TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/19 W246 2214559-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.08.2021
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Entscheidungsdatum

19.08.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W246 2214559-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Heinz VERDINO als Einzelrichter über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmBH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.01.2019, Zl. 1098308306-151955664, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A) I. Der Beschwerde wird stattgegeben und der Beschwerdeführerin gemäß § 3 Abs. 1 und 4 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass der Beschwerdeführerin damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die – zu diesem Zeitpunkt bereits volljährige – Beschwerdeführerin reiste gemeinsam mit ihrem Bruder XXXX , geb. XXXX , illegal nach Österreich ein und stellte am 09.12.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der Beschwerdeführerin statt.

3. Mit Schreiben vom 18.09.2017 legte die Beschwerdeführerin einen medizinisch-psychiatrischen Befund einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie vom 11.07.2017 vor, wonach die Beschwerdeführerin taub sei, sich sprachlich nicht verständigen könne und keine Gebärdensprache entwickelt habe.

4. Am 23.11.2017 erfolgte eine (erste) niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, die nach 15 Minuten abgebrochen wurde.

5. Daraufhin erfolgte am 22.11.2018 eine (zweite) niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein von einem Dari- sowie zwei Gebärdendolmetschern und ihres Bruders, wobei die beiden Gebärdendolmetscher die Einvernahme aufgrund der von der Beschwerdeführerin nicht gesprochenen Gebärdensprache bald wieder verließen.

Die Beschwerdeführerin gab bei dieser Einvernahme im Wege ihres Bruders an, dass die Taliban ihre Feinde seien und eine Bombe gelegt hätten. Zudem hätten die Taliban der Beschwerdeführerin eine Spritze gegeben, um sie behindert zu machen.

In dieser Einvernahme legte die Beschwerdeführerin mehrere medizinische Befunde vor, nach welchen bei ihr u.a. eine chronische Mittelohrentzündung in beiden Ohren und eine hochgradige Schwerhörigkeit vorliegen würden (u.a. HNO-Befund vom 15.05.2017 des Ambulatoriums für HNO-Krankheiten des Fachärztezentrums XXXX ).

6. Am 20.12.2018 erfolgte eine weitere (dritte) niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl.

Dabei gab sie im Wege ihres Bruders an, dass ihre Familie Grundstücksstreitigkeiten mit den Taliban gehabt habe. Die Taliban hätten im Zuge dieser Grundstücksstreitigkeiten zwei Brüder der Beschwerdeführerin getötet und der Familie die Grundstücke weggenommen. Sie selbst sei von den Taliban geschlagen worden. Ihr in Österreich aufhältiger Bruder habe aus diesem Grund zwar eine Anzeige bei der Polizei erstattet, diese habe jedoch nichts gemacht. In der Folge seien die Taliban erneut bei ihnen aufgetaucht und hätten ihren – nun in Österreich aufhältigen – Bruder geschlagen. Eines Tages habe die Beschwerdeführerin aufgrund einer Verkühlung und von Lungenproblemen einen Arzt in der Stadt Kabul aufgesucht, der von den Taliban mit Geld bestochen worden sei, damit er der Beschwerdeführerin eine Spritze geben würde. Nach diesem Arztbesuch habe sie dann plötzlich nicht mehr hören können. Aus diesen Gründen habe die Beschwerdeführerin schließlich Afghanistan verlassen und sei mit ihrem Bruder nach Europa gereist.

7. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz mit dem im Spruch genannten Bescheid bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten in Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 iVm
§ 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab. Gleichzeitig erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 1 leg.cit. den Status einer subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr gemäß
§ 8 Abs. 4 leg.cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 17.01.2020 (Spruchpunkt III.).

8. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.07.2021 u.a. in Anwesenheit der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin in ihrem Verfahren und im Verfahren ihres in Österreich aufhältigen Bruders (Zl. W246 2214558-1) eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der ihr Bruder ausführlich zu ihren Ausreisegründen aus Afghanistan befragt wurde.

In der Verhandlung legte die Beschwerdeführerin im Wege ihrer Rechtsvertreterin eine Stellungnahme zum Verfahren, eine Kopie ihres aktuell gültigen Behindertenpasses und ein Konvolut an medizinischen Unterlagen v.a. betreffend ihre hochgradige Schwerhörigkeit vor.

10. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in der Folge mit Schreiben vom 21.07.2021 und 03.08.2021 das Verhandlungsprotokoll vom 20.07.2021 samt der Stellungnahme zum Verfahren und führte zudem die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 12.12.2017 zur Diskriminierung und Behandlung von Taubstummen in Afghanistan in das Verfahren ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu der Person der Beschwerdeführerin, ihren persönlichen Umständen in Afghanistan und ihrem gesundheitlichen Zustand:

Die Beschwerdeführerin führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Sie ist Staatsangehörige von Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Hazara (Sayyid) und schiitische Muslim.

Sie stammt aus einem Dorf in der Provinz Paktia und lebte auch in der Stadt Kabul. Die Beschwerdeführerin hat keine Schulbildung erhalten und ist Analphabetin. Sie war in Afghanistan als Hausfrau tätig und hat ansonsten keine (beruflichen) Tätigkeiten ausgeübt. Die Eltern der Beschwerdeführerin sind verstorben; sie verfügt über keine aufrechten familiären oder sonstigen sozialen Kontakte in Afghanistan.

Die Beschwerdeführerin leidet u.a. an einer chronischen Mittelohrentzündung an beiden Ohren und einer hochgradigen Schwerhörigkeit. Eine Verständigung mit der Beschwerdeführerin (insbesondere im Wege ihres Bruders oder eines Gebärdendolmetschers) ist nicht möglich; die Beschwerdeführerin hat keine Gebärdensprache entwickelt.

Die Beschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Der Beschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der bei ihr vorliegenden persönlichen Umstände (hochgradige Schwerhörigkeit und Unmöglichkeit der Kommunikation mit anderen Personen; keine Schulbildung und keine Berufserfahrung; keine aufrechten familiären oder sonstigen sozialen Anknüpfungspunkte in Afghanistan) physische bzw. psychische Gewalt u.a. seitens der Zivilbevölkerung und eine Entziehung jeglicher Existenzgrundlage.

