Entscheidungsdatum
23.08.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W261 2242773-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX auch XXXX auch XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz, vom 16.04.2021, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird abgewiesen.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte nach Einreise als unbegleiteter Minderjähriger am 09.09.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am selben Tag fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der minderjährige Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, am Weg zur Schule sei er vor ca. zehn Monaten von den Taliban entführt worden. Sie hätten ihn in eine andere Stadt bringen wollen. Auf dem Weg dorthin habe er Schüsse gehört. Kurze Zeit später habe ihm jemand die Augenbinde abgenommen und er habe gesehen, dass es die afghanische Polizei sei, sie habe ihn gerettet. Dann sei er mit der Polizei auf die Wache gegangen. Er habe erklärt, dass die Taliban ihn entführt hätten. Dann habe ihn sein Vater abgeholt. Dieser habe gemeint, dass es in Afghanistan nicht sicher für ihn sei, und ihn deshalb nach Europa geschickt. Andere Fluchtgründe habe er nicht.
2. Mit Verfahrensanordnung vom 02.11.2020 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) nach Einholung eines gerichtsmedizinischen Gutachtens fest, dass der Beschwerdeführer spätestens am XXXX geboren sei.
3. Die Ersteinvernahme vor der belangten Behörde fand am 16.03.2021 statt. Dabei gab der minderjährige Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Verhältnissen im Wesentlichen an, er sei Paschtune und sunnitischer Muslim. Er sei in einem Dorf in der Provinz Laghman geboren und im Kindesalter mit seiner Familie in die Stadt XXXX in der Provinz Nangarhar gezogen, wo er bis zur Ausreise gelebt habe. Er habe in Afghanistan sieben Jahre lang die Schule besucht und nicht gearbeitet. Seine Eltern und zwei Schwestern würden noch in seiner Heimatstadt leben, seine Schwestern seien verheiratet. Ein Bruder lebe als Asylberechtigter in Österreich. Er habe regelmäßigen Kontakt zu seiner Familie. Auch vier Onkel väterlicherseits würden in XXXX leben. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer ein Unterstützungsschreiben vor.
Zu seinen Fluchtgründen gab der minderjährige Beschwerdeführer zusammengefasst an, er sei nach der Schule am Weg nachhause gewesen. Dann habe er gar nicht mitbekommen, wer das gewesen sei, aber er sei entführt worden. Als er seine Augen aufgemacht habe, sei er in einem dunklen Zimmer gewesen. Sie hätten seine Füße mit einer Kette gefesselt, die Hände seien frei gewesen. Es sei immer eine Person gekommen, die ihm Essen gebracht habe, er habe die Person aber nicht sehen können, weil es dunkel gewesen sei. Ca. drei bis vier Tage sei er in diesem Zimmer gewesen. Dann sei sein Gesicht bedeckt worden. Er glaube, sie hätten ihn von XXXX nach Laghman bringen wollen. Er sei in einem fahrenden Auto gewesen. Nach einer Weile habe er eine Schießerei bemerkt. Dann habe er gemerkt, dass einige Leute zu ihm gekommen seien und ihn mitgenommen hätten. Sie hätten ihm dann die Augenbinde abgenommen und er habe gesehen, dass es die Polizei gewesen sei. Sie hätten ihn befragt und dann seinen Vater kontaktiert, der ihn von der Polizeiwache abgeholt und nach Herat gefahren habe. Dieser habe ihn gefragt, wer diese Leute gewesen seien und was er mit denen zu tun habe. Er habe ihm gesagt, dass er es nicht wisse, und nicht wisse, was sie verlangt hätten. Sein Vater habe dann gesagt, dass sie ihn wegen seines Bruders entführt hätten. Die Taliban hätten gewollt, dass sein Bruder mit ihnen arbeite und deswegen wäre sein Bruder weggegangen. Diese Leute hätten auch ihn gewollt. Sein Vater habe ihn dann zu einem Schlepper gebracht und er sei ausgereist.
4. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 16.04.2021 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr (Spruchpunkt III.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Schilderung bezüglich einer Entführung durch die Taliban sei nicht glaubhaft gewesen. Zum einen habe er die Ereignisse relativ emotionslos und auswendig gelernt wirkend vorgebracht. Zum anderen sei sein Vorbringen wenig substantiiert gewesen und er habe sich immer wieder auf seinen in Österreich asylberechtigten Bruder berufen. Probleme seitens der afghanischen Behörden seien in der Befragung nicht zutage gekommen. Ebenso habe er keinerlei Probleme hinsichtlich asylrelevanter Merkmale erwähnt und es habe auch im privaten Bereich keine Verfolgungsszenarien gegeben. Der Beschwerdeführer sei jung und völlig gesund, seine Kernfamilie lebe seit Jahren in XXXX . Somit hätte er die Möglichkeit, im Falle einer Rückkehr auf das soziale Netzwerk der Familie zurückzugreifen und Unterstützung zu finden. Aufgrund der derzeit angespannten wirtschaftlichen und gesundheitsrelevanten Lage durch die COVID-19-Pandemie, und unter Berücksichtigung seiner derzeitigen Minderjährigkeit und der Tatsache, dass er noch keinerlei Berufserfahrung sammeln habe können, wäre es zum jetzigen Zeitpunkt aber unverantwortlich, ihn der Gefahr auszusetzen, in Afghanistan, z. B. in Mazar-e Sharif, in eine ausweglose Notsituation zu geraten. Daher werde ihm subsidiärer Schutz gewährt.
5. Der Beschwerdeführer erhob gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheids mit Eingabe vom 17.05.2021 durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde. Darin wurde nach erneuter Darstellung des Fluchtvorbringens im Wesentlichen ausgeführt, er habe bei seiner Befragung und Einvernahme ausführlich zu seinen Fluchtgründen Stellung genommen. Die ihm gestellten Fragen habe er beantwortet und auf Nachfragen konkrete Antworten gegeben. Wie weit man bei einzelnen Fragen oder auch bei der freien Erzählung ins Detail gehe müsse, könne der Beschwerdeführer nicht wissen, da er die Voraussetzungen für die Beurteilung der Asylrelevanz nicht kenne. Zudem sei auch sein Alter zu berücksichtigen, da er bei der Antragstellung bzw. bei den Befragungen 16 bzw. 17 Jahre alt gewesen sei. Falls asylrelevante Antworten ausgeblieben seien, wäre er jederzeit bereit gewesen, detailliertere Antworten zu geben. Einzelne beweiswürdigende Erwägungen der belangten Behörde seien aus jeweils näher dargestellten Gründen nicht nachvollziehbar bzw. schlüssig. Die belangte Behörde könne nicht pauschal davon ausgehen, dass die Aussagen des Beschwerdeführers nicht glaubhaft wären, weil er sein Vorbringen emotionslos geschildert habe. Oft seien Emotionen nach außen nicht wahrnehmbar, diese würden sich auch sehr individuell und unterschiedlich äußern. Dass er „etwa“ zur Zeit der Asylgewährung seines Bruders Probleme mit den Taliban bekommen habe, sei Zufall, im Übrigen seien seine Probleme erst rund ein Jahr später aufgetreten. Die Taliban hätten ihn anstelle seines Bruders zur Rechenschaft ziehen wollen, wie diese Rechenschaft aussehe, sei verschieden. Man könne aus Rache getötet werden, man könne auch gezwungen werden, mit den Taliban zu kooperieren. Es sei bekannt, dass die Taliban junge Männer, vor allem ethnische Paschtunen, in diesem Alter rekrutieren würden. Bei der Ausreise seines Bruders sei der Beschwerdeführer erst 11 oder 12 Jahre alt und damit zu jung für die Taliban gewesen. Dass sein Vater nie über die Probleme seines Bruders gesprochen habe, erkläre sich draus, dass er noch sehr jung gewesen sei und ihm seine Eltern keine Angst hätten machen wollen. Sein Vater habe ihn auch nicht gefragt, wer diese Entführer gewesen seien und was diese gewollt hätten, sondern es sei umgekehrt gewesen. Der Beschwerdeführer sei bei der Einvernahme entweder missverstanden worden oder es handle sich um einen Übersetzungsfehler. Er habe sein Heimatland aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen, weshalb der Beschwerde stattzugeben sei.
6. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 25.05.2021 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 26.05.2021 in der Gerichtsabteilung W261 einlangte.
7. Mit Eingabe vom 25.06.2021 beantragte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung die Ladung seines Bruders XXXX als Zeugen zum Nachweis des Fluchtvorbringens.
8. Mit E-Mail vom 25.06.2021 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführer, den beantragten Zeugen bei der mündlichen Verhandlung stellig zu machen, da eine Ladung so kurzfristig nicht zugestellt werden könne.
9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 28.06.2021 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen persönlichen Umständen und zu seinen Fluchtgründen befragt wurde. Als Zeuge zum Fluchtvorbringen wurde der Bruder des Beschwerdeführers XXXX einvernommen. Die belangte Behörde nahm entschuldigt nicht an der Verhandlung teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und kennt sein Geburtsdatum nicht. Für Identifikationszwecke wird es mit XXXX festgelegt. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen sowie des Stammes der XXXX und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch Dari und etwas Englisch. Er ist ledig und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer wurde im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Laghman geboren. Sein Vater heißt XXXX und ist ca. 50 Jahre alt, seine Mutter heißt XXXX und ist ca. 50 Jahre alt. Sein Vater war Autoverkäufer und später Taxifahrer, aktuell weiß der Beschwerdeführer nicht, was er beruflich macht. Seine Mutter ist Hausfrau. Er hat zwei Schwestern, XXXX und XXXX , und einen Bruder, XXXX .
Er zog als Kind mit seiner Familie von der Provinz Laghman in die Stadt XXXX in der Provinz Nangarhar, wo er bis zu seiner Ausreise lebte. Er hat dort sieben Jahre lang die Grundschule „ XXXX “ besucht. Er ging in Afghanistan keiner Arbeit nach.
Seine Eltern leben heute im Stadtteil XXXX in der Stadt XXXX . Seine Schwestern sind älter als er und bereits verheiratet, sie leben mit ihren Ehemännern ebenfalls in der Stadt XXXX . Er hat regelmäßigen Kontakt mit seiner Familie in Afghanistan. Sein Bruder lebt gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinen beiden Kindern als in Österreich Asylberechtigter in XXXX .
Der Beschwerdeführer hat auch vier Onkel väterlicherseits, welche zuletzt in XXXX lebten.
Er reiste Anfang 2020 aus Afghanistan aus und stellte am 09.09.2020 als unbegleiteter Minderjähriger einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Mit Bescheid der belangten Behörde vom 16.04.2021 wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.
Der Beschwerdeführer ist gesund.
Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan nicht aus Rache an seinem geflüchteten Bruder von den Taliban entführt und mehrere Tage festgehalten. Er wurde von den Taliban auch nicht bedroht, er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder andere Personen. Dem Beschwerdeführer droht auch keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban.
1.3. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
1.4. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
? Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan mit Stand 11.06.2021, Version 4 - auszugsweise (LIB)
? UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021 (UNHCR 2021)
? Kurzinformation der Staatendokumentation, Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan, Stand 20.08.2021 (KI Staatendokumentation)
? Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)
1.3.1 Allgemeine aktuelle Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (LIB).
Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten. Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern (UNHCR 2021).
Aufgrund des Konflikts sind seit Anfang 2021 Schätzungen zufolge über 550.000 Afghan*innen innerhalb des Landes neu vertrieben worden, davon 126.000 neue Binnenvertriebene allein zwischen 7. Juli und 9. August 2021. Während es bis dato noch keine genauen Zahlen gibt, wie viele Afghan*innen das Land aufgrund der Kampfhandlungen und Menschenrechtsverletzungen verlassen haben, haben Berichten zufolge zehntausende Afghan*innen in den letzten Wochen die Landesgrenzen überschritten. (UNHCR 2021)
Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (KI Staatendokumentation).
Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (KI Staatendokumentation).
Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (KI Staatendokumentation).
Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (KI Staatendokumentation).
Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (KI Staatendokumentation).
Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (KI Staatendokumentation).
Priorität für die Vereinten Nationen (VN) hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-Sicherheitsrat Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (KI Staatendokumentation).
