Entscheidungsdatum
18.08.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I419 2166461-1/19E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX alias XXXX , XXXX , auch XXXX , StA. NIGERIA, vertreten durch BBU GmbH und RAin Mag.a Doris Einwallner, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 11.07.2017, Zl. XXXX , zu Recht:
A) 1. Die Beschwerde wird betreffend die Spruchpunkte I und II als unbegründet abgewiesen, betreffend die Spruchpunkte III und IV wird ihr stattgegeben. Diese werden behoben.
2. Eine Rückkehrentscheidung ist gemäß § 9 BFA-VG auf Dauer unzulässig. XXXX wird gemäß § 54 Abs. 2 und § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem bekämpften Bescheid wies das BFA den Antrag betreffend die Status eines Asylberechtigten und eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Nigeria ab (Spruchpunkte I und II), erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel „aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ „gemäß § 57 AsylG“, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt III) und keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt IV). Die in Spruchpunkt V aberkannte und in der Beschwerde beantragte aufschiebende Wirkung der Beschwerde hat dieses Gericht ihr von Amts wegen zuerkannt (10.08.2017, I405 2166461/4Z).
2. Beschwerdehalber wird vorgebracht, der Beschwerdeführer werde von der Gruppe Kalo Kato und anderen islamistischen Gruppen verfolgt, weil er Christ sei. Ein Selbstmordattentat in seiner Stadt und Morddrohungen hätten ihn zur Flucht bewogen. Ferner sei er Parteimitglied der PDP. Zumindest sei ihm subsidiärer Schutz zu gewähren, da er im Herkunftsstaat keinen familiären Rückhalt habe und „somit“ völlig auf sich allein gestellt wäre. In Österreich sei er getauft worden und aktives Mitglied seiner Kirchengemeinde. Hier habe er eine Freundin und nehme am sozialen Leben teil.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der unter Punkt I beschriebene Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Mitte 20, Staatsangehöriger Nigerias und Christ. Er spricht Englisch und Ika sowie zumindest auf Niveau A2 Deutsch und gehört der Volksgruppe der Urobo an wie sein Vater, seine Mutter den Ibo (Igbo). Seine Identität steht nicht fest.
Er wurde in Delta State geboren wo er auch aufwuchs und in seinem Wohnort Igbodo die Schule besuchte. Seine Schulbildung umfasst mindestens rund neun Jahre. Er hat in einer Ziegelei und auf einer Farm gearbeitet, mehrere Jahre Berufserfahrung als Schweißerlehrling und einige Ortskenntnisse in Kano State, wo er sich nach eigenen Angaben zuletzt aufhielt.
Im Herkunftsstaat leben seine Mutter und sein etwa 16-jähriger Bruder. Nach Angaben des Beschwerdeführers lebt der Vater nicht mehr, jedoch der Bruder seines Ziehvaters, zugleich sein ehemaliger Lehrherr. Der Beschwerdeführer wurde als Kind getauft und besuchte bis zu seiner Ausreise die wöchentlichen Gottesdienste einer Pfingstgemeinde. Er hat Kontakt zu Kirchenmitgliedern in Delta State, leidet an keinen chronischen Krankheiten, nahm Medikamente nur wegen Nebenwirkungen seiner COVID-Impfung und ist gesund und arbeitsfähig.
Der Beschwerdeführer verließ zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt Nigeria und gelangte im September 2015 illegal nach Österreich, wo er zum Asylantrag vom 15.09.2015 erstbefragt wurde, wobei er sich fälschlich als Minderjähriger ausgab. Die Altersfeststellung ergab als spätestes Geburtsdatum den XXXX , dennoch legte das BFA dieses Datum 18 Jahre vor der Antragstellung fest, also auf einen Tag im Jahr 1997 (im Spruch unter „auch“ angeführt).
In Österreich war der Beschwerdeführer 2016 und 2017 mit Bewilligung des AMS geringfügig beschäftigt als Aushilfskraft im Straßendienst seiner Wohngemeinde. Bis 2018 bezog er Grundversorgung, seit 2019 ist er als Zusteller einer Tageszeitung tätig, wobei er nachts arbeitet und monatlich mindestens € 560,-- brutto durchschnittlich verdient, im Juni 2021 waren es € 644,28. Er hat eine Zusage für eine Lehrstelle als Schweißer, die er antreten möchte.
Er hat im Februar 2017 die Deutschprüfung A1 abgelegt und besucht seit damals die städtische Bibliothek der Wohngemeinde. Im März 2018 hat er die Deutschprüfung A2 bestanden. Anschließend besuchte er den B1-Kurs und trat 2018 und auf eigene Kosten nochmals 2019 zur B1-Prüfung an, die er nicht bestand. Von Jänner bis Oktober 2020 absolvierte er einen Basiskurs Mathematik. Eine Lenkerberechtigung hat er noch nicht erworben.
Im Juni 2021 hat er als Externist den Pflichtschulabschluss erlangt, bei dem er ein „Gut“ als Deutschnote erzielte. In der Beschwerdeverhandlung konnte er öfters auf Deutsch antworten und noch öfter Fragen ohne Hilfe des Dolmetschs verstehen.
In der freikirchlichen „Gemeinde Christi“ am Wohnort ist er seit Mitte 2016 tätig, als er dort neuerlich getauft wurde. An den Gottesdiensten, die er wöchentlich besucht, wirkt er als Lektor mit. Nach diesen beteiligt er sich für den „Verein XXXX “, dem er angehört, an dessen Missionstätigkeit.
Der Beschwerdeführer lernte im März 2016 eine etwa 25 Jahre ältere österreichische Staatsbürgerin kennen, mit der er kurz darauf eine Beziehung begann und seit Dezember 2017 verheiratet ist. Seit Juni 2018 wohnt er mit dieser und deren 21-jährigem Sohn im gemeinsamen Haushalt in einer Mietwohnung und führt mit ihnen ein Familienleben. Mit der Gattin, die außer einem einmonatigen Praktikum in Deutschland keine Auslandsbeschäftigungen hatte, spricht er seit Anfang 2017 auf deren Verlangen grundsätzlich nur Deutsch. Diese ist Akademikerin und arbeitet im administrativen Bereich einer Universität, der Sohn ist noch in Ausbildung.
Für die Miete und einen wöchentlichen Lebensmittelkauf der Familie kommt die Gattin auf, ansonsten trägt der Beschwerdeführer seine Kosten selbst. Der volljährige Stiefsohn ist noch in Ausbildung, erhält Alimente und arbeitet fallweise. Mit ihm zusammen kocht der Beschwerdeführer zuhause. Abhängigkeiten sind in keiner Richtung feststellbar.
Der Beschwerdeführer hat 16 Empfehlungsschreiben vorgelegt, deren Verfasser unter anderem aus seiner religiösen Umgebung kommen, wie sein hiesiger Taufspender, aus der Familie, wie die Schwägerin, aber auch aus der Nachbarschaft, der Wohnumgebung und dem Freundeskreis der Gattin. Aus diesen ergibt sich, dass der Beschwerdeführer einen – teils über die Gattin kennengelernten – Freundes- und Verwandtenkreis aus Personen aufweist, die in Österreich gesellschaftlich und wirtschaftlich verankert sind, den Namen nach sind es fast nur Menschen aus dem deutschsprachigen Raum, darunter die Freundin des Stiefsohns.
Mit der Gattin und deren Freundinnen unternimmt er Ausflüge, auch in andere Bundesländer, und war bei einer davon auch übers Wochenende im Ferienhaus eingeladen. Er nimmt an traditionellen Unterhaltungen wie Zeltfesten teil und schätzt deftige österreichische Küche.
Die Hausgemeinschaft, die sich als Gruppe auch einen Namen gegeben hat, organisiert seit 2018 regelmäßig Treffen, z. B. zum Grillen, bei denen der Beschwerdeführer teilnimmt und willkommen ist. Einer Freundin seiner Gattin hilft er bei Aufgaben in ihrem Nachbarschaftsgarten, seiner ehemaligen Sporttrainerin, mit deren Familie er befreundet ist, hilft er ebenfalls im Garten sowie bei Arbeiten im Haus. Einer Wohnungsnachbarin hat er Hilfe beim Ausmalen der Wohnung angeboten.