1.3. Mit Erkenntnis vom heutigen Tag wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Bruders der Beschwerdeführerin XXXX , geb. XXXX , gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.01.2019 im Verfahren zur Zl. W246 2214558-1 als unbegründet ab. Diesem Bruder der Beschwerdeführerin kommt in Österreich der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.4.1. Auszug aus der Länderinformation des COI-CMS zu Afghanistan, generiert am 11.06.2021 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

Paktia

Die Provinz Paktia [alternative, weniger gebräuchliche Schreibweisen: Paktya, Paktiya] befindet sich im Osten Afghanistans (NPS Paktia o.D.) und grenzt an Logar im Norden, Pakistan im Osten, Khost im Südosten, Paktika im Süden und Ghazni im Westen (UNOCHA Paktia 4.2014). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Ahmadaba, Jaji, Dand Patan, der Provinzhauptstadt Gardez, Jani Khel, Laja Ahmad Khel (oder Laja Mangel), Samkani (auch Chamkani, Tsamkani), Sayyid Karam (oder Mirzaka), Shwak, Wuza Zadran und Zurmat (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Paktia 2019, UNOCHA Paktia 4.2014, NPS Paktia o.D., PAJ Paktia o.D.). Weiters gibt es vier temporäre Distrikte: Laja Mangel, Mirzaka, Garda Siray, Rohany Baba (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Paktia 2019).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in der Provinz Paktia im Zeitraum 2020/21 auf 611.952 Personen (NSIA 1.6.2020). Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Tadschiken (NPS Paktia o.D.; vgl. OPr Paktia 1.2.2017). Eine kleine schiitische Gruppe namens Sadat (Singular: Sayyed) lebt in Khwajah Hassan, nordöstlich der Provinzhauptstadt, größtenteils konfliktfrei neben den sunnitischen (tadschikischen und paschtunischen) Gemeinschaften (AAN 18.8.2020).

Eine befestigte Straße (USAID 7.5.2019) verbindet Kabul über die Provinz Logar mit der Provinzhauptstadt Gardez (MoPW 16.10.2015; vgl. TN 7.7.2020) und führt weiter durch die Distrikte Shawak und Zadran in die Provinz Khost nach Ghulam Khan an der afghanisch-pakistanischen Grenze (MoPW 16.10.2015; vgl. PAJ 21.8.2019, USAID 7.5.2019). Insbesondere entlang des Teilstückes durch die Provinz Logar gibt es eine starke Taliban-Präsenz (AAN 18.7.2020; vgl. SATP 16.7.2020). Die ebenso asphaltierte Straße Ghazni-Gardez (JIA/AADA 12.2019; vgl. MoPW 16.10.2015) wird seit der Frühjahrsoffensive 2019 von den Taliban blockiert und der gesamte Verkehr über eine ungepflasterte Straße durch Sultanbagh umgeleitet (JIA/AADA 12.2019; vgl. PAJ 3.11.2019).

Hintergrundinformationen zu Konflikt und Akteuren

Nach der Räumung der US-Militärbasis in Paktia im März 2020 hat sich der Einflussbereich der

Taliban in der Provinz vergrößert. Es kommt vermehrt zu gezielten Tötungen (WP 10.10.2020).

Im Laufe des Sommers 2020 hat sich die Sicherheitslage in Paktia verschlechtert. Die Taliban haben ihre Angriffe verstärkt und mehrere lokale Verbindungsstraßen gesperrt (PAJ 1.10.2020). Jedoch ist die Provinz nicht stark umkämpft; es kommt zu kleinmaßstäbigen Angriffen und die Taliban versuchen nicht, städtische Gebiete zu erobern sondern konsolidieren ihre Herrschaft in bereits zuvor kontrollierten Gebieten (WP 10.10.2020). Nach Schätzungen des Long War Journal befinden sich die Distrikte Jani Khel und Zurmat mit Stand Mai 2021 unter Talibankontrolle, während Ahmadaba, Dand Patan, Jaji, Jani Khel, Laja Ahmad Khel und Sayyid Karam umkämpft sind (LWJ o.D.).

In der Provinz Paktia hat das Haqqani-Netzwerk eine starke Präsenz (LWJ 23.6.2019; vgl. TSG 24.5.2020, AnA 29.5.2020), der Distrikt Dand-e-Pathan gilt als Hochburg der Haqqanis (AnA 29.5.2020). Al-Qaida ist in ländlichen Gebieten der Provinz, unter anderem im Distrikt Jaji, präsent (ST 16.7.2020; vgl. LWJ 23.6.2019, CT 22.10.2019). Ebenfalls eine kleine Präsenz in der Provinz haben Jaish-e-Mohammad (JeM) (EFSAS 10.4.2020; vgl. BW 25.6.2020). Der Islamische Staat (ISKP) versuchte im ersten Halbjahr 2019 erfolglos, die Provinzen Paktia und Logar einzunehmen (UNSC 31.7.2019).

Die Spezialeinheit Khost Protection Force (KPF) ist für die Zentralregierung in Paktia tätig (AAN

17.8.2019). Die KPF wird vom US-amerikanischen Nachrichtendienst CIA unterstützt und ist gegenüber der Provinzregierung nicht rechenschaftspflichtig. Der KPF werden Menschenrechtsverletzungen wie außergerichtliche Tötungen, Folter und willkürliche Verhaftungen vorgeworfen (AAN 21.1.2019; vgl. TRT 20.11.2019, WOZ 7.11.2019, TRT 8.5.2019).

Auf Regierungsseite befindet sich Paktia im Verantwortungsbereich des 203. Afghan National Army (ANA) Corps (USDOD 1.7.2020; vgl. WP 10.10.2020), das der Task Force Southeast angehört, die von US-Truppen geleitet wird (USDOD 1.7.2020). Im Zusammenhang mit dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban wurde die US-Militärbasis bei Gardez im März 2020 geräumt (WP 10.10.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 206 zivile Opfer (62 Tote und 144 Verletzte) in der Provinz

Paktia. Dies entspricht einem Rückgang von 6% gegenüber 2019. Die Hauptursachen für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate), gefolgt von gezielten Tötungen und Bodenkämpfe (UNAMA 2.2021a).

Im März 2021 wurde in der Stadt Gardez der lokale Staatsanwalt durch einen bewaffneten terroristischen Angriff getötet (BAMF 15.3.2021; vgl. AnA 12.3.2021).

In der Provinz kommt es zu Sicherheitsoperationen (PAJ 11.2.2020; PAJ 30.1.2020; BN 25.8.2019) und Luftschlägen durch afghanische und ausländische Sicherheitskräfte (BN 10.10.2020; Qantara 5.6.2020; PAJ 12.11.2019). Bewaffnete Zusammenstöße zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften finden statt (Garda 2.11.2020; AnA 29.5.2020; XI 16.5.2020).

Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).

Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.3.2019).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 12.5.2021). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 12.5.2021).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert (AA 16.7.2020; vgl. FH 4.3.2020) und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert (AA 16.7.2020). Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 30.3.2021). Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (FH 4.3.2020; vgl. WP 21.3.2018).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016). Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.3.2018). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an (USDOS 12.5.2021).

Während des gesamten Jahres 2020 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Am 6.3.2021 griffen Bewaffnete eine Zeremonie in Kabul an, an der hauptsächlich schiitische Hazara teilnahmen, und töteten 32 Personen. Am 24.10.2021 tötete ein Selbstmordattentäter in einem Bildungszentrum in einem Hazara-Viertel von Kabul 40 Personen und verwundete 72 weitere. Der ISKP bekannte sich dazu. Viele der Opfer waren zwischen 15 und 26 Jahre alt (USDOS 30.3.2021). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte (USDOS 12.5.2021). Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (MEI 10.2018; vgl. WP 21.3.2018). Im Mai 2021 explodierte eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen, getötet und mehr als 100 verletzt wurden (AJ 9.5.2021; vgl. RFE/RL 9.5.2021, BBC 9.5.2021, NYT 9.5.2021, TN 8.5.2021).