1.3.2 Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6 % unter der nationalen Armutsgrenze (LIB).
1.3.3. Ethnische Gruppen
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind 40 bis 42 % Paschtunen, 27 bis 30 % Tadschiken, 9 bis 10 % Hazara, 9% Usbeken, ca. 4 % Aimaken, 3 % Turkmenen und 2 % Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (LIB).
Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (LIB)
Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB).
Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB).
Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben (LIB).
Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Paschtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB).
Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung, werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen. Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen. Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet (LIB).
1.3.4. Taliban
In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB).
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (LIB).
Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als "Islamisches Emirat Afghanistan", der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (LIB).
Die Anführer der Taliban
Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban Führer auch nach außen auf (KI Staatendokumentation).
Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des SchariaGerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird (KI Staatendokumentation).
Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die TalibanEinsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht (KI Staatendokumentation).
Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an (KI Staatendokumentation).
Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (KI Staatendokumentation).
Stärke der Taliban-Kampftruppen
Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (KI Staatendokumentation).
Rekrutierungsstrategien
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LIB).
Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: Sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta / Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich. UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (LIB).
In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren, wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden. Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig. Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LIB).
Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen von, vielfach jungen, desillusionierten Männern. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LIB).
Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats der Taliban. Während Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt haben, dienen sie auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LIB).
Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden, wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden. Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen (LIB).
Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Know-how und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LIB).
Die Taliban wenden, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen, teilweise werden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht. Im Jahr 2020 gab es laut UNAMA insgesamt 196 Jungen, hauptsächlich im Norden und Nordosten des Landes, die sowohl von den Taliban als auch von den afghanischen Sicherheitskräften rekrutiert wurden. Es ist wichtig anzumerken, dass Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern in Afghanistan aufgrund der damit verbundenen Sensibilität und der Sorge um die Sicherheit der Kinder in hohem Maße unterrepräsentiert sind (LIB).
Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der (ehemaligen) Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen (Landinfo 1, Kapitel 4).
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen in Afghanistan, seiner Schulbildung, seiner (fehlenden) Berufserfahrung und seinen Familienangehörigen gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.
Das Datum der Antragstellung und die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ergeben sich aus dem Akteninhalt.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde (vgl. AS 305) und in der mündlichen Verhandlung (vgl. Niederschrift vom 28.06.2021, S. 3) sowie auf dem Umstand, dass im Verfahren nichts Gegenteiliges hervorgekommen ist.
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.
2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:
2.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 liegt es auch am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Das Asylverfahren bietet, wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 27.05.2019, Ra 2019/14/0143-8, wieder betonte, nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.
Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.
Unter diesen Maßgaben ist das Vorbringen eines Asylwerbers also auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen. Dabei ist vor allem auf folgende Kriterien abzustellen: Das Vorbringen des Asylwerbers muss – unter Berücksichtigung der jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten –genügend substantiiert sein; dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Das Vorbringen hat zudem plausibel zu sein, muss also mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen; diese Voraussetzung ist u. a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen. Schließlich muss das Fluchtvorbringen in sich schlüssig sein; der Asylwerber darf sich demgemäß nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.
2.2.2. Der Beschwerdeführer konnte sein Fluchtvorbringen, er sei aus Rache an seinem aus Afghanistan geflüchteten Bruder von den Taliban entführt und mehrere Tage festgehalten worden, nicht glaubhaft machen. Dies ergibt sich aus einer Gesamtschau der im Folgenden dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen. Zwar ist glaubhaft, dass der Beschwerdeführer Opfer einer Entführung wurde, ein Zusammenhang dieses Vorfalls mit den Taliban oder den Fluchtgründen seines Bruders kam im Verfahren jedoch nicht hervor.
In seiner polizeilichen Erstbefragung brachte der damals minderjährige Beschwerdeführer vor, am Weg zur Schule sei er vor ca. zehn Monaten von den Taliban entführt worden. Sie hätten ihn in eine andere Stadt bringen wollen. Auf dem Weg dorthin habe er Schüsse gehört. Kurze Zeit später habe ihm jemand die Augenbinde abgenommen und er habe gesehen, dass es die afghanische Polizei sei, sie habe ihn gerettet. Dann sei er mit der Polizei auf die Wache gegangen. Er habe erklärt, dass die Taliban ihn entführt hätten. Dann habe ihn sein Vater abgeholt. Dieser habe gemeint, dass es in Afghanistan nicht sicher für ihn sei, und ihn deshalb nach Europa geschickt. Andere Fluchtgründe habe er nicht (vgl. AS 34).