Er ist strafrechtlich unbescholten. Bei der Beschwerdeverhandlung ergab sich zwar der Verdacht des Vergehens der Urkundenfälschung (mittels einer 2017 vorgelegten Kopie einer Geburtsurkunde), doch wäre dieses bereits seit einem Jahr verjährt.
Der im nächsten Monat sechsjährige Aufenthalt des Beschwerdeführers ist überwiegend durch die Verfahrensdauer begründet, die deutliche, im Beschwerdeverfahren auch überlange Verzögerungen beinhaltet, die den Behörden zurechenbar sind.
1.2 Zur Lage im Herkunftsstaat:
Im angefochtenen Bescheid wurde das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Nigeria mit Stand 02.09.2016 zitiert. Aktuell liegt ein solches mit Stand 23.11.2020 vor. Im gegebenen Zusammenhang sind aus diesem mangels sonstiger Bezüge zum Vorbringen die folgenden Informationen von Relevanz und werden festgestellt:
1.2.1 Sicherheitslage
Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 16.1.2020). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt (AA 16.1.2020; vgl. FH 4.3.2020); sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 16.1.2020; vgl. EASO 11.2018a) und Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a; vgl. Garda 23.6.2020). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten (EASO 11.2018a; vgl. AA 16.1.2020), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a) bzw. kommt es seit Jänner 2018 zu regelmäßigen Protesten des IMN in Abuja und anderen Städten, die das Potential haben, in Gewalt zu münden (UKFCDO 26.9.2020). Beim Konflikt im Nordosten handelt es sich um eine grenzüberschreitende jihadistische Insurgenz. Im „Middlebelt“ kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und Bauern. Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta geht es sowohl um Konflikte zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im Südosten handelt es sich (noch) um vergleichsweise beschränkte Konflikte zwischen einzelnen sezessionistischen Bewegungen und der Staatsgewalt. Die Lage im Südosten des Landes („Biafra“) bleibt jedoch latent konfliktanfällig. Die separatistische Gruppe Indigenous People of Biafra (IPOB) ist allerdings derzeit in Nigeria nicht sehr aktiv (AA 16.1.2020).
Die Kriminalitätsrate in Nigeria ist sehr hoch, die allgemeine Sicherheitslage hat sich in den vergangenen Jahren laufend verschlechtert. In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, westl. Taraba und der östl. Teil von Nassarawa, das nördliche Sokoto und die Bundesstaaten Plateau, Kaduna, Benue, Niger und Kebbi sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. innerethnischen Konflikten betroffen. Weiterhin bestimmen immer wieder gewalttätige Konflikte zwischen nomadisierenden Viehzüchtern und sesshaften Farmern sowie gut organisierten Banden die Sicherheitslage. Demonstrationen und Proteste sind insbesondere in Abuja und Lagos, aber auch anderen großen Städten möglich und können zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Im Juli/August 2019 forderten diese in Abuja auch wiederholt Todesopfer (AA 8.10.2020).
Anfang Oktober 2020 führte eine massive Protestwelle zur Auflösung der Spezialeinheit SARS am 11.10.2020 (Guardian 11.10.2020). Die Einheit wurde in SWAT (Special Weapons and Tactics Team) umbenannt und seine Beamten sollen einer zusätzlichen Ausbildung unterzogen werden. Die Protestwelle hielt jedoch an (DS 16.10.2020). Mit Stand 26.10.2020 war das Ausmaß der Ausschreitungen stark angestiegen. Es kam zu Gewalt und Plünderungen sowie zur Zerstörung von Geschäften und Einkaufszentren. Dabei waren bis zu diesem Zeitpunkt 69 Menschen ums Leben gekommen - hauptsächlich Zivilisten, aber auch Polizeibeamte und Soldaten (BBC News 26.10.2020).
In den nordöstlichen Landesteilen werden fortlaufend terroristische Gewaltakte, wie Angriffe und Sprengstoffanschläge von militanten Gruppen auf Sicherheitskräfte, Märkte, Schulen, Kirchen und Moscheen verübt (AA 8.10.2020).
In der Zeitspanne September 2019 bis September 2020 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (3.085), Kaduna (894), Zamfara (858), und Katsina (644). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Gombe (3), Kebbi (4), Kano (6), Jigawa (15) (CFR 2020).
Nigerdelta
Im Nigerdelta, dem Hauptgebiet der Erdölförderung, bestehen zahlreiche bewaffnete Gruppierungen, die sich neben Anschlägen auf Öl- und Gaspipelines auch auf Piraterie im Golf von Guinea und Entführungen mit Lösegelderpressung spezialisiert haben (ÖB 10.2019).
Von 2000 bis 2010 agierten im Nigerdelta militante Gruppen, die den Anspruch erhoben, die Rechte der Deltabewohner zu verteidigen und die Forderungen auf Teilhabe an den Öleinnahmen auch mittels Gewalt (Sabotage der Ölinfrastruktur) durchzusetzen. 2009 gelang dem damaligen Präsidenten Yar'Adua mit einem Amnestieangebot eine Beruhigung des Konflikts. Unter Buhari lief das Programm am 15.12.2015 aus. Es kam zur Wiederaufnahme der Attacken gegen die Ölinfrastruktur (AA 16.1.2020; vgl. ACCORD 17.4.2020). Im Herbst 2016 konnte mit den bewaffneten Gruppen ein neuer Waffenstillstand vereinbart werden, der bislang großteils eingehalten wird (ÖB 10.2019). Das Amnestieprogramm ist bis 2019 verlängert worden. Auch wenn Dialogprozesse zwischen der Regierung und Delta-Interessengruppen laufen und derzeit ein „Waffenstillstand“ zumindest grundsätzlich hält, scheint die Regierung nicht wirklich an Mediation interessiert zu sein, sondern die Zurückhaltung der Aufständischen zu „erkaufen“ und im Notfall mit militärischer Härte durchzugreifen (AA 16.1.2020).
Die Lage bleibt aber sehr fragil, da weiterhin kaum nachhaltige Verbesserung für die Bevölkerung erkennbar ist (AA 16.1.2020). Angriffe auf Erdöleinrichtungen stellen weiterhin eine Bedrohung für die Stabilität und die Erdölproduktion dar (ACCORD 17.4.2020). Der Konflikt betrifft die Staaten des Nigerdeltas, darunter Abia, Akwa, Ibom, Bayelsa, Cross River, Delta, Edo, Imo, Ondo und Rivers (EASO 2.2019).
Das Militär hat auch die Federführung bei der zivilen Bürgerwehr Civilian Joint Task Force inne, die u.a. gegen militante Gruppierungen im Nigerdelta eingesetzt wird. Auch wenn sie stellenweise recht effektiv vorgeht, begeht diese Gruppe häufig selbst Menschenrechtsverletzungen oder denunziert willkürlich persönliche Feinde bei den Sicherheitsorganen (AA 16.1.2020).
Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta handelte es sich sowohl um einen Konflikt zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im ersten Fall stehen in der Regel finanzielle Partikularinteressen der bewaffneten Gruppen im Vordergrund, im zweiten Fall geht es um einen Verteilungskampf rivalisierender Gruppen (AA 16.1.2020).
Das Risiko von Entführungen ist hoch und besteht landesweit (AA 8.10.2020), so wurden auch im Jahr 2019 Zivilisten entführt um Lösegeld zu erhalten (USDOS 11.3.2020; vgl. ACCORD 17.4.2020).
Nordnigeria - Boko Haram
Boko Haram ist seit Mitte 2010 für zahlreiche schwere Anschläge mit Tausenden von Todesopfern verantwortlich (AA 24.5.2019a). Im August 2016 spaltete sich Boko Haram als Folge eines Führungsstreits in Islamic State West Africa (ISIS-WA) und Jama’atu Ahlis Sunna Lidda’awati wal-Jihad (JAS) auf (EASO 11.2018a).
