im August 2005 XXXX , geb. XXXX , L524 2170319. Der zweite Ehemann der Erstbeschwerdeführerin ist auch der Vater der Viert- bis Sechstbeschwerdeführer und dieser stellte bereits am 30.04.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Für den in Österreich geborenen Sechstbeschwerdeführer wurde am 21.07.2017 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und Vater der Viert- bis Sechstbeschwerdeführer, XXXX , geb. XXXX , kehrte am 02.05.2019 freiwillig in den Irak zurück. Die Beschwerde gegen dessen Bescheid des BFA vom 09.08.2017, Zl. 1066731106-150446133/BMI-BFA_SZB_RD, wurde am 15.07.2020 zurückgezogen. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 01.12.2020, L524 2170319-1/12E, wurde das Verfahren eingestellt.
Die Beschwerdeführer lebten vor ihrer Ausreise aus dem Irak in einem Haus in Bagdad. Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin arbeitete als Fliesenleger. Die Erstbeschwerdeführerin besuchte neun Jahre die Grundschule in Bagdad. Die Erstbeschwerdeführerin erbte von ihrem ersten Ehemann zwei Brautmodengeschäfte in Bagdad. In diesen Geschäften arbeitete die Erstbeschwerdeführerin auch. Sie verkaufte diese Geschäfte im Jahr 2005.
Der Zweitbeschwerdeführer besuchte sieben Jahre die Grundschule in Bagdad. Die Drittbeschwerdeführerin besuchte sechs Jahre die Grundschule in Bagdad.
Die Erstbeschwerdeführerin verließ erstmals am 04.09.2014 den Irak und reiste in die Türkei. Am 01.09.2015 kehrte sie in den Irak zurück und verließ den Irak neuerlich am 25.10.2015.
Die Eltern und ein Bruder der Erstbeschwerdeführerin leben gemeinsam in einem Haus in Bagdad. Die Erstbeschwerdeführerin hat sieben Schwestern. Sechs Schwestern sind verheiratet. Fünf Schwestern leben mit ihren Familien in Bagdad und eine Schwester lebt mit ihrer Familie in Diyala. Eine weitere Schwester befand sich als Asylwerberin in Österreich, kehrte aber im September 2018 freiwillig in den Irak zurück. Zwei Schwestern sind berufstätig und arbeiten als Lehrerin bzw. Anwältin. Der Vater der Erstbeschwerdeführerin besitzt ein Möbelgeschäft, in dem der Bruder der Erstbeschwerdeführerin arbeitet.
Die Beschwerdeführer sind gesund. Sie gehören keiner Risikogruppe für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung an. Die Beschwerdeführer beziehen Leistungen aus der Grundversorgung. Der Zweitbeschwerdeführer und die Drittbeschwerdeführerin sind ledig. Die Erstbeschwerdeführerin, der Zweitbeschwerdeführer, die Drittbeschwerdeführerin und die Viertbeschwerdeführerin sind strafrechtlich unbescholten. Die Fünftbeschwerdeführerin und der Sechstbeschwerdeführer sind strafunmündig.
Das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin zur Begründung ihres Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status der Asylberechtigten wurde als nicht glaubhaft erachtet. Das diesbezügliche Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.12.2020, (1.) L524 2170265-1/13E, (2.) L524 2170272-1/12E, (3.) L524 2170270-1/11E, (4.) L524 2170268-1/11E, (5.) L524 2170627-1/11E und (6.) L524 2170317-1/11E, hinsichtlich der Nichtgewährung der Status der Asylberechtigten erwuchs in Rechtskraft.
Zum Irak:
Kinder waren und sind Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre. Sie sind einerseits in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage, andererseits durch Gewaltakte gegen sie selbst oder gegen Familienmitglieder stark betroffen.
III. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen zu den Beschwerdeführern, zu ihrer Herkunft, zu ihrer Volksgruppenzugehörigkeit sowie zu ihrer Antragstellung zur Erlangung internationalen Schutzes ergeben sich aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers im gesamten Verfahren und den Verwaltungsakten.
Die Feststellungen zur Religionszugehörigkeit ergeben sich aus den Angaben in der mündlichen Verhandlung, wo die Erstbeschwerdeführerin erklärte, dass sie und ihre beiden ältesten Kinder mit ihrer erneuten Heirat zum schiitischen Islam konvertiert sind. Die Viert- bis Sechstbeschwerdeführerin sind seit ihrer Geburt schiitische Moslems, da ihr Vater Schiit ist (Seiten 5 und 9 des Verhandlungsprotokolls).
