TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/17 W187 2204823-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.08.2021
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Entscheidungsdatum

17.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W187 2204823-1/26E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Hubert REISNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , XXXX nach Beschwerdevorentscheidung vom XXXX , XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des Bescheides vom XXXX gemäß § 28 Abs 2 VwGVG iVm § 3 Abs 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen und die Beschwerdevorentscheidung vom XXXX in ihren Spruchpunkten I. bis III. bestätigt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Der zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

2. Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag wurde der Beschwerdeführer im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari zu seiner Identität, seiner Reiseroute und seinen Fluchtgründen einvernommen. Hier gab der Beschwerdeführer an, ledig zu sein und keine Kinder zu haben. Er sei am XXXX in der afghanischen Provinz Nangarhar geboren, afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Moslem. Sein Vater sei bereits verstorben. Seine Mutter, drei Brüder und eine Schwester hielten sich nach wie vor in Afghanistan auf. Als Beweggrund für seine Ausreise gab der Beschwerdeführer an, sein Bruder sei von einer unbekannten Gruppe entführt worden, die für seine Freilassung Lösegeld vom Vater des Beschwerdeführers verlangt habe. Sein Vater habe den Entführern jedoch mitgeteilt, dass er sie erkannt habe. Daraufhin sei sein Bruder freigelassen worden. Nach einigen Tagen hätten sie das Haus gestürmt und den Vater erstochen. Die Mutter des Beschwerdeführers habe Angst gehabt, dass dem Beschwerdeführer etwas zustoßen könnte. Aus diesem Grund habe sie ihn weggeschickt. Im Fall einer Rückkehr habe der Beschwerdeführer Angst, entführt und getötet zu werden.

3. Aufgrund von Zweifeln an der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers ordnete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Handwurzelröntgen zur Bestimmung des Knochenalters an, dem sich der Beschwerdeführer am XXXX unterzog. Dieses Röntgen ergab, dass beim Beschwerdeführer die Epiphysenfugen an den proximalen und mittleren Phalangen sowie Metacarpalia knöchern noch nicht durchbaut sind. Sowohl am distalen Radius als auch an der distalen Ulna lässt sich eine zarte Epiphysenfuge erkennen.

4. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, seiner Rechtsvertreterin und einer Vertrauensperson niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Hier gab der Beschwerdeführer eingangs an, die Niederschrift seiner Erstbefragung weise einige Fehler auf. Er habe nicht alles vollständig erzählen können. Zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen zusammengefasst aus, sein Onkel habe seinen Bruder durch unbekannte Personen entführen lassen. Der Vater des Beschwerdeführers habe um 22.00 Uhr einen Anruf erhalten und sei aufgefordert worden, Lösegeld für den Bruder des Beschwerdeführers zu zahlen. Der Vater habe geantwortet, dass er wisse, dass sein Bruder die Entführung organisiert habe, um an Geld zu kommen. Die Anrufer hätten dem Vater des Beschwerdeführers eine Frist von zwei Tagen für die Zahlung des Lösegeldes gegeben. Zwei Tage später habe der Vater des Beschwerdeführers die Entführer angerufen und ihnen mitgeteilt, dass er nicht so viel Geld habe. Die Entführer hätten geantwortet, er solle das Geld aufbringen und mit niemanden über die Entführung sprechen, widrigenfalls sie den Bruder des Beschwerdeführers umbringen würden. Am nächsten Tag sei der Bruder des Beschwerdeführers blutend nach Hause gekommen, da er von den Entführern geschlagen worden sei. In derselben Nacht habe zwischen 22.00 und 23.00 Uhr jemand an ihre Haustüre geklopft. Als der Vater des Beschwerdeführers die Haustür geöffnet habe, habe eine unbekannte Person mit einem Messer auf ihn eingestochen. Der Vater des Beschwerdeführers sei an diesen Verletzungen gestorben. Nach dem Tod des Vaters habe die Mutter des Beschwerdeführers gemeinsam mit dem Beschwerdeführer und seinen Geschwistern beim Onkel mütterlicherseits bleiben wollen. Der Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers habe dies jedoch nicht erlaubt und darauf bestanden, dass die Familie bei ihm bleibe. Der Onkel väterlicherseits habe den Beschwerdeführer anstatt in eine normale Schule in eine Koranschule schicken wollen. Dem habe die Mutter des Beschwerdeführers jedoch widersprochen. Drei Tage später sei der Beschwerdeführer am Schulweg von drei Personen mit einem Auto entführt und in ein Haus in den Bergen gebracht worden, wo sie ihn in ein Zimmer gesperrt hätten. Dort sei der Beschwerdeführer geschlagen worden. Außerdem habe man ihm erzählt, dass sein Onkel väterlicherseits ihn an diese Personen verkauft habe. Am nächsten Tag habe der Beschwerdeführer trainieren sollen und beim Laufen vier weitere Kinder getroffen. Diese hätten ihm mitgeteilt, dass sie bereits seit zwei Wochen hier seien. Der Beschwerdeführer sei insgesamt ungefähr eine Woche in diesem Haus angehalten worden. Während dieser Zeit habe er auch Kampffilme anschauen müssen. Nach einer Woche habe die Polizei den Beschwerdeführer und die anderen Kinder befreit. Der Beschwerdeführer sei von der Polizei nach Jalalabad gebracht worden und zu seinem Onkel väterlicherseits gefahren. Dort habe er seiner Mutter von der Entführung erzählt, welche ihn daraufhin zum Onkel mütterlicherseits gebracht habe. Dieser habe beschlossen, dass der Beschwerdeführer Afghanistan verlassen müsse und die Ausreise des Beschwerdeführers organisiert. Bei den Entführern habe es sich um Taliban gehandelt.