In der Einvernahme vor der belangten Behörde brachte der damals minderjährige Beschwerdeführer zusammengefasst vor, er sei nach der Schule am Weg nachhause gewesen. Dann habe er gar nicht mitbekommen, wer das gewesen sei, aber er sei entführt worden. Als er seine Augen aufgemacht habe, sei er in einem dunklen Zimmer gewesen. Sie hätten seine Füße mit einer Kette gefesselt, die Hände seien frei gewesen. Es sei immer eine Person gekommen, die ihm Essen gebracht habe, er habe die Person aber nicht sehen können, weil es dunkel gewesen sei. Ca. drei bis vier Tage sei er in diesem Zimmer gewesen. Dann sei sein Gesicht bedeckt worden. Er glaube, sie hätten ihn von XXXX nach Laghman bringen wollen. Er sei in einem fahrenden Auto gewesen. Nach einer Weile habe er eine Schießerei bemerkt. Dann habe er gemerkt, dass einige Leute zu ihm gekommen seien und ihn mitgenommen hätten. Sie hätten ihm dann die Augenbinde abgenommen und er habe gesehen, dass es die Polizei gewesen sei. Sie hätten ihn befragt und dann seinen Vater kontaktiert, der ihn von der Polizeiwache abgeholt und nach Herat gefahren habe. Dieser habe ihn gefragt, wer diese Leute gewesen seien und was er mit denen zu tun habe. Er habe ihm gesagt, dass er es nicht wisse, und nicht wisse, was sie verlangt hätten. Sein Vater habe dann gesagt, dass sie ihn wegen seines Bruders entführt hätten. Die Taliban hätten gewollt, dass sein Bruder mit ihnen arbeite und deswegen wäre sein Bruder weggegangen. Diese Leute hätten auch ihn gewollt. Sein Vater habe ihn dann zu einem Schlepper gebracht und er sei ausgereist (vgl. AS 308-311).
In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, er sei in der Schule gewesen. Nach der Schule habe er nicht mitbekommen, was passiert sei oder wer ihn entführt habe. Er wisse noch, dass irgendetwas vor seinem Mund gewesen sei und habe dann nichts mehr mitbekommen. Er sei zwei oder drei Nächte in einem dunklen Raum gewesen, mit seinen Füßen in Ketten. Eine maskierte Person habe ihm immer Essen gebracht. Sie hätten ihn dann woanders hin mitnehmen wollen, etwas über seinen Kopf gezogen und ihm die Hände verbunden. Dann seien sie mit einem Auto gefahren, aber er habe nichts gesehen. Er habe nur Schüsse gehört. Jemand habe ihn aus dem Auto geholt und in ein anderes Auto gebracht. Als sie ihm den Sack vom Kopf genommen hätten, habe er Polizisten gesehen. Ein Kommandant habe ihn befragt und er habe gesagt, dass er nicht wisse, wie es passiert sei. Die Polizei habe dann seinen Vater angerufen. Auch dieser habe ihn gefragt, wo er gewesen sei, und er habe gesagt, dass er es nicht wisse und entführt worden sei. Dann sei jemand gekommen und habe zwei bis drei Stunden allein mit seinem Vater gesprochen. Sein Vater sei dann mit ihn Richtung Herat gefahren. Er habe viele Fragen gestellt, aber sein Vater sei sehr traurig gewesen und habe nicht viel gesprochen. In Herat habe er ihn an einen Schlepper übergeben. Er habe gesagt, dass er nicht mit dem Schlepper mitgehen, sondern nachhause wolle. Sein Vater habe geweint und gesagt, dass der Beschwerdeführer wegen seines Bruders Probleme habe und die ihn umbringen wollen würden. Er sei dann mit dem Schlepper mitgegangen. Wer die Männer gewesen seien, wisse er nicht (vgl. Niederschrift vom 28.06.2021, S. 6-10).