In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (BI 29.9.2017). NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (USDOS 30.3.2021).

Frauen

Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders (STDOK 13.6.2019; vgl. STDOK 25.6.2020).

Auch im Jahr 2020 wurden Frauen durch den bewaffneten Konflikt in vielfältiger Weise geschädigt, unter anderem durch Tod, Verletzungen und sexuelle Gewalt. Frauen trugen auch die Hauptlast der breiteren Auswirkungen des bewaffneten Konflikts, die sich negativ auf die Wahrnehmung einer breiten Palette von Menschenrechten auswirkten, einschließlich der Bewegungsfreiheit und des Zugangs zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Justiz sowie des Rechts, nicht aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung diskriminiert zu werden. Frauen waren auch im Jahr 2020 konfliktbedingter sexueller Gewalt ausgesetzt. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die gemeldeten Zahlen das wahre Ausmaß der konfliktbedingten sexuellen Gewalt in Afghanistan widerspiegeln. Tief konservative Geschlechternormen, Stigmatisierung und ein Mangel an speziell auf Opfer ausgerichteten Diensten tragen dazu bei, dass wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer gibt (UNAMA 2.2021a).

Das afghanische Frauenministerium dokumentierte innerhalb eines Jahres (November 2018 - November 2019) 6.449 Fälle von Gewalt und Missbrauch gegen Frauen. Der Großteil dieser Fälle wurde in den Provinzen Kabul, Herat, Kandahar und Balkh registriert. Dem Frauenministerium zufolge wurden rund 2.886 Fälle an Ermittlungsbehörden und Gerichte weitergeleitet, 456 Frauen bekamen Anwälte zugewiesen und 682 Fälle wurden durch Mediation zwischen den Parteien gelöst. Außerdem wurden 2.425 Fälle an Organisationen weitergeleitet, die sich für Frauenrechte einsetzen (STDOK 25.6.2020; vgl. RFE/RL 25.11.2019). Im Vergleich dazu registrierte die AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für den Untersuchungsraum 2019 4.693 Vorfälle und für 2018 4.329 Vorfälle (AIHCR 23.3.2020; vgl. STDOK 25.6.2020). Ein hohes Maß an Gewalt gegen Frauen ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, wie z.B. die Sensibilisierung der Frauen für ihre Menschenrechte und die Reaktion auf häusliche Gewalt, ein geringes öffentliches Bewusstsein für die Rechte der Frauen, eine schwache Rechtsstaatlichkeit und die Ausbreitung von Unsicherheit in verschiedenen Teilen des Landes (AIHRC 23.3.2020). Die afghanische Regierung versäumt es weiterhin, hochrangige Beamte, die für sexuelle Übergriffe verantwortlich sind, strafrechtlich zu verfolgen (HRW 13.1.2021).

Einigen Schätzungen zufolge haben in den letzten sechs Jahren mindestens 900 afghanische Journalistinnen ihre Arbeit aufgegeben, weil sie unter Druck gesetzt wurden, hauptsächlich aus Sicherheitsgründen. Viele haben das Land in den letzten Jahren aufgrund von Sicherheitsbedenken, einschließlich gezielter Tötungen, verlassen (IWPR 8.3.2021). Das CPAWJ (Zentrum zum Schutz afghanischer Journalistinnen) hat in den vergangenen zwölf Monaten [Anm.: März 2020 - März 2021] mehr als 100 Fälle von Aggression gegen Journalistinnen registriert - darunter Beleidigungen, körperliche Angriffe, Morddrohungen und Morde. Von den 21 Fällen, die von den betroffenen Frauen an das Zentrum verwiesen wurden, wurden zehn vom Innenministerium bewertet, fünf wurden von der Polizei untersucht und vier der Frauen wurden in Zufluchtsorten untergebracht (RSF 11.3.2021; vgl. CPAWJ 7.3.2021).

In vielen Fällen haben Aufständische Frauen beschuldigt, durch die Übernahme einer öffentlichen Rolle gegen gesellschaftliche Normen zu verstoßen. Es ist oft nicht klar, ob die ISKP, die Taliban oder andere Gruppen für die Drohungen und Angriffe verantwortlich sind (HRW 16.3.2021).

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 16.7.2020).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Die Überwachung und Berichterstattung über sexuelle Gewalt in Afghanistan wird durch chronische Instabilität, strukturelle Geschlechterungleichheit und ein Klima der Straflosigkeit behindert, mit minimalem Zugang zu Hilfsleistungen für Opfer. Die Hilfsleistungen werden durch pandemiebedingte Bewegungseinschränkungen weiter eingeschränkt, und mindestens zwei multisektorale Hilfszentren haben nach Drohungen der Taliban im Jahr 2020 ihre Arbeit eingestellt (UNSC 30.3.2021). Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist, unabhängig von der Ethnie, weit verbreitet und kaum dokumentiert (AA 16.7.2020; vgl. AI 30.1.2020). Von den im Jahre 2019 4.693 durch AIHRC dokumentierten Fällen von Gewalt gegen Frauen waren 194 (4,1%) sexueller Gewalt zuzuschreiben (AIHRC 23.3.2020). Akte konfliktbezogener sexueller Gewalt werden Mitgliedern der Taliban zugeschrieben, aber auch Mitglieder der afghanischen Nationalarmee, der afghanischen Nationalpolizei und der afghanischen Lokalpolizei sind darin verwickelt (UNSC 30.3.2021).

Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 16.7.2020). Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (STDOK 3.7.2014) und kommen auch weiterhin vor (USDOS 30.3.2021). Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden (UNAMA/OCHR 5.2018).

Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit verbreitet (AA 16.7.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, MBZ 7.3.2019, 20 minutes 28.11.2018), wobei die Datenlage hierzu sehr schlecht ist (AA 16.7.2020). Als Mindestalter für Vermählungen definiert das Zivilgesetz Afghanistans für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre (USDOS 30.3.2021; vgl. AA 16.7.2020). Dem Gesetz zufolge muss vor der Eheschließung nachgewiesen werden, dass die Braut das gesetzliche Alter für die Eheschließung erreicht hat, jedoch besitzt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Geburtsurkunden (USDOS 30.3.2021). In der Praxis wird das Alter, in dem Buben und Mädchen heiraten können, auf der Grundlage der Pubertät festgelegt. Aufgrund der fehlenden Registrierung von Ehen wird die Ehe von Kindern kaum überwacht (MBZ 7.3.2019). Auch haben Mädchen, die nicht zur Schule gehen, ein erhöhtes Risiko, verheiratet zu werden (MBZ 7.3.2019). Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; jedoch ist die Durchsetzung dieses Gesetzes limitiert (USDOS 30.3.2021). Nach Untersuchungen von UNICEF und dem afghanischen Ministerium für Arbeit und Soziales wurde in den letzten fünf Jahren die Anzahl der Kinderehen um 10% reduziert. Die Zahl ist jedoch weiterhin hoch: In 42% der Haushalte ist mindestens eine Person unter 18 Jahren verheiratet (MBZ 7.3.2019).