5. Am XXXX langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, zu den Länderberichten sowie zur Asylrelevanz des Vorbringens des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde ein.

6. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom XXXX , XXXX wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sodann sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde unter Spruchpunkt VI. gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

Für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

8. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, mit Schreiben vom XXXX fristgerecht vollumfängliche Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften, insbesondere wegen Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens, infolge einer mangelhaften Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung.

9. Mit Schreiben vom XXXX teilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer mit, dass aufgrund eines Ermittlungsfehlers eine Beschwerdevorentscheidung erlassen werde. In einem übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer die aktualisierte Fassung des Länderinformationsblatts vom 29.6.2018 zur Stellungnahme.

10. Mit Bescheid vom XXXX , XXXX erließ die belangte Behörde eine Beschwerdevorentscheidung und wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) ab. Unter Spruchpunkt II. erkannte sie dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm unter Spruchpunkt III. gemäß § 8 Abs 4 AsylG 2005 die befristete Aufenthaltsberechtigung bis um XXXX .

11. Mit Schreiben vom XXXX (Vorlageantrag) beantragte der Beschwerdeführer, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, die Vorlage seiner an das Bundesverwaltungsgericht wegen Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften, insbesondere wegen Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens, infolge einer mangelhaften Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung und beantragte die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten. Der Vorlageantrag richtet sich ausschließlich gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides vom XXXX nach Beschwerdevorentscheidung vom XXXX .

12. Die Beschwerde, der Vorlageantrag und der dazugehörige Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt.

13. Die belangte Behörde legte dem Bundesverwaltungsgericht mehrere Abgängigkeitsmeldungen samt Widerruf der Abgängigkeit für den Zeitraum XXXX betreffend den zum damaligen Zeitpunkt minderjährigen Beschwerdeführer vor, da dieser mehrfach am Abend nicht ins die sozialpädagogische Betreuungseinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zurückkehrte.

14. Am XXXX übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem erkennenden Gericht eine Anzeige der LPD XXXX vom XXXX gegen den Beschwerdeführer, wonach dieser beschuldigt wird, eine Ordnungsstörung gemäß § 81 Abs 1 SPG begangen zu haben.

15. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom XXXX wurde die gegenständliche Rechtssache der erkennenden Gerichtsabteilung zugewiesen.