Dem Konflikt fielen bisher unterschiedlichen unabhängigen Schätzungen zufolge zwischen 20.000 und 30.000 Menschen zum Opfer (AA 24.5.2019a; vgl. HRW 14.1.2020; EASO 11.2018a). Milizen der Boko Haram und der an Einfluss gewinnende ISIS-WA terrorisieren die Zivilbevölkerung weiterhin durch Mord, Raub, Zwangsverheiratungen, Vergewaltigung und Menschenhandel (AA 16.1.2020). Diese Gruppen sind auch weiterhin für Angriffe auf militärische und zivile Ziele in Nordnigeria verantwortlich (USDOS 24.6.2020).
Seit der Angelobung von Präsident Buhari im Mai 2015 wurden effektivere Maßnahmen gegen die Aufständischen ergriffen (ACCORD 17.4.2020). Die von Boko Haram betroffenen Staaten (v. a. Kamerun, Tschad, Niger, Nigeria) haben sich im Februar 2015 auf die Aufstellung einer circa 10.000 Mann starken Multinational Joint Task Force (MNJTF) zur gemeinsamen Bekämpfung von Boko Haram verständigt (AU-EU o.D.). In den vergangenen Jahren wurde die Militärkampagne gegen die Islamisten auf Druck und unter Beteiligung der Nachbarstaaten intensiviert und hat laut Staatspräsident Buhari zu einem von der Regierung behaupteten „technischen Sieg" geführt (ÖB 10.2019). Tatsächlich gelang es dem nigerianischen Militär und Truppen aus den Nachbarländern Tschad, Niger und Kamerun, Boko Haram aus einigen Gebieten zu verdrängen (GIZ 9.2020a). Nach dem Rückzug in unwegsames Gelände und dem Treueeid einer Splittergruppe gegenüber dem sogenannten Islamischen Staat ist Boko Haram mittlerweile zur ursprünglichen Guerillataktik von Überfällen auf entlegenere Dörfer und Selbstmordanschlägen - oft auch durch Attentäterinnen - zurückgekehrt (ÖB 10.2019; vgl. ACCORD 17.4.2020). Insgesamt hat sich die Sicherheitslage im Nordosten nach zeitweiliger Verbesserung (2015-2017) seit 2018 wieder verschlechtert. Die nigerianischen Streitkräfte sind nicht in der Lage, ländliche Gebiete zu sichern und zu halten und beschränken sich auf das Verteidigen einiger urbaner Zentren im Bundesstaat Borno (AA 16.1.2020).
Einige Gebiete stehen immer noch unter der Kontrolle der verschiedenen Fraktionen der Gruppe. JAS scheint im Nordosten in Richtung Kamerun am aktivsten zu sein, während ISIS-WA hauptsächlich in der Nähe der Grenze zu Niger operiert (EASO 2.2019). Im Jahr 2019 führten Boko Haram und ISIS-WA Angriffe auf Bevölkerungszentren und Sicherheitskräfte im Bundesstaat Borno durch. Boko Haram führte zudem in eingeschränktem Ausmaß Anschläge im Bundesstaat Adamawa durch, während ISIS-WA Ziele im Bundesstaat Yobe angriff. Boko Haram kontrolliert zwar nicht mehr so viel Territorium wie zuvor, jedoch ist es beiden Gruppen im Nordosten des Landes weiterhin möglich, Anschläge auf militärische und zivile Ziele durchzuführen (ACCORD 17.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
ISIS-WA scheint im Juni 2020 im nordöstlichen Nigeria wieder an Stärke zu gewinnen. Im Juni 2020 wurden mehr als 120 Menschen innerhalb einer Woche von der Gruppe getötet (AP 26.6.2020). Allein im Jahr 2019 sind ca. 640 Zivilisten bei Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und Boko Haram getötet worden. Außerdem entführte die Gruppe mindestens 16 Menschen (HRW 14.1.2020). Laut einer anderen Quelle wurden bei mindestens 31 bewaffneten Angriffen der Boko Haram im Jahr 2019 mindestens 378 Zivilpersonen getötet (AI 8.4.2020). Im Jahr 2018 kamen beim Konflikt im Nordosten zumindest 1.200 Personen ums Leben, knapp 200.000 Personen wurden intern vertrieben (HRW 17.1.2019).
IOM zählt derweil etwa 1,6 Millionen IDPs, ca. 200.000 nigerianische Flüchtlinge befinden sich in den Nachbarländern (AA 24.5.2019a). Andere Quellen berichten von circa zwei Millionen IDPs und mehr als 240.000 nigerianischen Flüchtlingen in den angrenzenden Staaten (USDOS 11.3.2020).
Auch wenn die zivile Bürgerwehr Civilian Joint Task Force stellenweise recht effektiv gegen Boko Haram vorging, begeht diese Gruppe häufig selbst Menschenrechtsverletzungen oder denunziert willkürlich persönliche Feinde bei den Sicherheitsorganen (AA 16.1.2020).
1.2.2 Bewegungsfreiheit
Die Verfassung sowie weitere gesetzliche Bestimmungen gewährleisten Bewegungsfreiheit im gesamten Land sowie Auslandsreisen, Emigration und Wiedereinbürgerung. Allerdings schränken Sicherheitsbeamte die Bewegungsfreiheit durch Ausgangssperren ein, vor allem in Gebieten, in denen es Terroranschläge oder ethnisch motivierte Gewalt gibt. Dies betrifft aufgrund der Operationen gegen Boko Haram und ISIS-WA v.a. die Bundesstaaten Adamawa, Borno und Yobe. Auch in anderen Bundesstaaten kommt es in Reaktion auf gewaltsame Auseinandersetzungen in ländlichen Regionen mitunter zu Ausgangssperren. Bei Operationen von Sicherheitskräften in Städten und an Hauptverkehrsstraßen werden gelegentlich Checkpoints eingerichtet. Zahlreiche von Militär und Polizei betriebene Checkpoints bleiben aufrecht (USDOS 11.3.2020).
Bürger dürfen sich in jedem Teil des Landes niederlassen (USDOS 11.3.2020). Grundsätzlich besteht in den meisten Fällen die Möglichkeit, staatlicher Verfolgung, Repressionen Dritter sowie Fällen massiver regionaler Instabilität durch Umzug in einen anderen Teil des Landes auszuweichen (AA 16.1.2020). Prinzipiell sollte es einer Person, die von nicht-staatlichen Akteuren verfolgt wird oder die sich vor diesen fürchtet, in einem großen Land wie Nigeria möglich sein, eine interne Relokation in Anspruch zu nehmen. Natürlich müssen die jeweiligen persönlichen Umstände beachtet werden (UKHO 3.2019).
In den vergangenen Jahrzehnten hat durch Wanderungsbewegungen und interethnische Ehen eine fortgesetzte Durchmischung der Wohnbevölkerung auch der „Kern"-Staaten der drei Haupt-ethnien (Hausa-Fulani, Yoruba, Igbo) stattgefunden. So ist insbesondere eine starke Nord-Süd-Wanderung feststellbar, wodurch Metropolen wie Lagos heute weitgehend durchmischt sind.
Es bestehen daher innerstaatliche Fluchtalternativen (ÖB 10.2019). Ein innerstaatlicher Umzug kann allerdings mit gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen verbunden sein, wenn sich Einzelpersonen an einen Ort begeben, an dem keine Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder der Dorfgemeinschaft leben. Angesichts der Wirtschaftslage, ethnischem Ressentiment und der Bedeutung großfamiliärer Bindungen in der Gesellschaft ist es für viele Menschen schwer, an Orten ohne ein bestehendes soziales Netz erfolgreich Fuß zu fassen. Für alleinstehende Frauen besteht zudem die Gefahr, bei einem Umzug in die Großstadt von der eigenen Großfamilie keine wirtschaftliche Unterstützung mehr zu erhalten (AA 16.1.2020).