Mahr ist eine Art Morgengabe, deren Ursprung sich im Koran findet. Es handelt sich um einen Geldbetrag, den der Bräutigam der Braut geben muss. Dies ist in Afghanistan weit verbreitet (MoLSAMD/UNICEF 7.2018), insbesondere im ländlichen Raum (WAW o.D.) und sollte nicht mit dem Brautpreis (Walwar auf Pashto und Toyana/Sherbaha auf Dari) verwechselt werden. Der Brautpreis ist eine Zahlung, die an den Vater der Braut ergeht, während Mahr ein finanzielles Versprechen des Bräutigams an seine Frau ist. Dem islamischem Recht (Sharia) zufolge haben Frauen, die einen Ehevertrag abschließen, einen Anspruch auf Mahr, damit sie und ihre Kinder im Falle einer Scheidung oder Tod des Ehegatten (finanziell) abgesichert sind. Der hanafitischen Rechtsprechung zufolge darf eine Frau die Mahr nach eigenem Ermessen nutzen - das heißt, sie kann diese auch zurückgeben oder mit ihrem Mann oder ihrer Großfamilie teilen. Befragungen in Gemeinschaften zufolge wird die Mahr fast nie so umgesetzt, wie dies in der islamischen Rechtsprechung vorgeschrieben ist - selbst dann, wenn die betroffenen Personen das Heiratsgesetz, in dem die Mahr festgehalten ist, kennen (AAN 25.10.2016). Entgegen dem islamischen Recht erhält in der Regel nicht die Braut, sondern ihre Familie das Geld. Familien mit geringem Einkommen neigen daher dazu, ihre Töchter bereits in jungen Jahren zu verheiraten, da die Morgengabe für jüngere Mädchen in der Regel höher ist (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Oft sind die Männer deutlich älter und haben schon andere Ehefrauen (WAW o.D.).

Die Praktiken des Badal (Vergeltung) und Ba‘ad/Swara (die Praxis der Streitschlichtung, bei der die Familie des Täters ein Mädchen an die Familie des Opfers verkauft) (STDOK 7.2016), sind stark von den wirtschaftlichen Bedingungen getrieben und tief mit den sozialen Traditionen verwurzelt (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Das Gesetz kriminalisiert Zwangs-, Minderjährigen- und Ba'ad-Ehen sowie die Einmischung in das Recht der Frau, ihren Ehepartner zu wählen. NGOs berichten von Fällen, in denen Ba'ad nach wie vor praktiziert wird, oft in abgelegenen Provinzen. Die Praxis des Brautaustauschs zwischen Familien wurde nicht kriminalisiert und bleibt weit verbreitet (USDOS 30.3.2021; vgl. WAW o.D.). Durch einen Brauttausch im Sinne von Badal sollen hohe Kosten für beide Familien niedrig gehalten werden (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Wenn die Familie oder eine Jirga diese Entscheidung trifft, müssen sich die betroffenen Frauen oder Mädchen fügen (EASO 12.2017).

Reisefreiheit von Frauen

Diesbezüglich bewegen sich die Aussagen der Quellen innerhalb einer gewissen Bandbreite. Die Reisefreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ist durch die sozialen Normen definitiv eingeschränkt (USDOS 30.3.2021; vgl. STDOK 25.6.2020, STDOK 4.2018, MBZ 7.3.2019, STDOK 13.6.2019). Eine Quelle gibt an, dass Frauen sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen können. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 25.6.2020, MBZ 7.3.2019, STDOK 13.6.2019). In der Stadt Mazar-e Sharif wird das Tragen des Hijab nicht so streng gehandhabt, wie in den umliegenden Gegenden oder in anderen Provinzen (STDOK 4.2018). Generell hängt das Ausmaß an Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit der Frauen unter anderem vom Wohnort, der Einstellung ihrer Familien, der Sicherheitslage und dem Bildungsgrad ab (STDOK 21.7.2020). In ländlichen Gebieten und Gebieten unter Kontrolle von regierungsfeindlichen Gruppierungen werden Frauen, die soziale Normen missachten, beispielsweise durch das Nicht-Tragen eines Kopftuches oder einer Burka, bedroht und diskriminiert (MBZ 7.3.2019).

Nur wenige Frauen in Afghanistan fahren Auto. In Städten und Dörfern werden Frauen hinter dem Steuer angefeindet, etwa von Gemeindevorständen, Talibansympathisanten oder gar Familienmitgliedern. Die Hauptstadt Kabul ist landesweit einer der wenigen Orte, wo autofahrende Frauen zu sehen sind (STDOK 4.2018; vgl. STDOK 13.6.2019). Es gibt in Mazar-e Sharif eine Fahrschule für Frauen. In rund drei Jahren haben dort ca. 500 Frauen einen Führerschein gemacht, was von der DoWA (Departments of Women’s Affairs) unterstützt wird (STDOK 21.7.2020).

Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen

2013 verabschiedete das afghanische Parlament das Gesetz über die Rechte und Privilegien von Menschen mit Behinderungen, das die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen verbietet und festlegt, dass der Staat die aktive Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen der Gesellschaft fördern soll (HRW 28.4.2020). Die Verfassung verpflichtet den Staat, Menschen mit Behinderungen zu unterstützen und ihre Rechte zu schützen, einschließlich des Rechts auf Gesundheitsversorgung und finanziellen Schutz. Sie verpflichtet den Staat auch, Maßnahmen zur Wiedereingliederung und zur aktiven Teilnahme von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft zu ergreifen. Das Gesetz sieht die Gleichberechtigung und aktive Teilnahme dieser Personen an der Gesellschaft vor (USDOS 30.3.2021). Es legt auch fest, dass 3% der Arbeitsplätze in der Regierung und im privaten Sektor für Menschen mit Behinderungen reserviert werden sollen - eine Bestimmung, die selten durchgesetzt wird (USDOS 30.3.2021; vgl. HRW 28.4.2020, AF 2.11.2016, TN 14.5.2019), während das Gesetz über die Rechte und Privilegien von Menschen mit Behinderungen an mangelnder Umsetzung leidet (USDOS 30.3.2021; vgl. AIHCR 2019, TN 14.5.2019). NGOs, die im Bereich der Behindertenrechte arbeiten, haben das "Law on Rights and Privileges of Persons with Disabilities" dafür kritisiert, dass es Menschen, die unabhängig vom gewaltsamen Konflikt eine Behinderung erworben haben, keine Unterstützung bietet (HRW 28.4.2020; vgl. LOMM 30.10.2017). Das Gesetz klassifiziert drei Kategorien von Menschen mit Behinderungen, die Anspruch auf finanzielle Unterstützung haben: Militärbeamte, Staatsbedienstete und Zivilisten, die eine Behinderung infolge eines konfliktbezogenen Ereignisses erworben haben. Diejenigen, bei denen eine "permanente Vollinvalidität" oder eine "permanente Teilinvalidität" festgestellt wird, haben Anspruch auf finanzielle Unterstützung. Menschen, die mit einer Behinderung geboren wurden oder diese aus anderen als konfliktbedingten Gründen erworben haben, haben keinen Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch die Regierung (HRW 28.4.2020).