16. Mit Ladung vom XXXX beraumte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung für den XXXX an, übermittelte den Parteien einschlägige Länderinformationen zu Afghanistan und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme.

17. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein seines Rechtsvertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari vom erkennenden Richter zu seinem Antrag auf internationalen Schutz und seinen Beschwerdegründen einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der mündlichen Verhandlung fern.

Die Verhandlungsschrift lautet auszugsweise:

„[…]

Richter: Verstehen Sie die Dolmetscherin gut?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?

Beschwerdeführer: Ich bin gesund.

Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?

Beschwerdeführer: Nein.

[…]

Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?

Beschwerdeführer: Ich bin am XXXX geboren in der Provinz Nangarhar, im Distrikt XXXX .

Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?

Beschwerdeführer: Dari, Paschtu und Deutsch.

Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.

Beschwerdeführer: Ledig. Ich bin sunnitischer Moslem und ich bin Tadschike.

Richter: Haben Sie Kinder?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.

Beschwerdeführer: Ich habe im Distrikt XXXX in der Provinz Nangarhar gelebt. Ich habe immer schon dort gelebt.

Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?

Beschwerdeführer: In unserem eigenen Haus.

Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?

Beschwerdeführer: Ich habe die Schule besucht.

Richter: Welche Schulbildung haben Sie erhalten?

Beschwerdeführer: Ich habe 5 Jahre die Schule besucht.

Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?

Beschwerdeführer: Bis zu meiner Einreise nach Österreich hat meine Familie in Nangarhar gelebt. Danach habe ich den Kontakt zu meiner Familie verloren und habe versucht über das Rote Kreuz meine Familie zu finden. Vor 2 Monaten habe ich dann eine E-Mail erhalten, es wurde mir mitgeteilt, dass meine Familie schon seit drei oder vier Jahren nicht mehr im Heimatort aufhältig ist.

Richter: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel)?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Haben Sie in Afghanistan Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?

Beschwerdeführer: Seit ich hier in Österreich bin habe ich die Schule besucht und die Schule abgeschlossen. Zurzeit mache ich eine Lehre.

Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?

Beschwerdeführer: Ja. Ich habe Schulfreuden und auch Freunde in meiner Arbeitsstelle.

Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?

Beschwerdeführer: In XXXX war ich Mitglied in einem Takewandoo-Verein. In meiner jetzigen Stadt spiele ich Cricket. Das ist auch ein Verein, die haben österreichische Spieler und auch Spieler aus anderen Nationen. Ich habe früher Fitness betrieben und bin Laufen gegangen, aber jetzt habe ich die Zeit dafür nicht, da ich arbeite.

Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?

Beschwerdeführer: Nein. Ich selbst hatte keine Probleme mit der Polizei, aber in meiner alten Unterkunft hatten andere Probleme mit der Polizei.

Richter: Was arbeiten Sie derzeit?

Beschwerdeführer: Ich mache zurzeit eine Lehre als Koch.

Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!