Bundesstaats- und Lokalregierungen diskriminieren regelmäßig ethnische Gruppen, die in ihrem Gebiet nicht einheimisch sind. Dies nötigt gelegentlich Personen dazu, in jene Regionen zurückzukehren, aus denen ihre ethnische Gruppe abstammt, obwohl sie dort über keine familiäre Bindung mehr verfügen (USDOS 11.3.2020).
Für Überlandfahrten stehen mehrere Busunternehmen zur Verfügung, so z. B. ABC Transport, Cross Country Limited, Chisco und GUO Transport. Die Busse bieten Komfort, sind sicher, fahren planmäßig und kommen i.d.R. pünktlich am Zielort an. Die nigerianische Eisenbahn gilt als preisgünstiges, aber unzuverlässiges Transportmittel. Günstige Inlandflüge zwischen den Städten werden von mehreren nigerianischen Fluggesellschaften angeboten. Um innerhalb einer der Städte Nigerias von einem Ort zum anderen zu gelangen, stehen Taxis, Minibusse, Dreirad, die Keke und Motorradtaxis, die Okada genannt werden, zur Verfügung (GIZ 9.2020d).
Anfang September 2020 wurde die Phase 3 der Restriktionen im Zusammenhang mit der Coronakrise in Kraft gesetzt. Die Ausgangssperre gilt im ganzen Land nun von Mitternacht bis 4 Uhr. Meetings bis zu maximal 50 Personen sind gestattet. In Lagos dürfen Restaurants, Klubs und Kirchen etc. unter bestimmten Auflagen öffnen (WKO 25.9.2020).
Meldewesen
Ein Meldewesen ist nicht vorhanden (ÖB 10.2019; vgl. AA 16.1.2020; EASO 24.1.2019), wie u. a. zahlreiche Quellen bei EASO angeben. Nur eine Quelle behauptet, dass es eine Art Meldewesen gibt. Es bestehen gesetzliche Voraussetzungen, damit Bundesstaaten ein Meldewesen einrichten können. Bislang hat lediglich der Bundesstaat Lagos davon Gebrauch gemacht (EASO 24.1.2019). Auch ein funktionierendes nationales polizeiliches Fahndungssystem existiert nicht. Daraus resultiert, dass eine Ausforschung einmal untergetauchter Personen kaum mehr möglich ist. Das Fehlen von Meldeämtern und bundesweiten polizeilichen Fahndungsbehörden ermöglicht es in den allermeisten Fällen, bereits in der näheren Umgebung unterzutauchen (ÖB 10.2019).
Im Sheriffs and Civil Process Act Chapter 407, Laws of the Federation of Nigeria 1990 sind Ladungen vor Gericht geregelt. Der Sheriff oder von ihm bestellte Bailiffs müssen die Ladungen in ganz Nigeria persönlich zustellen (ÖB 10.2019).
1.2.3 Grundversorgung
Nigeria ist die größte Volkswirtschaft Afrikas. Die Erdölproduktion ist der wichtigste Wirtschaftszweig des Landes. Aufgrund des weltweiten Verfalls der Erdölpreise rutschte Nigeria 2016 jedoch in eine schwere Rezession, die bis zum zweiten Quartal 2017 andauerte (GIZ 6.2020). 2018 wuchs die nigerianische Wirtschaft erstmals wieder um 1,9 Prozent (GIZ 6.2020; vgl. AA 24.5.2019c). Getragen wurde das Wachstum vor allem durch die positive Entwicklung von Teilen des Nicht-Öl-Sektors (Landwirtschaft, Industrie, Gewerbe). Seit 2020 ist die nigerianische Wirtschaft aufgrund des erneuten Verfalls des Rohölpreises sowie der massiven wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie wieder geschwächt. Wie hoch der wirtschaftliche Schaden sein wird, ist bislang noch nicht abschätzbar (GIZ 6.2020). Für 2020 wird aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf Nigeria und der drastisch gesunkenen Erdölpreise mit einer Schrumpfung des nigerianischen BIP um 4,4 % gerechnet. In der 2. Jahreshälfte 2020 ist jedoch ein Wiederanziehen der Konjunktur feststellbar und für 2021 wird ein Wachstum von 2,2 % erwartet (WKO 14.9.2020).
Etwa 80 Prozent der Gesamteinnahmen Nigerias stammen aus der Öl- und Gasförderung (AA 16.1.2019). Neben Erdöl verfügt das Land über z.B. Zinn, Eisen-, Blei- und Zinkerz, Kohle, Kalk, Gesteine, Phosphat – gesamtwirtschaftlich jedoch von geringer Bedeutung (GIZ 6.2020). Von Bedeutung sind hingegen der (informelle) Handel und die Landwirtschaft, welche dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bieten (AA 16.1.2020). Der Industriesektor (Stahl, Zement, Düngemittel) machte 2016 ca. 20 Prozent des BIP aus. Neben der Verarbeitung von Erdölprodukten werden Nahrungs- und Genussmittel, Farben, Reinigungsmittel, Textilien, Brennstoffe, Metalle und Baumaterial produziert. Industrielle Entwicklung wird durch die unzureichende Infrastruktur (Energie und Transport) behindert (GIZ 6.2020). Vor allem im Bereich Stromversorgung und Transport ist die Infrastruktur weiterhin mangelhaft und gilt als ein Haupthindernis für die wirtschaftliche Entwicklung (AA 24.5.2019c).
Über 60 Prozent (AA 24.5.2019c) bzw. nach anderen Angaben über 70 Prozent (GIZ 6.2020) der Nigerianer sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Agrarsektor wird durch die Regierung stark gefördert. Dadurch hat etwa der Anteil an Großfarmen zugenommen (GIZ 6.2020; vgl. AA 24.5.2019c). Die unterentwickelte Landwirtschaft ist jedoch nicht in der Lage, den inländischen Nahrungsmittelbedarf zu decken (AA 24.5.2019c). Einerseits ist das Land nicht autark, sondern auf Importe – v.a. von Reis – angewiesen. Andererseits verrotten bis zu 40 Prozent der Ernten wegen fehlender Transportmöglichkeiten (ÖB 10.2019). Über 95 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion kommt von kleinen Anbauflächen – in der Regel in Subsistenzwirtschaft (AA 24.5.2019c).
Historisch war Lebensmittelknappheit in fast ganz Nigeria aufgrund des günstigen Klimas und der hohen agrarischen Tätigkeit so gut wie nicht existent. In einzelnen Gebieten im äußersten Norden (Grenzraum zu Niger) gestaltet sich die Landwirtschaft durch die fortschreitende Desertifikation allerdings schwierig. Experten schließen aufgrund der Wetterbedingungen, aber auch wegen der Vertreibungen als Folge der Attacken durch Boko Haram Hungerperioden für die nördlichen, insbesondere die nordöstlichen Bundesstaaten nicht aus. In Ernährungszentren nahe der nördlichen Grenze werden bis zu 25 Prozent der unter fünfjährigen Kinder wegen starker Unterernährung behandelt. Insgesamt hat sich der Prozentsatz an Unterernährung in den nördlichen Staaten im Vergleich zu 2015 verbessert und liegt nun unter der Alarmschwelle von 10 Prozent. Gemäß Schätzungen von UNICEF unterliegen aber weiterhin zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren in Nordnigeria einem hohen Risiko von schwerer akuter Unterernährung (ÖB 10.2019). Im Jahr 2019 benötigten von der Gesamtbevölkerung von 13,4 Millionen Menschen, die in den Staaten Borno, Adamawa und Yobe leben, schätzungsweise 7,1 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Davon sind schätzungsweise 80 Prozent Frauen und Kinder (IOM 17.3.2020).