Laut Human Rights Watch hat Afghanistan nach vier Jahrzehnten Krieg einen der weltweit höchsten Prozentsätze bei Menschen mit Behinderungen (UNOCHA 19.12.2020; vgl. HRW 28.4.2020), wobei mehr als eine Million der afghanischen Bürger und Bürgerinnen Amputationen, Seh- oder Hörprobleme ausweist (HRW 28.4.2020; vgl. EASO 8.2020b). Die häufigsten Ursachen für Behinderungen sind konfliktbedingte Verletzungen, u. a. durch Landminen und explosive Kampfmittelrückstände, Traumata und psychische Belastungen sowie Zerebralparese und Polio, wobei Sehbehinderungen häufig sind. Schlechter Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung, insbesondere im ländlichen Afghanistan, ist eine der Hauptursachen für vermeidbare Behinderungen (HRW 28.4.2020).

Menschen mit Behinderungen sehen sich mit Barrieren konfrontiert, wie z.B. dem eingeschränkten Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, Unzugänglichkeit von Regierungsgebäuden, Schwierigkeiten beim Erhalt eines staatlichen Ausweises der für viele staatliche Dienstleistungen und Wahlen erforderlich ist, dem Mangel an wirtschaftlichen Möglichkeiten und der sozialen Ausgrenzung aufgrund von Stigmatisierung (USDOS 30.3.2021).

Eine 2019 von der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans (AIHRC) durchgeführte Studie zu den menschenrechtlichen Herausforderungen für Menschen mit Behinderungen ergab, dass 72% der befragten Menschen mit einer Behinderung arbeitslos waren, nur 53% soziale Unterstützung erhielten, 80% keine formale Ausbildung hatten und die Hälfte mit physischen Barrieren beim Zugang zu Gesundheitsdiensten konfrontiert war (AIHRC 2019; vgl. UNOCHA 19.12.2020). Zwar benötigen nicht alle Menschen mit einer schweren Behinderung humanitäre Hilfe, doch wenn dies der Fall ist, sind die Menschen dieser Kategorie mit zusätzlichen Barrieren beim Zugang zu Unterstützung konfrontiert, insbesondere Frauen und Mädchen (UNOCHA 19.12.2020; vgl. HRW 28.4.2020). Menschen mit Behinderungen sind in der Gesellschaft mit höheren Risiken und Herausforderungen konfrontiert, die in Konflikt- und Notsituationen, in denen die Ressourcen begrenzt sind und einem starken Wettbewerb unterliegen, noch verschärft werden (UNOCHA 19.12.2020). In Bezug auf das Recht auf Bildung gibt es einen unzureichenden Zugang zu gleichen Chancen wie andere Bürger, einschließlich des Mangels an Bildungseinrichtungen und Ressourcen, die für die Art der Behinderung geeignet sind, während die größten Herausforderungen in Bezug auf die Gesundheit und den Zugang zu Gesundheitseinrichtungen lange Entfernungen von zu Hause zu Gesundheitszentren und ein unzureichender Transport sowie das Fehlen von behindertengerechten Maßnahmen innerhalb von Gesundheitszentren wie Rampen sind (AIHRC 2019; vgl. EASO 8.2020b, TN 14.5.2019). Laut einer Umfrage der Asia Foundation aus dem Jahr 2019 erhielten etwa 40,4% der Erwachsenen mit schweren Behinderungen keine stationäre Gesundheitsversorgung, wenn sie diese benötigten (AF 13.5.2020; vgl. EASO 8.2020b). Mangelnde Sicherheit blieb ein Problem für Behindertenprogramme. Die Unsicherheit in abgelegenen Gebieten, in denen eine unverhältnismäßig große Anzahl von Menschen mit Behinderungen lebt, verhindert in einigen Fällen die Bereitstellung von Hilfe. Die meisten Gebäude bleiben für Menschen mit Behinderungen unzugänglich, was viele daran hindert, Bildung, Gesundheitsversorgung und andere Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen (USDOS 30.3.2021).

Menschen mit schweren Behinderungen sind im COVID-19-Kontext besonders gefährdet, da Abriegelungsmaßnahmen und Bewegungseinschränkungen ihre eingeschränkte Mobilität, Transportmöglichkeiten sowie den Zugang zu Unterstützungsdiensten und einkommensschaffenden Möglichkeiten weiter einschränken (UNOCHA 19.12.2020).

Es gibt zwar keine nationale NGO, die Menschen mit Behinderungen in Afghanistan vertritt, aber eine Reihe von afghanischen NGOs bieten Programme zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen an, die von rehabilitativen Diensten über Berufsausbildung bis hin zu Lobbyarbeit reichen. Dazu gehören die Accessibility Organization for Afghan Disabled, die Afghan Landmine Survivors Organization, die Development and Ability Organization, die Afghanistan Association of the Blind und die Afghan National Association of the Deaf. Zu den wichtigsten internationalen Organisationen, die Afghanen mit Behinderungen unterstützen, gehören das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, die Afghanische Rothalbmondgesellschaft, das Schwedische Komitee für Afghanistan, Humanity and Inclusion (das als Handicap International in Afghanistan tätig ist) und Serve Afghanistan (HRW 28.4.2020). Obwohl diese Maßnahmen von entscheidender Bedeutung sind, ist die Unterstützung nicht im ganzen Land verbreitet, sodass die meisten Menschen auf ihre Familie und Freunde angewiesen sind, sofern dies möglich ist (AF 2.11.2016).

In der afghanischen Gesellschaft gelten Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen als vulnerable. Sie sind Teil der Familie und werden gepflegt - genau wie Kranke und ältere Menschen. Körperlich und geistig behinderte Menschen und Missbrauchsopfer brauchen daher eine starke familiäre und gesellschaftliche Unterstützung (STDOK 4.2018; vgl. AF 2.11.2016, TN 14.5.2019, BAMF 2016), um Stigmatisierung und Ausgrenzung aus der Gesellschaft (AF 2.11.2016) sowie Demütigung, Diskriminierung und dem Entzug gleichberechtigter sozialer Beziehungen zu begegnen (AIHRC 2019). Denn trotz ihrer Anzahl gehören Menschen mit Behinderungen und Kinder mit besonderen Bedürfnissen weiterhin zu den am stärksten benachteiligten und stigmatisierten Gruppen in Afghanistan und Diskriminierung ist die bedeutendste und schädlichste Barriere in Afghanistan für Menschen mit Behinderungen (TN 14.5.2019).