Beschwerdeführer: Mein Vater hat als Devisenhändler gearbeitet. Mein Bruder XXXX wurde entführt. Mein Vater hat einen Anruf bekommen und wurde informiert, dass mein Bruder entführt wurde und das die Leute von meinem Vater Geld wollen. Mein Vater hat diese Leute dann erkannt, diese Leute haben mit meinem Onkel väterlicherseits zusammengearbeitet. Es gab schon früher Probleme mit meinem Onkel väterlicherseits, er hat immer illegale Sachen gemacht. Er hat sogar einmal von meinem Vater Geld verlangt und mein Vater hat es ihm nicht gegeben. Mein Vater hat am Telefon diese Leute erkannt und hat ihnen auch gesagt, dass er die Polizei verständigen wird. Die Leute haben meinen Vater gewarnt und gesagt, falls er die Polizei verständigen würde, würden sie den Bruder töten. Zwei Tage haben sie meinen Bruder bei sich gehalten. Nachdem mein Vater diesen Leuten gesagt hatte, dass er diese Leute erkannt hat wurde mein Bruder nach zwei Tagen freigelassen. Es war gegen 23 Uhr nachts als es plötzlich an der Tür geklopft hat, mein Vater hat die Tür geöffnet, es wurde dann sehr laut und mein Vater wurde mit Messerstichen attackiert. Als wir zu ihm gelaufen sind ist er auf dem Boden gelegen. Nachdem wir alle dann laut geschrien haben sind die Nachbarn dann gekommen, sie haben meinen Vater dann ins Krankenhaus gebracht. Im Krankenhaus wurde dann sein Tod festgestellt, da er sehr viel Blut verloren hatte. Nach dem Tod meines Vaters waren wir auf der Suche nach dem Mörder meines Vaters. Mein Onkel mütterlicherseits sagte meiner Mutter, dass dahinter mein Onkel väterlicherseits vermutlich steckt. Wir haben eine Zeit lang bei diesem Onkel väterlicherseits uns aufgehalten. Nach etwa einer Woche hatte mein Onkel väterlicherseits gesagt, dass ich nicht mehr zur Schule gehen darf und ich arbeiten gehen soll. Mein Onkel väterlicherseits sagte mir, dass am nächsten Tag jemand kommen wird und mich mitnehmen wird, damit ich zu arbeiten beginnen kann. Am nächsten Tag ist ein Mann gekommen und hat mich in seinem Auto mitgenommen. Dieser Mann hat mich weit weg von meinem Aufenthaltsort gebracht, es war in der Nähe eines Berges. Dort befand sich ein Haus, dieses Haus hatte einige Zimmer. Ich war in einem Zimmer gemeinsam mit anderen Kindern eingesperrt. Ich habe die anderen Kinder gefragt was sie dort machen, die Kinder erzählten mir, dass sie dort Unterricht bekommen. Am Nachmittag wurde ich aus dem Zimmer geholt und uns wurde gezeigt wie wir mit einer Waffe umgehen sollen. Ich habe diesen Leuten gesagt, dass mein Onkel väterlicherseits mich zu ihnen geschickt hat, um dort zu arbeiten. Dieser Mann sagte, dass mein Onkel väterlicherseits mich an diese Personen verkauft hat. Ich wurde eine Woche lang dort festgehalten. Es war in der Nacht, als es einen Angriff gab, die Region hat diesen Ort angegriffen. Es wurde gekämpft, aber wir waren in einem Zimmer eingesperrt. Wir wurden dann dort gefunden. Es gab Burschen die seit einem oder zwei Monaten bereits dort waren. Die Polizei hat uns dann mitgenommen. Danach wurde ich an meine Familie übergeben. Meine Mutter fragte mich was ich in dieser einen Woche gemacht habe und wo ich war. Meine Mutter erzählte mir, dass mein Onkel väterlicherseits wegen der Arbeit mich dorthin geschickt hatte. Ich musste erzählen, dass ich an diese Personen verkauft wurde. Meine Mutter hat mich dann sofort mitgenommen und ich bin zu meinem Onkel mütterlicherseits gegangen. Auch meinem Onkel mütterlicherseits habe ich die ganze Geschichte erzählt. Meine Mutter hat meinen Onkel um Hilfe gebeten, da ich der älteste Sohn bin und sie nicht wollte, dass mir das Gleiche passiert wie meinem Vater. Mein Onkel hat mich dann zu einer Person gebracht, der mich wiederum am nächsten Tag zu einem Container gebracht hat. Es war ein Lastwagen, es waren ungefähr 70 Personen dort und es wurde mir gesagt, dass ich mit diesen Personen in den Iran gebracht werde. Ich bin dann in den Iran gereist, wo ich mich vier Tage lang aufgehalten habe. Vom Iran aus bin ich dann in die Türkei gereist. Die Schlepper haben mich dann mit 30 weiteren Personen nach Bulgarien gebracht. 4 Monate lang habe ich mich in Bulgarien aufgehalten. Dort war ich in einem geschlossenen Lager. Danach wurde ich in ein offenes Lager verlegt. Dann habe ich wieder Kontakt zum Schlepper aufgenommen, der hat mich aus diesem Lager rausgeholt und nach Serbien gebracht. Zwei Monate lang habe ich mich in Belgrad aufgehalten. Ich hatte dann Kontakt zum Schlepper verloren, bis ich den Kontakt wieder gefunden habe konnte ich weiterreisen bis nach Ungarn und weiter bis nach Österreich. Als ich dann in Österreich war habe ich von anderen gehört, dass es in Österreich besser ist. Ich war dann in XXXX untergebracht und danach in einem anderen Heim für Flüchtlinge. Dann wurde ich in einem anderen Flüchtlingsheim untergebracht wo ich mich zwei Jahre lang aufgehalten habe, dort habe ich die Schule besucht. Nachdem unser Heim dann geschlossen wurde, wurde ich in ein anderes Lager verlegt. Diese Probleme hatte ich in Afghanistan. Aufgrund dieser Probleme in Afghanistan musste ich flüchten.