Die Einkommen sind in Nigeria höchst ungleich verteilt (BS 2020; vgl. GIZ 9.2020b). 87 Millionen Nigerianer (40 Prozent der Bevölkerung) leben in absoluter Armut, d.h. sie haben weniger als 1 US-Dollar pro Tag zur Verfügung (GIZ 6.2020). 48 Prozent der Bevölkerung Nigerias bzw. 94 Millionen Menschen leben in extremer Armut mit einem Durchschnittseinkommen von unter 1,90 US-Dollar pro Tag (ÖB 10.2019). Die Armut ist in den ländlichen Gebieten größer als in den städtischen Ballungsgebieten (GIZ 9.2020b). Programme zur Armutsbekämpfung gibt es sowohl auf Länderebene als auch auf lokaler Ebene. Zahlreiche NGOs im Land sind in den Bereichen Armutsbekämpfung und Nachhaltige Entwicklung aktiv. Frauenorganisationen, von denen Women In Nigeria (WIN) die bekannteste ist, haben im traditionellen Leben Nigerias immer eine wichtige Rolle gespielt. Auch Nigerianer, die in der Diaspora leben, engagieren sich für die Entwicklung in ihrer Heimat (GIZ 6.2020).
Die Arbeitslosigkeit ist hoch, bei den Jugendlichen im Alter von 15 bis 35 wird sie auf über 50 Prozent geschätzt (GIZ 9.2020b). Offizielle Statistiken über Arbeitslosigkeit gibt es aufgrund fehlender sozialer Einrichtungen und Absicherung nicht. Geschätzt wird sie auf 20 bis 45 Prozent – in erster Linie unter 30-jährige – mit großen regionalen Unterschieden. Die Chancen, einen sicheren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst, staatsnahen Betrieben oder Banken zu finden, sind gering, außer man verfügt über eine europäische Ausbildung und vor allem über Beziehungen (ÖB 10.2019). Verschiedene Programme auf Ebene der Bundesstaaten aber auch der Zentralregierung zielen auf die Steigerung der Jugendbeschäftigung ab (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020).
Der Mangel an lohnabhängiger Beschäftigung führt dazu, dass immer mehr Nigerianer in den Großstädten Überlebenschancen im informellen Wirtschaftssektor als „self-employed“ suchen. Die Massenverelendung nimmt seit Jahren bedrohliche Ausmaße an (GIZ 9.2020b). Nur Angestellte des öffentlichen Dienstes, des höheren Bildungswesens sowie von staatlichen, teilstaatlichen oder großen internationalen Firmen genießen ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit. Eine immer noch geringe Anzahl von Nigerianern (acht Millionen) ist im Pensionssystem (Contributory Pension Scheme) registriert (BS 2020).
Die Großfamilie unterstützt in der Regel beschäftigungslose Angehörige (ÖB 10.2019). Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie und vom informellen Sektor getragen (BS 2020). Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2019).
Die täglichen Lebenshaltungskosten differieren regional zu stark, um Durchschnittswerte zu berichten. Mietkosten, Zugang zu medizinischer Versorgung und Lebensmittelpreise variieren nicht nur von Bundesstaat zu Bundesstaat, sondern auch regional/ethnisch innerhalb jedes Teilstaates (ÖB 10.2019).
Verdienstmöglichkeiten für Rückkehrerinnen: Eine der Berufsmöglichkeiten für Rückkehrerinnen ist die Eröffnung einer mobilen Küche für „peppersoup“, „garri“ oder „pounded yam“, für die man lediglich einen großen Kochtopf und einige Suppenschüsseln benötigt. Die Grundausstattung für eine mobile Küche ist für einen relativ geringen Betrag erhältlich. Hauptsächlich im Norden ist auch der Verkauf von bestimmten Holzstäbchen zur Zahnhygiene eine Möglichkeit, genügend Einkommen zu erlangen. In den Außenbezirken der größeren Städte und im ländlichen Bereich bietet auch „mini-farming“ eine Möglichkeit, selbständig erwerbstätig zu sein. Schneckenfarmen sind auf 10 m² Grund einfach zu führen und erfordern lediglich entweder das Sammeln der in Nigeria als „bushmeat“ gehandelten Wildschnecken zur Zucht oder den Ankauf einiger Tiere. Ebenso werden nun „grasscutter“ (Bisamratten-ähnliche Kleintiere) gewerbsmäßig in Kleinkäfigen als „bushmeat“ gezüchtet. Großfarmen bieten Tagesseminare zur Aufzucht dieser anspruchslosen und sich rasch vermehrenden Tiere samt Verkauf von Zuchtpaaren an. Rascher Gewinn und gesicherte Abnahme des gezüchteten Nachwuchses sind gegeben. Schnecken und „grasscutter“ finden sich auf jeder Speisekarte einheimischer Lokale. Für handwerklich geschickte Frauen bietet auch das Einflechten von Kunsthaarteilen auf öffentlichen Märkten eine selbständige Erwerbsmöglichkeit. Für den Verkauf von Wertkarten erhält eine Verkäuferin wiederum pro 1.000 Naira Wert eine Provision von 50 Naira. Weiters werden im ländlichen Bereich Mobiltelefone für Gespräche verliehen; pro Gespräch werden 10 Prozent des Gesprächspreises als Gebühr berechnet (ÖB 10.2019).
1.2.4 Rückkehr
Generell kann kein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen festgestellt werden, welcher geeignet wäre, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die allgemein herrschende Situation in Nigeria stellt keine Bedrohung i. S. v. Art. 2 MRK, 3 MRK oder des Protokolls Nr. 6 oder 13 der EMRK dar. Außerdem kann allgemein festgestellt werden, dass eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit finden kann, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2019).
Abschiebungen erfolgen auf dem Luftweg, in Linien- oder Chartermaschinen. Rückführungen aus EU-Staaten erfolgen meist durch Charterflüge, die auch durch FRONTEX durchgeführt werden (AA 16.1.2020). Die österreichische Botschaft in Abuja unterstützt regelmäßig die Vorbereitung und Durchführung von Joint Return Operations (JROs) gemeinsam mit FRONTEX (ÖB 10.2019). Ohne gültigen nigerianischen Pass oder einen von einer nigerianischen Botschaft ausgestellten vorläufigen Reiseausweis ist eine Einreise aus Europa kommender nigerianischer Staatsangehöriger nicht möglich. Dies gilt auch für zwangsweise Rückführungen (AA 16.1.2020).
Erkenntnisse darüber, ob abgelehnte Asylbewerber bei Rückkehr nach Nigeria allein wegen der Beantragung von Asyl mit staatlichen Repressionen zu rechnen haben, liegen nicht vor. Verhaftung aus politischen Gründen oder andere außergewöhnliche Vorkommnisse bei der Einreise von abgeschobenen oder freiwillig rückkehrenden Asylwerbern sind nicht bekannt (AA 16.1.2020). Die Erfahrungen mit den JROs seit dem Jahre 2005 lassen kaum Probleme erkennen (ÖB 10.2019). Abgeschobene Personen werden im Allgemeinen nach ihrer Ankunft in Lagos von der zuständigen Behörde (Nigerian Immigration Service), manchmal auch von der NDLEA (National Drug Law Enforcement Agency) befragt (AA 16.1.2020) bzw. erkennungsdienstlich behandelt (ÖB 10.2019) und können danach das Flughafengelände unbehelligt verlassen (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019). Meist steigen sie in ein Taxi ein oder werden von ihren Familien abgeholt. Es kann jedoch nicht mit gänzlicher Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die abgeschobenen Personen keine weiteren Probleme mit den Behörden haben. Das fehlende Meldesystem in Nigeria lässt allerdings darauf schließen, dass nach Verlassen des Flughafengeländes eine Ausforschung Abgeschobener kaum mehr möglich ist (ÖB 10.2019).
Wegen Drogendelikten im Ausland verurteilte Nigerianer werden nach Rückkehr an die NDLEA überstellt. Ein zweites Strafverfahren in Nigeria wegen derselben Straftat haben diese Personen jedoch trotz anderslautender Vorschriften im „Decree 33“ nicht zu befürchten (AA 16.1.2020). Aus menschenrechtlichen Erwägungen wird gegenüber nigerianischen Behörden als Grund für Abschiebungen stets „overstay“ angegeben, da dieser kein strafrechtliches Delikt darstellt (ÖB 10.2019).