Medizinische Versorgung

Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück (AA 16.7.2020). In einem Bericht aus dem Jahr 2018 kommt die Weltbank zu dem Schluss, dass sich die Gesundheitsversorgung in Afghanistan im Zeitraum 2004-2010 deutlich verbessert hat, während sich die Verbesserungen im Zeitraum 2011-2016 langsamer fortsetzten (EASO 8.2020b; vgl. UKHO 12.2020).

Im Jahr 2003 richtete das Gesundheitsministerium ein standardisiertes Basispaket an Gesundheitsdiensten (Basic Package of Healthcare Services, BPHS) ein, um die medizinische Grundversorgung und den gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsdiensten für die gesamte Bevölkerung Afghanistans sicherzustellen. Die Umsetzung des BPHS wurde an Nichtregierungsorganisationen (NGO) vergeben, die in allen Provinzen Afghanistans - mit Ausnahme von drei Provinzen, in denen das MoPH das BPHS direkt umsetzte - medizinisches Personal ausbildeten und grundlegende Gesundheitsdienste anboten. Im Jahr 2005 erweiterte das MoPH das Programm durch die Einführung des Essential Package of Hospital Services (EPHS). Das EPHS ist ein standardisiertes Paket von Krankenhausleistungen für jede Ebene von Krankenhäusern im öffentlichen Sektor (MedCOI 5.2019).

Bislang werden BPHS und EPHS vom MoPH reguliert und an 40 nationale und internationale NGOs in 31 Provinzen ausgelagert. In den verbleibenden drei Provinzen Afghanistans stellt das MoPH das BPHS über eine Contracting-In-Initiative mit dem Titel "Strengthening Mechanism" direkt bereit (MedCOI 5.2019; vgl. GaH 2016).

Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen (AA 16.7.2020). Trotz der im Entwicklungsländervergleich relativ hohen Ausgaben für Gesundheit ist die Gesundheitsversorgung im ganzen Land sowohl in den von den Taliban als auch in den von der Regierung beeinflussten Gebieten generell schlecht. Zum Beispiel gibt es in Afghanistan 2,3 Ärzte und fünf Krankenschwestern und Hebammen pro 10.000 Menschen, verglichen mit einem weltweiten Durchschnitt von 13 bzw. 20 (USIP 4.2020).

Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten (UNOCHA 19.12.2020; vgl. EASO 8.2020b, Schwörer 30.11.2020). Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Millionen Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren (UNOCHA 19.12.2020).

Die Lebenserwartung ist in Afghanistan von 50 Jahren im Jahr 1990 auf 64 im Jahr 2018 gestiegen (WB o.D.a.; vgl. WHO 4.2018). Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt (WHO 12.2018). Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit kam es zu erheblichen Verbesserungen (AA 16.7.2020). Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt (RA KBL 20.10.2020)

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan wird nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden (AA 16.7.2020). Durch dieses Vertragssystem wird die primäre, sekundäre und tertiäre Gesundheitsversorgung bereitgestellt. Primärversorgungsleistungen auf Gemeinde- oder Dorfebene, Sekundärversorgungsleistungen auf Distriktebene und Tertiärversorgungsleistungen auf Provinz- und nationaler Ebene (MedCOI 5.2019). Es mangelt jedoch an Investitionen in die medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während es in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken gibt, ist es für viele Afghanen schwierig, in ländlichen Gebieten eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Nach Berichten von UNOCHA haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung (AA 16.7.2020). Laut einer Studie aus dem Jahr 2017, die den Zustand der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen untersuchte, wiesen viele Gesundheitszentren im ganzen Land immer noch große Mängel auf, darunter bauliche und wartungsbedingte Probleme, schlechte Hygiene- und Sanitärbedingungen, wobei ein Viertel der Einrichtungen nicht über Toiletten verfügte, vier von zehn Gesundheitseinrichtungen kein Trinkwassersystem hatten und eine von fünf Einrichtungen keinen Strom hatte. Es gab nicht genügend Krankenwagen und viele Gesundheitseinrichtungen berichteten über einen Mangel an medizinischer Ausrüstung und Material (IWA 8.2017).

Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (AA 16.7.2020; vgl. WHO 8.2020).

Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen (MedCOI 5.2019). Die Kosten für Diagnose und Behandlung variieren dort sehr stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden (AA 16.7.2020), was den privaten Sektor sehr vielfältig macht mit einer uneinheitlichen Qualität der Leistungen, die oft unzureichend sind oder nicht dem Standard entsprechen (MedCOI 5.2019).

In einem MoU (Memorandum of Understanding) zwischen dem Gesundheitsministerium und drei indischen Privatunternehmen wurde am 16.6.2020 der Bau von zwei Gesundheitszentren und einer Pharmafabrik in Afghanistan im Wert von 12,5 Mio. $ vereinbart. Außerdem wurden im vergangenen Jahr Vereinbarungen über den Bau eines Gesundheitszentrums in Kabul und 53 Gesundheitszentren in den Provinzen Kandahar und Helmand unterzeichnet. Darüber hinaus hat Aga Khan Health Services (AKHS) als Teilprojekt im Rahmen des nationalen Projekts (SEHATMANDI) im Februar 2019 bis Juni 2021 das Management von Gesundheitseinrichtungen in den Provinzen Bamyan und Badakhshan auf Basis einer leistungsbezogenen Bezahlung übernommen. Im Januar 2019 erhielt das Schwedische Komitee für Afghanistan (SCA) den neuen SEHATMANDI-Vertrag zur Umsetzung der Interventionen Basic Package of Health Services (BPHS) und Essential Package of Health Services (EPHS) in der Provinz Wardak, Afghanistan bis zum 30.6.2021 (RA KBL 20.10.2020).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheitsdienste (UNAMA 2.2021; vgl. AA 16.7.2020, UNOCHA 7.3.2021, UNOCHA 19.12.2020, IKRK 17.6.2020). Trotz des erhöhten Drucks und Bedarfs an ihren Dienstleistungen werden Gesundheitseinrichtungen und -mitarbeiter weiterhin durch Angriffe sowie Einschüchterungsversuche von Konfliktparteien geschädigt, wodurch die Fähigkeit des Systems, den Bedarf zu decken, untergraben wird. Seit Beginn der Pandemie gab es direkte Angriffe auf Krankenhäuser, Entführungen von Mitarbeitern des Gesundheitswesens, Akte der Einschüchterung, Belästigung und Einmischung, Plünderungen von medizinischen Vorräten sowie indirekte Schäden durch den anhaltenden bewaffneten Konflikt (UNAMA 2.2021a; vgl. UNOCHA 19.12.2020; vgl. IKRK 17.6.2020). Das direkte Anvisieren von Gesundheitseinrichtungen und Personal führt nicht nur zu unmittelbaren Todesfällen und Verletzungen, sondern zwingt viele Krankenhäuser dazu, lebenswichtige medizinische Leistungen auszusetzen oder ganz zu schließen (MSF 3.2020; vgl. UNOCHA 7.3.2021).

Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen bzw. Beschränkungen des Zugang zu Gesundheitseinrichtungen setzen sich im Jahr 2021 fort (UNOCHA 7.3.2021). UNAMA verifizierte zwischen 1.1.2020 und 31.12.2020 90 Angriffe, welche die Gesundhietsversorgung beeinträchtigten. Ein Anstieg um 20% im Vergleich zu 2019. Diese Vorfälle umfassen sowohl direkte Angriffe oder Drohungen gegen Gesundheitseinrichtungen und Personal, als auch wahllose Angriffe, die zu zufälligen Schäden an Gesundheitseinrichtungen und geschütztem Personal führen. Ein Trend aus dem Jahr 2019 setzte sich 2020 fort, indem die Taliban eine Reihe von Gesundheitszentren bedrohten und medizinisches Personal entführten, um sie zu verschiedenen Handlungen zu zwingen, wie z. B. sich mit ihnen zu koordinieren, ihre Kämpfer medizinisch zu versorgen, Medikamente und Einrichtungen zu übergeben, Sondersteuern zu zahlen oder ihre Dienste an einen anderen Ort zu verlagern. Die Taliban bedrohten das Jahr 2020 hindurch Gesundheitszentren. So erzwangen die Taliban beispielsweise am 11.11.2020 in der Provinz Badakhshan die Schließung von 17 Gesundheitszentren in sechs Distrikten (UNAMA 2.2021a). In der Provinz Samangan sind seit dem 4.11.2020 22 Gesundheitseinrichtungen geschlossen geblieben, was die Bereitstellung von Gesundheits- und Ernährungsdiensten in der Provinz behindert. (UNOCHA 7.3.2021).

COVID-19

Die COVID-19-Pandemie hat sich negativ auf die Bereitstellung und Nutzung grundlegender Gesundheitsdienste in Afghanistan ausgewirkt, und zwar aufgrund von COVID-19-bedingten Bewegungseinschränkungen, dem Mangel an medizinischem Material und persönlicher Schutzausrüstung sowie der Abneigung der Gemeinschaft, Gesundheitseinrichtungen aufzusuchen. Die Zahl der Krankenhauseinweisungen und Überweisungen ging von April bis Juni 2020 im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2019 um fast 25 Prozent zurück, während die Zahl der chirurgischen Eingriffe laut WHO um etwa 33 Prozent sank. Darüber hinaus ging die Rate der Routineimpfungen für Frauen und Kinder unter zwei Jahren im Laufe des Jahres zurück. Infolgedessen geht die WHO davon aus, dass die Sterblichkeit durch behandelbare und durch Impfung vermeidbare Gesundheitszustände im Jahr 2021 ansteigen könnte (USAID 12.1.2021).

Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten mit Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan seit März 2020 Anzeichen und Symptome von COVID-19 (IOM 23.9.2020). Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021).

Einige der Regional- und Provinzkrankenhäuser in den Großstädten wurden im Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. Menschen mit Anzeichen von COVID-19 werden getestet und die schwer Erkrankten im Krankenhaus in Behandlung genommen. Die Kapazität solcher Krankenhäuser ist jedoch aufgrund fehlender Ausrüstung begrenzt. In den anderen Provinzen schicken die Gesundheitszentren, die nicht über entsprechende Einrichtungen verfügen, die Testproben in die Hauptstadt und geben die Ergebnisse nach sechs bis zehn Tagen bekannt. Im Großteil der Krankenhäuser werden nur grundlegende Anweisungen und Maßnahmen empfohlen, es gibt keine zwingenden Vorschriften, und selbst die Infizierten erfahren nur grundlegende und normale Behandlung (RA KBL 20.10.2020).

Zugang zur medizinischen Versorgung

Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) waren 2020 bis zu drei Millionen Menschen durch die Schließung von Gesundheitseinrichtungen durch Konfliktparteien, vom Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdienstleistungen abgeschnitten, oft in den am stärksten gefährdeten, konfliktbetroffenen Gebieten. Dies auch im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie in Afghanistan, wo die in konfliktbetroffenen Gebieten lebende Bevölkerung eine geringere Wahrscheinlichkeit hatte, Tests und kritische, lebensrettende medizinische Behandlungen zu erhalten. Es ist damit zu rechnen, dass der Verlust von medizinischem Personal und die beschädigte medizinische Infrastruktur lang anhaltende Folgen für das Gesundheitssystem haben werden (UNAMA 2.2021a).

Zugang zur Behandlungsmöglichkeiten

Eine begrenzte Anzahl von staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenlose medizinische Versorgung an. Voraussetzung für die kostenlose Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft durch einen Personalausweis oder eine Tazkira. Alle Bürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten (STDOK 4.2018). Allerdings gibt es manchmal einen Mangel an Medikamenten. Daher werden die Patienten an private Apotheken verwiesen, um verschiedene Medikamente selbst zu kaufen (IOM 2018), oder sie werden gebeten, für medizinische Leistungen, Labortests und stationäre Behandlungen zu zahlen. Medikamente können auf jedem afghanischen Markt gekauft werden, und die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produkts. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern unterscheiden sich von den lokalen Marktpreisen. Private Krankenhäuser befinden sich meist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar (STDOK 4.2018; vgl. AA 16.7.2020) und die medizinische Ausstattung ist oft veraltet oder nicht vorhanden. Es wird von schlechten hygienischen Bedingungen in öffentlichen Krankenhäusern berichtet (MedoCOI 5.2019) und von Ärzten, die nur wenige Stunden im Krankenhaus anwesend sind, weil sie ihre eigenen privaten Praxen haben (MedCOI 5.2019). Nach Daten aus dem Jahr 2017 waren 76 % der in Afghanistan getätigten Gesundheitsausgaben sogenannte "out-of-pocket"-Zahlungen der Patienten (WB n.d.b). Die Qualität und Kosten der Kliniken variiert stark, es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf (AA 16.7.2020).

In den großen Städten und auf Provinzebene ist die medizinische Versorgung gewährleistet, aber auf Distrikt- und Dorfebene sind die Einrichtungen oft weniger gut ausgestattet und es kann schwierig sein, Spezialisten zu finden. In vielen Fällen arbeiten Krankenschwestern anstelle von Ärzten, um die Grundversorgung zu gewährleisten und komplizierte Fälle an Krankenhäuser in der Provinz zu überweisen. Operationen können in der Regel nur auf Provinzebene oder höher durchgeführt werden; auf Distriktebene sind nur Erste Hilfe und kleinere Operationen möglich. Dies gilt nicht für das ganze Land, allerdings können Distrikte mit guter Sicherheitslage meist mehr und bessere Leistungen anbieten als in unsicheren Gebieten (IOM 2018; vgl. BDA 18.12.2018).

Die Haupthindernisse für den Zugang zur Gesundheitsversorgung in Afghanistan sind demnach die hohen Behandlungskosten, der Mangel an Ärztinnen, die großen Entfernungen zu den Gesundheitseinrichtungen und eine unzureichende Anzahl an medizinischem Personal in den ländlichen Gebieten, Korruption und Abwesenheit des Gesundheitspersonals, sowie Sicherheitsgründe (MedCOI 5.2019; vgl. EASO).