Richter: Sind Sie über das geschilderte Ereignis jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?

Beschwerdeführer: Meine Mutter hatte Angst um mich, dass man mich auch töten wird, da mein Onkel väterlicherseits mich an diese Personen verkauft hatte.

Richter: Was waren das für Personen? Wer waren diese Personen?

Beschwerdeführer: Das waren Taliban, die bewaffnet waren und uns den Umgang mit Waffen gezeigt haben.

Richter: Woran haben Sie erkannt, dass diese Personen Taliban waren?

Beschwerdeführer: Ich habe meine Mutter gefragt was für Personen das sein könnten und sie sagte, dass das die Taliban sein müssen. Sie hat auch im Fernsehen über solche Leute Berichte gesehen.

Richter: Ihre Mutter hat ja diese Personen nicht selbst gesehen. Haben Sie Erinnerungen an die Art wie sie angezogen waren oder wie sie gesprochen haben?

Beschwerdeführer: Sie haben Paschtu gesprochen. Sie haben weiße afghanische Trachten mit einem schwarzen Gilet angehabt. Sie trugen einen Turban.

Richter: Wodurch sind Sie aktuell in Afghanistan bedroht?

Beschwerdeführer: Ich habe Angst dort getötet zu werden, mein Onkel väterlicherseits ist auch hinter mir her.

Richter: Könnte die afghanische Polizei oder andere staatliche Stellen Sie gegen diese Bedrohung schützen?

Beschwerdeführer: Nein, das weiß ich nicht, als ich dort war wurde ich an meine Familie übergeben.

Richter: Wie haben Sie die Reise bezahlt?

Beschwerdeführer: Mein Vater war Devisenhändler, wir hatten Ersparnisse und ein Kapital. Außerdem hat meine Mutter auch ein Grundstück verkauft.

Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!

Beschwerdeführer: Ich möchte in diesem Land leben und ein neues Leben beginnen. Ich möchte meine Ausbildung fertig machen und hier arbeiten. Ich möchte so ein Leben wie ein Österreicher hier in Österreich führen und ich möchte ein gutes Leben hier haben.

Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?

Beschwerdeführer: Ich werde dort getötet, ich habe Probleme mit meinem Onkel väterlicherseits. Er wird mich finden. Ich habe Angst dort getötet zu werden. Aus diesem Grund hat mich auch meine Mutter von dort weggeschickt.

Rechtsvertreter: In der Erstbefragung vor der Polizei haben Sie vorgebracht, dass der Vater einige Tage nach der Rückkehr ihres Bruders ermordet wurde. Bei der Einvernahme vor dem BFA und heute haben Sie vorgebracht, dass der Vater am Tag der Rückkehr des Bruders ermordet wurde. Können Sie uns das erklären?

Beschwerdeführer: Es war in der Nacht als der Vorfall sich ereignet hat. Das was bei der Polizei protokolliert wurde stimmt so nicht. Ich weiß nicht, warum es falsch protokolliert wurde. Wir haben am selben Abend meinen Vater ins Krankenhaus gebracht und im Krankenhaus ist er verstorben. Ich kann es mir nicht erklären, warum es bei der Polizei so protokolliert wurde. Bei der Einvernahme vor dem BFA habe ich das dann auch richtiggestellt und habe darauf hingewiesen, dass ich das so nicht gemeint habe.