Staatliche oder sonstige Aufnahmeeinrichtungen für zurückkehrende unbegleitete Minderjährige sind in Lagos und anderen Landesteilen grundsätzlich vorhanden. Sie sind jedoch in schlechtem Zustand, so dass z.B. die Angebote nicht bekannt sind oder eine ausreichende Versorgung dort nicht ohne weiteres gewährleistet ist. Internationale Akteure bemühen sich, neue Rückkehrer- bzw. Migrationsberatungszentren aufzubauen. Eine entsprechende Einrichtung von IOM in Benin-City, Edo State, wurde 2018 eröffnet. Gleichermaßen haben im Herbst 2018 in Lagos, Abuja und Benin City Migrationsberatungszentren der GIZ ihren Betrieb aufgenommen. Gemeinsam mit dem nigerianischen Arbeitsministerium wird dort über berufliche Perspektiven in Nigeria informiert (AA 16.1.2020).
1.3. Zu den Fluchtmotiven:
1.3.1 Erstbefragt gab der Beschwerdeführer an, er sei 2012 von Igbodo über Kano nach Niger ausgereist, wo er zwei Jahre verbracht habe, anschließend habe er etwa 1,5 Jahre in Libyen verbracht. Als Fluchtgrund gab er dagegen an, er habe sich 2011 entschlossen, den Ziehvater zu verlassen, dann zwei Jahre in Kano gelebt, und als eines Tages Islamisten gekommen seien und dort Bomben gezündet hätten, worauf alle weggelaufen seien, habe er sich einer Gruppe von Flüchtlingen angeschlossen, die nach Niger reisten. Wenn er zurückkehren müsse, wüsste er nicht, wo er wohnen könne, da er Halbwaise sei und die Mutter ihn weggegeben habe.
1.3.2 Beim BFA gab er 1 ¾ Jahre später an, er habe zuletzt in Bichi in Kano State gewohnt und keine Probleme mit Behörden gehabt, nur vor einiger Zeit einen Streit mit einigen Leuten, worauf die Polizei gekommen sei und ihn verhaftet habe. Wegen seiner Herkunft habe er auch die PDP unterstützen müssen und sei seit 2014 deren Mitglied.
Im Jänner oder Februar 2014 habe es eine Bombenexplosion bei „Central Market“ gegeben, und jeder habe weglaufen müssen. Leute seien mit Pistolen und Messern getötet worden. Islamistischen Terroristen hätten die Stadt an sich gerissen, andere Fluchtgründe habe er nicht. Niemals sei er persönlich bedroht oder verfolgt worden. Er sei auch nicht wegen seiner Religionszugehörigkeit verfolgt worden. Bei einer Rückkehr wäre es „eine schwierige Situation“ für ihn. Er habe keine Familie, die ihn übernehmen würde, und keinen Vater.
1.3.3 Drei Wochen später erstattete er schriftlich das weitere Vorbringen, er sei mit 12 nach Kano City gezogen, wo sein Onkel ihn in einem Betrieb als Schweißerlehrling beschäftigt habe. Eine radikalislamische Gruppe namens Kala Kato habe ihn dort bedroht, die aus Amajiri bestehe, Straßenbettlern, die nach Gelegenheiten suchten, gegen Christen zu kämpfen. Sie seien hinter ihm her gewesen, nachdem er einmal irrtümlicherweise in der Nähe einer Moschee uriniert habe. Sie hätten sie ihn deshalb bewusstlos geprügelt und zuhause laufend nach ihm gefragt, weshalb er nur noch freitags arbeiten gegangen sei, da diese dann Gottesdienst hätten und normalerweise keine Christen drangsalieren würden.
An einem Freitagsvormittag habe ein Selbstmordattentäter den Markt angegriffen, wobei sein Lehrbetrieb, der Markt, eine Kirche und andere Gebäude zerstört worden seien. Der Beschwerdeführer sei von der Arbeit weg geflohen und mit anderen Leuten in die Nähe der Grenze zu Niger gerannt („I ran“), von wo sie nach einer Woche Abwarten in die nahe gelegene Stadt Agadez (Agadès) in Niger gegangen seien. Er habe sich zu sehr gefürchtet, allein nach Kano zurückzugehen, sodass er ein Monat dortgeblieben sei, dann habe er die Gelegenheit genutzt, einen Bus nach Libyen zu nehmen.
1.3.4 Das Beschwerdevorbringen beinhaltet, dass der Beschwerdeführer auch durch andere islamistische Gruppen bedroht werde und Mitglied der PDP war. In der Beschwerdeverhandlung schließlich gab der Beschwerdeführer an, er habe in Bichi (Biche) gewohnt und gearbeitet und sei ca. dreimal wöchentlich nach Kano City auf den Markt gefahren, zuletzt kurz bevor er etwa im Jänner 2013 Nigeria verlassen habe. Mitglied der PDP sei er niemals gewesen.
Der Markt „Kano Central“ sei der in „Sabungo“ (Sabon gari market). Dort habe es Straßenkämpfe gegeben, ausgelöst durch einen Mann, der in der Nähe einer Moschee uriniert habe. In der Folge seien Läden in Brand gesteckt und mehrere Bomben geworfen worden. Den Mann habe er nicht gekannt, seine Leiche, die als Warnung zur Schau gestellt worden sei, habe er gesehen. Das Bombenattentat sei an einem Samstag gewesen, dem Tag nach dem moslemischen Gebetstag
Er selbst habe versehentlich auch bei einer Moschee uriniert, aber nach dem Vorfall. Man habe ihn zur Rede gestellt, und er habe geantwortet, er habe nicht gewusst, dass es sich um eine solche handle. Etwa zwei Wochen nach dem Attentat habe er Nigeria verlassen und sei nach Agadez in Niger gereist, was etwa drei Tage gedauert habe, weil sie sich oft verstecken und auch warten hätten müssen, weil Kinder dabei gewesen seien.
1.3.5 Dem Beschwerdeführer droht im Herkunftsstaat keine Verfolgung durch Kala Kato, Amajiri oder andere Kriminelle. Gegen eine solche Verfolgung könnte er sich durch eine geeignete Ortswahl oder die Inanspruchnahme der Hilfe staatlicher Behörden schützen. Ihm droht auch keine sonstige Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder einer auch nur unterstellten politischen Gesinnung.
Er hat den Herkunftsstaat aus nicht asylrelevanten Gründen verlassen, keinen Fluchtgrund glaubhaft gemacht und kein substantiiertes Vorbringen erstattet. Er war niemals Mitglied der People’s Democratic Party.
1.3.6 Eine nach Nigeria zurückkehrende Person, bei der keine berücksichtigungswürdigen Gründe vorliegen, wird durch eine Rückkehr nicht automatisch in eine unmenschliche Lage versetzt. Es gibt keinen Hinweis, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer wie immer gearteten asylrelevanten Verfolgung unterläge oder automatisch in eine unmenschliche Lage versetzt würde.
1.3.7 Zusammenfassend wird in Bezug auf das Vorbringen des Beschwerdeführers und aufgrund der allgemeinen Lage im Land festgestellt, dass der Beschwerdeführer im Fall der erneuten Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgung oder sonstigen existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein wird.
1.3.8 Der Beschwerdeführer hat im Herkunftsstaat familiäre und andere soziale Kontakte, die er nach seiner Rückkehr auffrischen und vertiefen kann. Er ist mit der Kultur des Herkunftsstaats und den Gepflogenheiten des dortigen Arbeitsmarkts vertraut. Daher ist es ihm möglich, dort Arbeit zu finden und von dieser zu leben. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Nigeria die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre.
2. Beweiswürdigung:
2.1 Zum Verfahrensgang:
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem Inhalt des Aktes des BFA und des vorliegenden Gerichtsakts.