2.2.3. Zunächst ist im vorliegenden Fall festzuhalten, dass es das Bundesverwaltungsgericht durchaus für glaubhaft hält, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan Opfer einer Entführung wie der beschriebenen wurde. Dies ergibt sich vor allem aus dem von ihm in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck und seiner diesbezüglich überaus lebhaften und emotionalen Schilderung. Der Beschwerdeführer ließ dabei eine lineare Handlung und ein nachvollziehbares Bild der von ihm erlebten Geschehnisse erkennen. Er beschrieb die Entführung im gesamten Verfahren, auch schon in der polizeilichen Erstbefragung, im Kern gleichlautend, detailliert und schlüssig, die Erzählweise war flüssig und spontan.
Völlig anders verhält es sich jedoch mit den behaupteten Hintergründen dieser Entführung, die der Beschwerdeführer, wenn überhaupt, nur äußerst vage und oberflächlich beschreiben und insgesamt nicht nachvollziehbar darlegen konnte. Besonders deutlich wurde dies in der mündlichen Verhandlung, als er auch selbst überhaupt nicht mehr behauptete, von den Taliban entführt worden zu sein. Vielmehr gab er nun wiederholt an, er wisse nicht, wer die Entführer gewesen seien oder mit wem er Probleme habe. Auf Vorhalt seiner Angaben in der Erstbefragung und Ersteinvernahme, dass es sich um die Taliban gehandelt hätte, antwortete er nur: „Ich wurde befragt, ob mein Bruder Probleme mit den Taliban oder der Regierung hatte und ich habe gar nichts gesagt.“ (vgl. Niederschrift vom 28.06.2021, S. 9). All dies deckt sich nicht mit seinen Angaben in der Einvernahme vor der belangten Behörde, wonach er zwar zunächst nicht gewusst habe, wer die Entführer seien, ihm aber sein Vater später berichtet habe, dass es die Taliban gewesen seien (vgl. AS 308-309). Demgegenüber antwortete er in der mündlichen Verhandlung auch noch nach dem Hinweis der erkennenden Richterin auf das frühere Taliban-Vorbringen, er wisse „überhaupt nicht“, wer ihn mit dem Leben bedrohen sollte (vgl. Niederschrift vom 28.06.2021, S. 10).
Aber schon in der Ersteinvernahme gelang es dem Beschwerdeführer nicht, plausibel darzulegen, aus welchem Grund die Taliban ihn entführen oder sonst an ihm interessiert sein sollten. Er brachte lediglich vor, Vater habe ihm gesagt, dass die Taliban mit seinem Bruder Probleme gehabt hätten. Sie hätten gewollt, dass sein Bruder mit ihnen arbeite und deswegen wäre sein Bruder weggegangen. Die Leute hätten auch ihn gewollt (vgl. AS 308-309). Welche Art von Problemen sein Bruder mit den Taliban gehabt habe, habe sein Vater nicht gesagt, auch sein Bruder erzähle nichts darüber. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts ist es nicht glaubhaft, dass bis heute niemand, weder sein Vater noch sein Bruder, dem Beschwerdeführer erklärt hätte, warum er konkret sein Land verlassen und flüchten habe müssen. Nach seinen eigenen Angaben hat er „sehr oft“ Kontakt mit seinem in Österreich lebenden Bruder (vgl. AS 310) und auch nach wie vor Kontakt zu seiner Familie in Afghanistan. Der Vermutung der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers, sein Bruder würde davon ausgehen, dass er traumatisiert sei, und den jüngeren Bruder daher schützen wollen (vgl. AS 311), kann nicht gefolgt werden. Der Beschwerdeführer war zum Zeitpunkt des Vorfalls 16 Jahre und ist mittlerweile 18 Jahre alt, und Anhaltspunkte für eine Traumatisierung sind im gesamten Verfahren nicht hervorgekommen. Der Bruder des Beschwerdeführers selbst gab in der mündlichen Verhandlung an, er habe mit ihm deshalb nicht über seine Fluchtgeschichte gesprochen, weil er mit seinem Vater darüber gesprochen habe und es deswegen nicht notwendig gewesen sei (vgl. Niederschrift vom 28.06.2021, S. 13). Weshalb es „nicht notwendig“ sein sollte, dem Beschwerdeführer diese für sein Asylverfahren höchst relevanten Informationen zu geben, ist aber nicht nachvollziehbar. Der Familie, jedenfalls seinem seit sechs Jahren in Österreich lebenden Bruder, müsste durchaus klar sein, dass der Beschwerdeführer diese Informationen im Verfahren benötigen würde.