Richter: Wurde Ihnen das Protokoll der Ersteinvernahme vor der Polizei rückübersetzt und hätten Sie damals die Möglichkeit gehabt dies zu korrigieren?

Beschwerdeführer: Es wurde mir rückübersetzt und ich habe es dem damaligen Dolmetscher auch gesagt und er meinte ich solle das bei der nächsten Einvernahme nochmal sagen.

Der Beschwerdeführer bringt nichts mehr vor.

Richter: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?

Beschwerdeführer: Ja.“

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl und den Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den Beschwerdeführer, insbesondere durch Einsicht in die vorgelegten Dokumente und Integrationsunterlagen, sowie durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die ins Verfahren eingeführten Länderberichte.

1. Feststellungen

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Leben in Afghanistan

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, ist im Entscheidungszeitpunkt volljährig und Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan. Er gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Dari, die er jedoch weder schreiben, noch lesen kann. Weiter spricht der Beschwerdeführer Paschtu und Deutsch. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde in der afghanischen Provinz Nangarhar im Distrikt XXXX im Dorf XXXX geboren und wuchs dort im afghanischen Familienverband im familieneigenen Haus mit seinen Eltern, drei Brüdern und einer Schwester auf. Neben diesem Haus besitzt die Familie des Beschwerdeführers drei Grundstücke in der Heimatprovinz, die verpachtet sind. Der Vater des Beschwerdeführers war Devisenhändler und Inhaber eines Geldwechselbüros in der Provinzhauptstadt XXXX . Die Familie lebte vom Einkommen des Vaters und vom Pachtzins. Der Beschwerdeführer besuchte in XXXX fünf Jahre die Schule und half seinem Vater nebenbei in dessen Geschäft. Er pendelte täglich mit seinem Vater von seinem Heimatdorf nach XXXX und zurück.

Der Vater des Beschwerdeführers ist bereits verstorben. Der Aufenthaltsort der Mutter, der drei Brüder und der Schwester des Beschwerdeführers ist unbekannt. Sie lebten zuletzt im Heimatdorf und finanzierten ihren Lebensunterhalt durch die Verpachtung der familieneigenen Grundstücke. Ein Onkel väterlicherseits, zwei Onkel mütterlicherseits und eine Tante mütterlicherseits des Beschwerdeführers leben noch in der Heimatprovinz. Der Beschwerdeführer hat keinen Kontakt mit seiner Familie. Er verfügt daher über kein unterstützungsfähiges soziales Netzwerk in Afghanistan.

1.2 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer gelangte im XXXX in das österreichische Bundesgebiet und stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Seither hält er sich durchgehend im Bundesgebiet auf.

Der Beschwerdeführer nahm nach seiner Einreise an mehreren Deutsch-, Basisbildungs- und Integrationskursen teil. Weiter besuchte er ab XXXX in den Schuljahren XXXX und XXXX die Neue Musikmittelschule XXXX als außerordentlicher Schüler. Im XXXX nahm der Beschwerdeführer am Workshop der Arbeiterkammer XXXX „Richtig bewerben“ teil. Im Rahmen seines Schulbesuches absolvierte der Beschwerdeführer im XXXX eine berufspraktische Woche bei der XXXX , wo er durch seinen guten und höflichen Umgang mit Kunden und Mitarbeitern auffiel. Ab XXXX besuchte der Beschwerdeführer die Polytechnische Schule XXXX im Schuljahr XXXX . Während seines Aufenthaltes in XXXX war der Beschwerdeführer Mitglied im Verein Taekwondo XXXX , legte im XXXX eine Taekwondo-Prüfung (10. Kup) ab und nahm im XXXX am Ostertrainingslager teil. Der Beschwerdeführer absolviert derzeit eine Lehre zum Koch und bezieht keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. In seiner Freizeit spielt der Beschwerdeführer regelmäßig Cricket in einem Verein. Der Beschwerdeführer hat in Österreich soziale Kontakte – auch zu österreichischen Staatsbürgern – geknüpft. In seiner Freizeit treibt der Beschwerdeführer gerne Sport.