Die Feststellungen zur ersten Ehe und zur neuerlichen Heirat der Erstbeschwerdeführerin ergeben sich aus den Angaben vor dem BFA (AS 75 im Akt L524 2170265). Die Feststellungen zum Verfahren des Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin ergeben sich aus dessen Verwaltungsakt (L524 2170319).
Die Feststellungen zu den im Irak lebenden Familienangehörigen der Erstbeschwerdeführerin und deren Berufstätigkeit ergeben sich aus den Angaben in der mündlichen Verhandlung (Seite 6 des Verhandlungsprotokolls) und den Angaben vor dem BFA (AS 76 im Akt L524 2170265). Die Feststellung zur freiwilligen Rückkehr in den Irak einer Schwester der Erstbeschwerdeführerin ergibt sich aus dem IZR-Auszug (IFA 1098965708/151983510).
Die Feststellungen zum Schulbesuch des Zweitbeschwerdeführers im Irak ergeben sich aus seinen Angaben vor dem BFA (AS 44 im Akt L524 2170272). Die Feststellungen zum Schulbesuch der Drittbeschwerdeführerin ergeben sich aus ihren Angaben vor dem BFA (AS 38 im Akt L524 2170270).
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführer ergeben sich aus den Angaben in der mündlichen Verhandlung (Seiten 3, 4, 14 und 17 des Verhandlungsprotokolls). Die Feststellungen, dass die Beschwerdeführer Leistungen aus der Grundversorgung beziehen und strafrechtlich unbescholten sind, ergeben sich aus GVS-Auszügen und Strafregisterauszügen. Die Strafunmündigkeit der Fünftbeschwerdeführerin und des Sechstbeschwerdeführers ergeben sich aus ihrem Alter.
Die Feststellungen, dass die Erstbeschwerdeführerin den Irak am 04.09.2014 erstmals verließ, am 01.09.2015 in den Irak zurückkehrte und am 25.10.2015 neuerlich den Irak verließ, ergeben sich aus den entsprechenden Ausreise- und Einreisestempeln im Reisepass der Erstbeschwerdeführerin (AS 33b, 33c, 33d im Akt L524 2170265). Die Erstbeschwerdeführerin wurde in der mündlichen Verhandlung zu ihrer Ausreise aus dem Irak befragt. Dort behauptete sie aber, nach ihrer ersten Ausreise im September 2014 nicht mehr in den Irak zurückgekehrt zu sein. Erst nachdem ihr die ihre Angaben widerlegenden Ausreise- und Einreisestempel in ihrem Reisepass vorgehalten wurde, räumte sie ein, doch wieder in den Irak zurückgekehrt zu sein. Sie behauptete, dass ihre Mutter krank gewesen sei, in kritischem Zustand gewesen sei und sie deshalb zurückgekehrt sei (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls). Dieses Aussageverhalten der Erstbeschwerdeführerin zeigt, dass sie bereit ist, vor österreichischen Behörden und Gerichten Falschangaben zu machen, was gegen eine persönliche Glaubwürdigkeit der Erstbeschwerdeführerin spricht. Es bestehen daher schon aus diesem Grund erhebliche Bedenken, dass die Erstbeschwerdeführerin dann zu ihrem Fluchtgrund wahre Angaben macht.