2.2 Zur Person des Beschwerdeführers:
2.2.1 Die Feststellungen zu seinen Lebensumständen, seinem Gesundheitszustand, seiner Arbeitsfähigkeit sowie seiner Glaubenszugehörigkeit gründen sich auf die diesbezüglichen glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers und die Feststellungen des Bescheids, wobei aus den folgenden Gründen, auch nach der Beschwerdeverhandlung, keine genaueren Feststellungen möglich waren:
Zu seiner Identität hat der Beschwerdeführer im Laufe der Zeit Altersangaben gemacht, die mehr als 10 ½ Jahre auseinanderliegen. Unterschiedliche Angaben machte er auch zu seiner Kindheit und Schulbildung sowie zum Namen seiner Mutter. Ferner widersprach er sich auch betreffend den angeblichen Ziehvater und dessen angeblichen Bruder (AS 9 vs. AS 121, 153). Den Bruder des Beschwerdeführers erwähnte dieser beim BFA nach der Mutter (AS 120), sodass die Feststellung eines Bruders möglich war, auch wenn der Beschwerdeführer ihn bei der Verhandlung (S. 8) als Sohn des Lehrherrn bezeichnete, den er aber als Bruder betrachte.
Die unwahrscheinlichen Altersangaben seine Mutter betreffend erklärte er in der Verhandlung damit, dass er nie mit dieser zusammengelebt habe (S. 5). Demgegenüber hatte er erstbefragt ausgesagt, irgendwann habe sie ihn verlassen (AS 9), und dem BFA schrieb er 2017, dass das gewesen sei, als er acht Jahre alt war (S. 152).
Auch zu seinen Aufenthaltsorten und -zeiten machte der Beschwerdeführer inkompatible Angaben, so zur angeblichen Übersiedlung nach Kano (Durchreise 2012, AS 7, vs. zwei Jahre Aufenthalt, AS 9, vs. mit 12, AS 153, vs. 2010 [2011/12], Verhandlung S. 8, 10), und zum Zeitpunkt seiner Ausreise (2012, AS 5, 7 vs. Jänner/Februar 2014, AS 123, vs. Anfang, jedenfalls erste Hälfte 2013, Verhandlung S. 7, 9) aber auch zum letzten Wohn- und Arbeitsort (Igbodo, AS 5, vs. Bichi, AS 121, vs. Kano City, AS 152 f, vs. Bichi, Verhandlung S. 8).
2.2.2 Betreffend das monatliche Einkommen hat der Beschwerdeführer in der Beschwerdeverhandlung angegeben, € 560,-- bis € 580,-- zu verdienen. Er hat auch veranlasst, dass dem Gericht Einkommensnachweise vorgelegt wurden, die dann noch in der Verhandlung (als OZ 18) zur Verfügung standen. Diese weisen im Zeitraum Dezember 2020 bis Juni 2021 Monatseinkommen von brutto durchschnittlich € 621,20 auf, wobei die Monate Februar und April fehlten. Da der Beschwerdeführer und die Zeugin auch angegeben haben, dass die zu beliefernde Abonnentenzahl im Sommer niedriger ist, was auch das Einkommen verringert, war eine Höhe von jedenfalls € 560,-- nachvollziehbar und daher festzustellen. Wenn die Zeugin – vor Einlangen der Belege in der Verhandlung – geringere Beträge angegeben hatte, dann lassen sich diese als netto aufgefasst mit den übrigen Beweisen vereinbaren.
2.3 Zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf dem aktuellen Länderinformationsbericht der Staatendokumentation für Nigeria samt den dort publizierten Quellen und Nachweisen Dieser Länderinformationsbericht stützt sich auf Berichte verschiedener ausländischer Behörden, etwa die allgemein anerkannten Berichte des Deutschen Auswärtigen Amtes, als auch jene von internationalen Organisationen, wie bspw. dem UNHCR, sowie Berichte von allgemein anerkannten unabhängigen Nachrichtenorganisationen.
Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Der Beschwerdeführer hat in der Verhandlung zu den Länderfeststellungen angegeben, es sei nicht richtig, dass die Behörden die Menschen z. B. in Kano City beschützen oder diesen bei einer Übersiedlung helfen könnten. Einige Menschen hätten sie zwar z. B. in ein Lager übersiedelt, dieses sei dann aber von den Banditen angegriffen worden. Das sei auch der Grund, warum die südlichen Bundesstaaten danach trachteten, sie fernzuhalten. Damit ist er den Länderfeststellungen nicht qualifiziert entgegengetreten.
2.4 Zum Fluchtvorbringen und zur Rückkehrperspektive
2.4.1 Der Beschwerdeführer brachte im Laufe der Zeit unterschiedliche Fluchtgründe vor: Zunächst (AS 9), dass er Halbwaise sei und die Mutter ihn weggegeben habe, sodass er sich, als eines Tages Islamisten Bomben gezündet hätten, einer Gruppe von Flüchtlingen angeschlossen habe, die nach Niger reisten, dann (AS 123 f) eine Bombenexplosion, bei der ein befreundeter Arbeitskollege getötet worden sei, später (AS 153 f) eine private Verfolgung wegen Urinierens nahe einer Moschee, der er sich nach Monaten anlässlich eines Selbstmordanschlags entzogen habe, indem er noch am selben Freitag mit anderen geflohen sei, in der Beschwerde (AS 225) Bedrohung als Christ und schließlich (in der Verhandlung, S. 11, 14), er sei erst nach dem Bombenattentat am Markt beim Urinieren nahe einer Moschee beobachtet worden, und dann, weil man ihn darauf angesprochen habe, zur Polizei gelaufen, welche ihn aber ebenso nicht habe schützen können wie die Kirche, weshalb er Angst bekommen habe und ausgereist sei, etwa eine Woche nach dem Attentat, das an einem Samstag stattgefunden habe.
Die unterschiedlichen Angaben zum (letzten) Wohn- und Arbeitsort sind bereits unter 2.2.1 angeführt und belasten auch die Glaubwürdigkeit des dort anknüpfenden Fluchtvorbringens.
2.4.2 Dem BFA ist zuzustimmen (S. 32 ff des Bescheids = AS 198 ff), dass es dem Beschwerdeführer aus einer Reihe von Gründen nicht gelungen ist, eine Verfolgung glaubhaft darzulegen. Die Widersprüche und Ungereimtheiten sind zahlreich und blieben auch in der Beschwerdeverhandlung großteils ungeklärt.
Zu diesen gehören zunächst die eben wiedergegebenen divergierenden Fluchtgründe, wobei außer der Steigerung des Vorbringens am markantesten ist, dass der Selbstmordanschlag einmal am Freitag stattgefunden hätte, dann aber am Samstag, und dem Beschwerdeführer das Urinieren einmal Monate vor dem Anschlag vorgeworfen wurde, in der anderen Version aber überhaupt erst nach dem Anschlag stattfand.
Bei der ersten Version führt das angebliche Urinieren außerdem zu Misshandlungen, der bewusstlose Beschwerdeführer wird von der Polizei in Sicherheit gebracht (AS 153), bei der zweiten wird er nur zur Rede gestellt, worauf er aus Angst zur Polizei läuft (Verhandlung S. 11, 14).
2.4.3 Weitere Ungereimtheiten finden sich betreffend die religiöse Verfolgung, konkret darin, dass der Beschwerdeführer beim BFA angab, nicht aufgrund der Religion verfolgt worden zu sein (AS 123), während die Beschwerde das Gegenteil vorbringt (AS 224) und der Beschwerdeführer in der Verhandlung als Rückkehrbefürchtung angab (S. 17), er wisse nicht genau, was ihm passieren würde, wahrscheinlich bekäme er Depressionen, er könne dort auch Selbstmord begehen, eine gefährliche Situation sei es allemal. Eine religiöse Verfolgung nannte er nicht.
2.4.4 Inhaltlich zeigt das Vorbringen eine zunehmende Informiertheit des Beschwerdeführers über islamistische Aktivitäten im Herkunftsstaat, allerdings ergab sich in der Verhandlung betreffend konkrete Wahrnehmungen in Kano City, dass der Beschwerdeführer kaum in der Lage war, das Lichtbild der Zentralmoschee oder Grand Mosque unter drei verschiedenen auszuwählen, obwohl er angab, an dieser fast jeden Tag vorbeigegangen zu sein, und auch deren Namen nicht wusste (S. 12 f). Es passt daneben die Aussage, fast jeden Tag vorbeigegangen zu sein, auch nicht zu seiner (jüngsten) Angabe, nicht in Kano City gewohnt zu haben, sondern in Bichi, und nur ca. dreimal pro Woche in Kano City gewesen zu sein (S. 8).