Des Weiteren spricht auch der Ablauf der geschilderten Entführung selbst gegen eine „Rachehandlung“ der Taliban gegen den vor Jahren geflüchteten Bruder des Beschwerdeführers. Wäre dies der Fall, wäre nicht ersichtlich, aus welchem Grund sie ihn zunächst mehrere Tage in einem Zimmer einsperren und dann versuchen würden, ihn in eine andere Provinz zu bringen. Naheliegender wäre dann, auch vor dem Hintergrund der Länderinformationen zum Vorgehen der Taliban, dass sie den Beschwerdeführer entweder sofort töten oder entsprechende Forderungen an seine Familie stellen würden. Ebenso ist nicht plausibel, dass die Taliban nach der Flucht seines Bruders erst vier oder fünf Jahre gewartet hätten, bevor sie an dessen Familie Vergeltung üben. Es mag sein, dass der Beschwerdeführer selbst dafür früher noch zu jung war, die „Rache“ hätte sich aber ebenso gegen seinen Vater richten können. Seine Familie lebt nach seinen eigenen Angaben bis heute unbehelligt in seiner Heimatstadt. Selbst im Fall einer beabsichtigten Zwangsrekrutierung, von der die Taliban nach den vorliegenden Länderinformationen auch nur in Ausnahmefällen Gebrauch machen und die meist unter Einbindung der Familie/des Stammes ablaufen, wäre nicht nachvollziehbar, weshalb sie den Beschwerdeführer tagelang ohne jede Kontaktaufnahme einsperren sollten. In Zusammenschau mit dem ins Verfahren eingebrachten Landinfo-Bericht „Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne“ vom 23.08.2017 ist im Übrigen festzuhalten, dass der Beschwerdeführer keiner der darin genannten Kategorien von Zielpersonen der Taliban angehört (vgl. Landinfo, S. 10-11).
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt bei der Würdigung der Aussagen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen nicht, dass er im Zeitpunkt des Verlassens seines Heimatlandes, der Erstbefragung und der Einvernahme vor der Behörde noch minderjährig war. Konkret wäre er zum Zeitpunkt des vermeintlich fluchtauslösenden Ereignisses 16 Jahre alt gewesen. Entsprechend der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine besonders sorgfältige Beurteilung der Art und Weise des erstatteten Vorbringens zu den Fluchtgründen erforderlich und die Dichte dieses Vorbringens kann nicht mit „normalen Maßstäben“ gemessen werden. Zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit ist entsprechend diesen höchstgerichtlichen Vorgaben eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung erforderlich (vgl. VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0150). Doch auch unter Berücksichtigung dieser Umstände wäre zu erwarten, dass sich jemand an im Alter von 16 Jahren erlebte, derart einschneidende und lebensverändernde Ereignisse zumindest einigermaßen detailliert erinnern würde. Zudem erwiesen sich gerade die Angaben in der mündlichen Verhandlung, als der Beschwerdeführer bereits volljährig war, als hinsichtlich der Hintergründe der Entführung besonders vage und oberflächlich.