Zu den Feststellungen zum Irak:
Der Verfassungsgerichtshof kritisiert in seinem Erkenntnis, mit dem das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.12.2020 (teilweise) aufgehoben wurde, dass darin (auf Seite 7) Länderinformationen aus dem Jahr 2018 enthalten seien, die „in einem Absatz“ auf den Zugang zu Schulbildung im Irak Bezug nähmen, aber eine „weitergehende (aktuelle) Auseinandersetzung mit dem Zugang auf Schulbildung“ nicht erfolge. Dabei handelt es sich aber – wie schon in Bezug auf die aktenwidrige Feststellung, das Bundesverwaltungsgericht hätte keine Gegenschrift erstattet – neuerlich um eine aktenwidrige Feststellung des Verfassungsgerichtshofes, denn das Bundesverwaltungsgericht hat auf den Seiten 14 bis 16 seines – nur 38 Seiten umfassenden – Erkenntnisses aktuelle und umfangreiche – und nicht bloß in einem Absatz – Feststellungen zum Schulsystem im Irak getroffen, die aus dem Jahr 2020 stammen. Mit diesen aktuellen und umfassenden Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts setzte sich der Verfassungsgerichtshof nicht auseinander. Im nunmehrigen Erkenntnis wurden keine Feststellungen zum Zugang zu Schulbildung mehr getroffen, da derartige Feststellungen ohnehin obsolet sind. Wie sich nämlich aus dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 29.04.2021, E 15-19/2021, mit dem das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.12.2020, L526 2165397-1/28E, L526 2165405-1/26E, L526 2165403-1/21E, L526 2165394-1/21E sowie L526 2165401-1/21E, aufgehoben wurde, ergibt (Rz 19), sind nämlich selbst „umfangreiche Feststellungen“ „in Bezug auf den Zugang zu Bildung, Grundnahrungsmitteln und medizinischer Versorgung, in Bezug auf die soziale Lage, häusliche Gewalt, Menschenhandel, Bettelei, Drogenkriminalität und sexuelle Ausbeutung sowie schließlich hinsichtlich Zwangsrekrutierungen“ nach dem Dafürhalten des Verfassungsgerichtshofes keine ausreichenden Feststellungen. Wie sich aus zahlreichen Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes ergibt, ist allein entscheidend, dass im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 17.03.2020 die Rede davon ist, dass speziell Kinder weiterhin Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen und auf der einen Seite in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage sowie auf der anderen Seite durch Gewaltakte gegen sie bzw. deren Familienmitglieder stark betroffen sind. Diese Feststellungen im Länderinformationsblatt gehen auf den Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 12.01.2019 zurück. Der Satzteil, dass speziell Kinder weiterhin Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen sind, ist allerdings in den drei nachfolgenden (aktuelleren) Berichten des deutschen Auswärtigen Amtes vom 02.03.2020, 14.10.2020 und 22.01.2021 schon gar nicht mehr enthalten. Dennoch ist diese Feststellung im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation weiterhin enthalten und handelte sich dabei schon im Zeitpunkt des Erscheinens des Länderinformationsblattes um eine veraltete Feststellung. Gemäß § 87 Abs. 2 VfGG trifft das Bundesverwaltungsgericht im Falle einer Stattgebung der Beschwerde die Verpflichtung, in der betreffenden Rechtssache mit den zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verfassungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen. Dies hat nun zur Folge, dass das Bundesverwaltungsgericht an die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes gebunden ist und die entsprechenden Feststellungen zur Lage von Kindern im Irak getroffen wurden. Hinsichtlich der Ausführungen im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes, wonach das Bundesverwaltungsgericht eine substantiierte Auseinandersetzung betreffend die Sicherheitslage für Kinder unterlassen hat, ist festzuhalten, dass das Länderinformationsblatt zwar Feststellungen zur Sicherheitslage enthält, aber keine solchen Feststellungen in Bezug auf Kinder trifft. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher nicht in der Lage, spezielle (weitergehende) Feststellungen zur Sicherheitslage für Kinder zu treffen.
IV. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Gewährung von subsidiärem Schutz:
1. Familienverfahren gemäß § 34 AsylG:
Stellt ein Familienangehöriger von einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist (Z 1); einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8) zuerkannt worden ist (Z 2) oder einem Asylwerber (Z 3) einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt gemäß § 34 Abs. 1 AsylG dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.
Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Gemäß § 34 Abs. 5 AsylG gelten die Bestimmungen der Abs. 1 bis 4 sinngemäß für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht.
Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG ist Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat.
Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährigen (und nunmehr volljährigen) Zweit- und Drittbeschwerdeführer und der minderjährigen Viert- bis Sechstbeschwerdeführer. Hinsichtlich der Beschwerdeführer liegt daher ein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG vor.
2. Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkte II. der angefochtenen Bescheide):
Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivil-person eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde (vgl. VfGH 25.09.2018, E 1764-1771/2018).
Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um eine Frau mit zwei erwachsenen und drei minderjährigen Kindern und damit eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personengruppe. Diese besondere Vulnerabilität ist bei der Beurteilung, ob den Beschwerdeführern bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen (vgl. VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0336 bis 0341; VwGH 07.01.2021, Ra 2020/18/0139 bis 0144).
Nach dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Lage von Kindern sind Kinder Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre. Sie sind einerseits in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage, andererseits durch Gewaltakte gegen sie selbst oder gegen Familienmitglieder stark betroffen. Den mj. Viert- bis Sechstbeschwerdeführern würde daher bei einer Rückkehr in den Irak die reale Gefahr ("real risk") einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung drohen.