In privaten Krankenhäusern ist die Ausstattung besser, es gibt mehr medizinisches Personal und die Ärzte sind erfahrener als in öffentlichen Einrichtungen, wobei das Hauptproblem die mangelnde Zugänglichkeit für den armen Teil der Bevölkerung ist (MedCOI 5.2019).

Viele Staatsangehörige - die es sich leisten können - gehen zur medizinischen Behandlung ins Ausland nach Pakistan oder in die Türkei - auch für kleinere Eingriffe (AJ 25.5.2019; vgl. Geo TV o.J., MedCOI 5.2019, BDA 18.12.2018). In Pakistan zum Beispiel ist dies zumindest für die Mittelschicht vergleichsweise einfach und erschwinglich (BDA 18.12.2018).

Zugang zu Medikamenten

Sowohl die Quantität als auch die Qualität von essentiellen Medikamenten sind eine große Herausforderung für das afghanische Gesundheitssystem. Da es keine nationale Regulierungsbehörde gibt, sind Medikamente, Impfstoffe, biologische Mittel, Labormittel und medizinische Geräte nicht ordnungsgemäß reguliert, was die Gesetzgebung und die Durchsetzung von Gesetzen fast unmöglich macht. Die Funktion der Regulierungsbehörde ist auf verschiedene Regierungsstellen aufgeteilt, darunter die Generaldirektion für pharmazeutische Angelegenheiten, das Labor für Qualitätskontrolle und die Abteilung für Gesundheitsgesetzgebung. Traditionelle Medizin ist weit verbreitet, da sie weniger teuer und leichter zugänglich ist (WHO 2016).

Im Jahr 2017 startete das MoPH eine 12-wöchige Kampagne gegen gefälschte und minderwertige Medizin. Die Lizenzen von mehr als 900 lokalen und ausländischen pharmazeutischen Importunternehmen wurden ausgesetzt, während 100 Tonnen abgelaufene, gefälschte und minderwertige Medikamente in Apotheken beschlagnahmt wurden. Die Sicherheitslage beeinträchtigt die Lieferung und Verfügbarkeit von lebensrettenden Medikamenten zusätzlich durch die Unzugänglichkeit der Straßen (MedCOI 5.2019).

Die Essential Medicines List of Afghanistan (EML) (MoPH 2014) enthält Medikamente, die für den Einsatz im BPHS und EPHS empfohlen werden. Laut einem UN-Bericht aus dem Jahr 2017 kann es jedoch aufgrund der unsicheren und unzugänglichen öffentlichen Straßen zu Engpässen bei Medikamenten und medizinischen Geräten kommen. Auf allen Ebenen des Gesundheitssystems kann es zu Engpässen bei lebensrettenden Medikamenten kommen, selbst in Überweisungskrankenhäusern (MedCOI 5.2019).

Die Patienten müssen für alle Medikamente bezahlen, außer für Medikamente in der Primärversorgung, die in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen kostenlos sind. Für bestimmte Arten von Medikamenten ist ein Rezept erforderlich. Obwohl es in Afghanistan viele Apotheken gibt, sind Medikamente nur in städtischen Gebieten leicht zugänglich, da es dort viele private Apotheken gibt. In ländlichen Gebieten ist dies weniger der Fall (MedCOI 5.2019). Auf den afghanischen Märkten sind mittlerweile alle Arten von Medikamenten erhältlich, aber die Kosten variieren je nach Qualität, Firmennamen und Hersteller. Die Qualität dieser Medikamente ist oft gering; die Medikamente sind abgelaufen oder wurden unter schlechten Bedingungen transportiert (BAMF 2016).

Psychische Erkrankungen

Viele Menschen innerhalb der afghanischen Bevölkerung leiden unter verschiedenen psychischen Erkrankungen als Folge des andauernden Konflikts, Naturkatastrophen, endemischer Armut und der COVID-19-Pandemie (UNOCHA 19.12.2020). Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat mentale Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt, doch der Fortschritt ist schleppend und die Leistungen außerhalb Kabuls dürftig (STDOK 4.2018). Gemäß der "Nationalen Strategie für psychische Gesundheit 2019-2023" erhalten weniger als 10% der Bevölkerung die für die Behandlung ihrer psychischen Erkrankungen erforderlichen medizinischen Leistungen (MoPH o.D.; vgl. AOAV 1.10.2020, HRW 7.10.2019) und nur ein psychosozialer Berater steht für je 46.000 Menschen zur Verfügung (MoPH o. D.; vgl. HRW 7.10.2019). Da es kaum Anzeichen für eine Einstellung der Feindseligkeiten oder einen dauerhaften humanitären Waffenstillstand im Jahr 2021 gibt, wird geschätzt, dass bis zu 310.500 Traumafälle aufgrund des anhaltenden und eskalierenden Konflikts eine medizinische Notfallbehandlung benötigen (UNOCHA 19.12.2020).

Das Ziel der "Nationalen Strategie für psychische Gesundheit 2019-2023", die vom Ministerium für öffentliche Gesundheit (MoPH) entwickelt wurde, ist es, sich der psychischen Erkrankungen in der afghanischen Gesellschaft anzunehmen und durch diese Strategie qualitativ hochwertige psychische und psychosoziale Versorgung und Dienste für alle Bürgerinnen und Bürger bereitzustellen, wobei der Schwerpunkt auf den psychischen Gesundheitsbedürfnissen der armen, unterversorgten, benachteiligten und gefährdeten Bevölkerungsgruppen liegt. Diese Dienste sollen evidenzbasiert und gemeinwesenorientiert sein und auf allen Versorgungsebenen von qualifiziertem und motiviertem Personal erbracht sowie, dem Zeitplan nach, in allen Provinzen umgesetzt werden (MoPH o. D.; vgl. RA KBL 20.10.2020).

Der Zugang zu psychischer Gesundheitsversorgung oder psychosozialer Unterstützung bleibt für viele unerreichbar, insbesondere in ländlichen Gebieten. Obwohl psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützungsdienste (Mental Health and Psychosocial Support Services, MHPSS) in das nationale Basic Package of Health Services (BPHS) und Essential Package of Hospital Services (EPHS) integriert wurden, stehen landesweit nur 320 Krankenhausbetten im öffentlichen und privaten Sektor für Menschen mit psychischen Problemen zur Verfügung (UNOCHA 19.12.2020; vgl. WHO o.D.).

In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen oder psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden - genauso wie Kranke und Alte - gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gesellschaftliche Unterstützung sicherstellen (STDOK 4.2018; vgl. BAMF 2016). Die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Es gibt keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen (AA 16.7.2020). Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen, bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung, sind falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem (BDA 18.12.2018). Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan hoch stigmatisiert (AA 16.7.2020, vgl. BDA 18.12.2018). Die Infrastruktur für die Bedürfnisse ment

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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