Es leben keine Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen des Beschwerdeführers in Österreich. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich noch gibt es in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer ist im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig. Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.3 Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen in weiterer Folge mit Verfolgung durch seinen Onkel wegen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie sowie mit Verfolgung durch die Taliban wegen unterstellter (oppositioneller) Gesinnung sowie mit der allgemeinen Sicherheitslage.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurde oder eine Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte.

Der jüngere Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , wurde nicht vom Onkel väterlicherseits bzw. einer vom Onkel väterlicherseits beauftragten kriminellen Gruppierung entführt. Die Täter verlangten daher auch kein Lösegeld für die Freilassung des Bruders des Beschwerdeführers von seinem Vater. Der Vater des Beschwerdeführers wurde nach der Freilassung des Bruders daher auch nicht nach dem Öffnen der Haustüre von einer unbekannten vom Onkel väterlicherseits beauftragten Person mit einem Messer attackiert. Der Vater des Beschwerdeführers ist zwischenzeitlich verstorben; er erlag jedoch nicht diesen Verletzungen. Nach dem Tod des Vaters lebte die Familie beim Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers. Dieser ließ den Beschwerdeführer jedoch weder durch unbekannte Personen entführen, noch verkaufte er ihn an die Taliban. Weder der Beschwerdeführer, noch sein Bruder oder sonstige Familienangehörige wurden vom Onkel väterlicherseits bedroht. Der Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers ist nicht besonders einflussreich oder mächtig. Er hat weder Verbindungen zu den Taliban, noch zur afghanischen Regierung. Im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer weder Übergriffe bis hin zu seiner Tötung noch sonstige Verfolgung durch seinen Onkel väterlicherseits etwa aus Gründen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie.

Der Beschwerdeführer wurde nicht von seinem Onkel väterlicherseits an die Taliban verkauft. Er wurde auch nicht von den Taliban entführt bzw. aufgefordert, sich ihnen anzuschließen. Insbesondere wurde der Beschwerdeführer nicht in einem Trainingslager der Taliban in den Bergen gemeinsam mit anderen Jugendlichen festgehalten, bis ihn die Polizei befreite. Die Taliban haben kein besonderes Interesse an der Person des Beschwerdeführers und wollten ihn nicht zwangsrekrutieren. Auch zukünftig ist der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan keinen Übergriffen bzw. Verfolgung durch die Taliban, etwa aufgrund einer ihm unterstellten politischen bzw. oppositionellen Gesinnung, ausgesetzt. Ein konkreter Anlass, aus dem der Beschwerdeführer den Herkunftsstaat verlassen hat, kann nicht festgestellt werden.

Ebenso wenig drohen dem Beschwerdeführer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffe durch Privatpersonen, staatliche Stellen oder sonstige Akteure.

1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers

Es werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:

1.4.1 Staatendokumentation (Stand 1.4.2021, außer wenn anders angegeben)

1.4.1.1 COVID-19

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).

Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese – wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert – diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt (IPS 12.11.2020; cf. UNAMA 10.8.2020). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; cf. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, AAN 1.10.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto 11.2020; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).

1.4.1.2 Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen – wohl auch finanzieller Art – belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Es ist geplant die Wahlen in Ghazni im Oktober 2021 nachzuholen (AT 19.12.2020; vgl. TN 19.12.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).

Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Gültigkeit von Hunderttausenden von Stimmen (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020) waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen bei einer geschätzten Bevölkerungszahl von 35 Millionen (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommission und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020, TN 11.5.2020).

Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004, USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020). Die Kämpfe zwischen den afghanischen Regierungstruppen, den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen hielten jedoch an und forderten in den ersten neun Monaten des Jahres fast 6.000 zivile Opfer, ein deutlicher Rückgang ge

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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