Den mj. Viert- bis Sechstbeschwerdeführern steht keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. In Bezug auf urbane Gegenden im Südirak ist UNHCR der Ansicht, dass die einzigen Personengruppen, hinsichtlich derer keine externe Unterstützung vorauszusetzen ist, arabische Schiiten sind, bei denen es sich entweder um alleinstehende, körperlich leistungsfähige Männer oder kinderlose Ehepaare im arbeitsfähigen Alter ohne identifizierte besondere Vulnerabilitäten handelt. Solche Personen sind möglicherweise in der Lage, in urbanen Gegenden im Südirak, in denen die die notwendige Infrastruktur und Möglichkeiten zur Existenzsicherung zur Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse vorhanden sind, ohne Unterstützung durch ihre Familie und/oder ihren Stamm zu bestehen. Diese Voraussetzungen treffen auf die Beschwerdeführer nicht zu.
Den mj. Viert- bis Sechstbeschwerdeführern ist daher der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.
Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der mj. Viert- bis Sechstbeschwerdeführer. Ihr ist daher gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
Die volljährigen Zweit- und Drittbeschwerdeführer sind die Kinder der Erstbeschwerdeführerin und die Geschwister der mj. Viert- bis Sechstbeschwerdeführer. Sie waren zum Zeitpunkt der Antragstellung noch minderjährig.
Gemäß § 34 Abs. 6 Z 2 AsylG sind die Bestimmungen über das Familienverfahren nicht anzuwenden auf Familienangehörige eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Verfahrens nach diesem Abschnitt zuerkannt wurde, es sei denn es handelt sich bei dem Familienangehörigen um ein minderjähriges lediges Kind.
Zu dieser Bestimmung hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 29.04.2019, Ra 2018/20/0031, klargestellt, dass der in § 34 AsylG 2005 verwendete Begriff des Familienangehörigen im Sinn der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 zu verstehen ist.
Weiters ist aus dem Blickwinkel des Kindes, das die Eigenschaft als Familienangehöriger von seinen Eltern ableiten möchte, auf den Zeitpunkt der Antragstellung – bezogen auf den von ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz – abzustellen. Es muss, um als Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 zu gelten, in diesem Zeitpunkt minderjährig und ledig sein. Dem späteren Eintritt der Volljährigkeit noch vor dem Entscheidungszeitpunkt kommt keine Bedeutung zu. Für die Anwendung des § 34 AsylG 2005 ist es hinreichend, dass (und solange) zumindest ein Fall des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 gegeben ist.
Es ergeben sich aus den Erläuterungen zu § 34 AsylG 2005 auch keine Hinweise darauf, dass der Begriff „Familienangehöriger“ innerhalb des § 34 AsylG 2005 unterschiedlich aufzufassen wäre und insbesondere der in § 34 Abs. 6 Z 2 AsylG 2005 verwendete Begriff des „minderjährigen ledigen Kindes“ als „Familienangehöriger“ nicht im Sinn der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 zu verstehen wäre (VwGH 29.4.2019, Ra 2018/20/0031, Rn. 13).
Für den vorliegenden Fall bedeutet das, dass eine nach den Bestimmungen des Familienverfahrens erfolgte Zuerkennung des Status einer subsidiär Schutzberechtigen an die Mutter der Zweit- und Drittbeschwerdeführer nicht ausschließt, dass auch den (ledigen und im maßgeblichen Antragszeitpunkt noch minderjährigen) Zweit- und Drittbeschwerdeführern ungeachtet deren mittlerweile eingetretener Volljährigkeit ihrerseits im Weg des Familienverfahrens der Status der subsidiär Schutzberechtigen in Ableitung von ihrer Mutter zuerkannt werden könnte (vgl. wiederum VwGH 29.4.2019, Ra 2018/20/0031, Rn. 14 f, mwN).
Den Zweit- und Drittbeschwerdeführern ist daher gemäß § 34 Abs. 4 AsylG ebenfalls der Status der subsidiär Schutzberechtigen gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.
Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG ist eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr zu erteilen.
Die übrigen Spruchpunkte der angefochtenen Bescheide waren daher ersatzlos zu beheben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung mit der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes übereinstimmt.
Schlagworte
aktuelle Länderfeststellungen befristete Aufenthaltsberechtigung Ersatzentscheidung Familienverfahren Kindeswohl real risk Rechtsanschauung des VfGH subsidiärer Schutz vulnerable PersonengruppeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:L524.2170627.1.00Im RIS seit
06.12.2021Zuletzt aktualisiert am
06.12.2021