Aus all diesen Gründen hält es das erkennende Gericht für deutlich naheliegender, dass die Entführung des Beschwerdeführers einen rein kriminellen Hintergrund, etwa im Sinne einer geplanten oder auch tatsächlich erfolgten Lösegelderpressung, hatte. Derartige Verbrechen sind in Afghanistan relativ häufig. In der mündlichen Verhandlung befragt, ob sein Vater Lösegeld für ihn bezahlt habe, antwortete der Beschwerdeführer, dass er das nicht wisse (vgl. Niederschrift vom 28.06.2021, S. 8). Für diese Möglichkeit spricht, dass die finanzielle Situation seiner Familie zumindest keine schlechte war, diese beschrieb er stets als „normal“ bzw. „mittelmäßig“ (vgl. AS 307; Niederschrift vom 28.06.2021, S. 8), sein Vater war früher Autohändler. Dies würde erklären, weshalb die Angaben des Beschwerdeführers immer dann, wenn es um die Hintergründe und Motive der Entführung ging, überaus vage und oberflächlich blieben, während er andere Aspekte des Vorbringens sehr wohl detailliert beschreiben konnte. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass der Beschwerdeführer eine tatsächlich vorgefallene Entführung erst nachträglich asylzweckbezogen und wahrheitswidrig mit den Fluchtgründen seines Bruders verknüpfte.
Auch die Aussage seines Bruders XXXX als Zeuge in der mündlichen Verhandlung (vgl. Niederschrift vom 28.06.2021, S. 11-13) war nicht geeignet, das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers zu untermauern. Dieser konnte, da er seit sechs Jahren in Österreich lebt, naheliegenderweise aus eigener Wahrnehmung nichts zu den seinen Bruder betreffenden Vorfällen erzählen, sondern verwies lediglich wiederholt auf Angaben seines Vaters. Damit hatte seine Aussage aber keinen über das Vorbringen des Beschwerdeführers selbst maßgeblich hinausgehenden Beweiswert, zumal auch zu beachten ist, dass bei nahen Angehörigen typischerweise ein großes Interesse an einem positiven Verfahrensausgang besteht. Es ist durch Einsichtnahme in das den Bruder des Beschwerdeführers betreffende Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.12.2018, Zl. W121 2165567-1/14E, bekannt, dass diesem in Österreich Asyl gewährt wurde, weil er aufgrund seiner Weigerung, sich den Taliban anzuschließen, mehrfach Opfer von Angriffen durch diese wurde. Ein Zusammenhang zwischen diesen Fluchtgründen und der Entführung des Beschwerdeführers wurde im Verfahren jedoch nicht glaubhaft gemacht.
In einer Gesamtschau dieser beweiswürdigenden Erwägungen, insbesondere der äußerst vagen und nicht ausreichend substantiierten Angaben zu den vermeintlichen Motiven der Taliban, und der auch vor dem Hintergrund der Schilderungen und der Länderberichte fehlenden Plausibilität eines Zusammenhangs mit diesen, konnte der Beschwerdeführer eine Entführung oder sonstige Bedrohung durch die Taliban nicht glaubhaft machen.
Daraus ergibt sich, dass dem Beschwerdeführer auch bei einer theoretischen Rückkehr nach Afghanistan individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität und insbesondere keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban oder durch andere Personen droht.
2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell.
Die Lage in Afghanistan hat sich im August 2021 maßgeblich verändert, die afghanische Regierung ist nicht mehr im Amt und die Taliban haben die Macht übernommen. Das Bundesverwaltungsgericht hat demgemäß die aktuellsten Länderinformationen mit Stand 20.08.2021 zur Entscheidungsfindung herangezogen. Diese Informationen sind allgemein zugänglich und waren auch Gegenstand umfangreicher medialer Berichterstattung in den letzten Wochen, weswegen auf eine gesonderte Übermittlung dieser Informationen an die Parteien dieses Verfahrens im Rahmen des Parteiengehörs verzichtet wurde. Die in der Beschwerde zitierten Länderberichte sind jedenfalls durch die aktuellen, in den Feststellungen zitierten Länderinformationen überholt.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten
3.1.1. § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten
§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.
…“
3.1.2. Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
3.1.3. Wie festgestellt wurde der Beschwerdeführer nicht aus Rache an seinem geflüchteten Bruder von den Taliban entführt und mehrere Tage festgehalten und von diesen auch sonst nicht bedroht. Da die vom Beschwerdeführer geschilderte Verfolgung sich nicht – auf die behauptete Weise – ereignet hat, droht dem Beschwerdeführer aus diesem Grund auch keine Gefahr bei einer Rückkehr nach Afghanistan.
Das Bundesverwaltungsgericht hält es, wie in der Beweiswürdigung bereits ausgeführt, für glaubhaft, d