2.4.5 Zu Details des Anschlags äußerste sich der Beschwerdeführer nur sehr allgemein und ausweichend. Nach der Zahl der Opfer gefragt, gab er an: „Ich denke, es gab vier Tote. Später habe ich die Nachrichten gesehen. [...] Es passiert sehr oft, dass die Menschen, die dort wohnen, Angaben machen über Verletzungen und Tode. Aber die Regierung ändert all diese Angaben.“ Als Zeitpunkt gab er zunächst 2 h nachmittags an, wobei er sich an den Tag nicht erinnern könne, weil er kein Telefon dabeigehabt habe (AS 125), dann Freitagvormittag (AS 154), dann Samstag. Zu den Widersprüchen gab er an, es habe viele Bombenangriffe auf Kano Central gegeben, mindestens 20 (Verhandlung S. 12).
Tatsächlich fand auf die benachbarte Zentralmoschee in Kano City am 28.11.2014 ein Anschlag von zwei Selbstmordattentätern und weiteren Bewaffneten statt, von dem der Beschwerdeführer in der Verhandlung nichts wusste, weil er angeblich bereits ausgereist war. Über einen Anschlag auf den Sabon gari market von Kano City (oder gar mehrere) findet sich dagegen kein Bericht (nur zu einem am Markt in der Stadt Sabon Gari im Bundesstaat Borno 2015).
2.4.6 Die Flucht und Ausreise nach Niger schilderte der Beschwerdeführer zunächst so, dass er von Kano nach Agadez mit einem Bus gefahren sei (AS 7), dann so: „Wir sind dann zu einer Reisestation gelaufen. Meine Absicht war es[,] einen Bus zu erwischen, um einfach wegzukommen von dort. Aber es gab keinen Fahrer.“ Dann seien sie in ein Waldstück (!) gegangen. Nach drei Tagen hätten sie gedacht, die Terroristen wären fort, aber das sei nicht der Fall gewesen (AS 124) In seiner Stellungnahme gab er anschließend an, er sei mit einer Gruppe in „den Busch“ gerannt, „a grassland area“ (!), weil er dieses Gebiet von Kano nicht gekannt habe, und der Busch sei nahe der Grenze zu Niger gewesen. Dort seien sie eine Woche geblieben und dann ins benachbarte („nearby“) Agadez gegangen. (AS 154) In der Verhandlung gab er an, von Kano City nach Agadez etwa drei Tage gebraucht zu haben, „weil man uns oft verstecken musste. Wir mussten warten, weil auch Kinder dabei waren, bevor es weitergehen konnte“. (S. 13)
Die übliche Fahrzeit konnte der Beschwerdeführer nicht angeben (S.14), weder mit Auto noch mit Linienbus („Wie lange braucht dieser Bus?“ „Es gibt einen Staat zwischen Kano-City und Agadez und deshalb dauert es eigentlich eine Woche.“), sodass insgesamt der Eindruck entstand, dass er weder die Entfernung – tatsächlich 710 km – jemals zu Fuß zurückgelegt hätte, schon gar nicht rennend bis nahe an die Staatsgrenze, noch mit einem Kraftfahrzeug, wo die reine Fahrzeit annähernd 11 bis 12 Stunden beträgt.
2.4.7 Während er beim BFA angab, nie persönlich konkret bedroht oder verfolgt worden zu sein (AS 125), gab er in der Stellungnahme an (AS 153 f), die Kala Kato hätten seine Tötung angekündigt („said they would kill me if they find me“) und ihm drei Monate lang gedroht („threatened me“), ihn wie zuvor schon andere Igbo umzubringen, wenn er nicht wegzöge.
Nicht zuletzt widersprach sich der Beschwerdeführer diametral, was seine angebliche Mitgliedschaft bei der PDP betraf. Gab er beim BFA an, seit 2014 Mitglied der PDP zu sein (AS 123), was er in der Beschwerde wiederholte (AS 224), ohne vorzubringen, welche Konsequenzen er deshalb erwarte, gab er in der Verhandlung an (S. 10) niemals Mitglied gewesen zu sein.
2.4.8 Unter Berücksichtigung all dessen ist es nicht glaubhaft, die Abläufe hätten dem Geschilderten entsprochen. In der Verhandlung hinterließ der Beschwerdeführer den Eindruck, die wirklichen Gründe seiner Ausreise nicht vor dem Verwaltungsgericht oder anderen österreichischen Behörden preisgeben zu wollen. Sein Fluchtvorbringen konnte also nicht zu Feststellungen im Sinn seiner Behauptungen führen. Wie bereits beim BFA vermochte der Beschwerdeführer somit dem Gericht kein plausibles Verfolgungsszenario seine Person betreffend darzulegen, das ihn zur Flucht veranlasste.
Von einer konkret gegen den Beschwerdeführer gerichteten Verfolgung oder Bedrohung – aus dem Grund seiner christlichen Religion, weil er nächst einer Moschee uriniert habe oder aus anderen Gründen – ist damit nicht auszugehen, sondern davon, dass er seine Fluchtgründe nicht plausibel machen konnte, und das Fluchtvorbringen ein Konstrukt ist, das anscheinend im Laufe der Zeit zusammengefügt wurde, noch dazu aus nicht zusammenpassenden Teilen.
2.4.9 Da er sonstige Verfolgungsgründe verneinte und auch aus der geäußerten Rückkehrbefürchtung mit Blick auf die Länderfeststellungen nicht geschlossen werden kann, dass ihm eine asylrelevante Bedrohung oder existenzielle Notlage bevorstünde, war festzustellen, dass ihm Derartiges mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht droht, wobei sich weitere Ermittlungen auch zur Pandemie sich mit Blick auf Alter und Impfung des Beschwerdeführers und darauf erübrigten, dass er keiner Risikogruppe angehört.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Teilstattgebung und Erteilung eines Aufenthaltstitels:
3.1 Zum Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I):
3.1.1 Nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK droht, und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
3.1.2 Zum Vorbringen des Beschwerdeführers ist festzuhalten, dass das Geschilderte (Bedrohung durch Islamisten, Verfolgung als Christ etc.) soweit es die behaupteten Erlebnisse vor der Ausreise und deren Kausalität als Fluchtgründe betrifft - wie es bereits das BFA sah (AS 199) - als unglaubwürdig, wenig wahrscheinlich und damit in seiner Gesamtheit als nicht den Tatsachen entsprechend erscheint. Selbst dann, wenn dieser entgegen den Feststellungen mit solchen Problemen in Kano State zu rechnen hätte, spricht nichts gegen die Rückkehr nach Delta State, wo er sich (mindestens) den Großteil seines Lebens im Herkunftsstaat aufhielt.
Wie die Feststellungen zeigen, hat der Beschwerdeführer damit also keine Verfolgung oder Bedrohung glaubhaft gemacht, die asylrelevante Qualität hätte. Da auf eine asylrelevante Verfolgung auch sonst nichts hinweist, ist davon auszugehen, dass ihm keine Verfolgung aus in den in der GFK genannten Gründen droht. Die Voraussetzungen für die Erteilung von Asyl sind daher nicht gegeben. Aus diesem Grund war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.
3.2 Zum Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II):
3.2.1 Nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn der Antrag in Bezug auf den Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, und eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 AsylG 2005 zu verbinden.
Hinweise auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage wie allgemeine Hungersnot, Seuchen, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse liegen nicht vor, auch in Bezug auf die Pandemie nicht, weshalb aus diesem Blickwinkel bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Verdacht auf das Vorliegen eines Sachverhaltes gemäß Art. 2 oder 3 EMRK abgeleitet werden kann.
3.2.2 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach erkannt, dass auch die Außerlandes-schaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat eine Verletzung von Art 3 EMRK bedeuten kann, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet. Gleichzeitig wurde jedoch unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR betont, dass eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen ist (V