Entscheidungsdatum
23.08.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W261 2170073-1/26E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX auch XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten, vom 21.08.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 17.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Am 19.01.2016 fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, in ihrem Staat herrsche Krieg, und die Taliban hätten gewollt, dass er für sie arbeite, was er aber nicht gewollt habe. Neben seinem Haus sei ein Amt und die Taliban hätten gesagt, sie würden ihm Bomben geben, um sie in dieses Amt zu werfen. Die Taliban seien dort einmarschiert, sie seien aber festgenommen worden. Sie hätten ihm die Schuld gegeben und geglaubt, er habe sie ausspioniert. Sie hätten ihm gedroht, aus diesem Grund sei er geflüchtet.
2. Die Ersteinvernahme vor der belangten Behörde fand am 20.07.2017 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen im Wesentlichen an, er sei Tadschike und sunnitischer Muslim. Er stamme aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Wardak, wo er bis zur Ausreise gelebt habe. Er habe zwölf Jahre lang die Schule besucht und diese mit Matura abgeschlossen. Er habe in der Landwirtschaft seiner Familie gearbeitet. Seine Eltern seien bereits verstorben, eine Schwester, seine Ehefrau und drei Kinder würden heute bei seinen Schwiegereltern im Distrikt XXXX leben. Ein Onkel mütterlicherseits lebe im Heimatdistrikt. Er habe regelmäßig Kontakt mit seiner Frau. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer Integrationsunterlagen, medizinische Befunde, afghanische Dokumente und einen Drohbrief vor.
Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, die Taliban hätten ihm zwei Tage vor dem Vorfall gesagt, dass sie Sprengstoff in seinen Obstgarten bringen wollten. Sie hätten nachts die benachbarte Polizeistation angreifen wollen und von ihm verlangt, dass er mithelfe, was er aber abgelehnt habe. Er habe einen Polizisten, mit dem er ein gutes Verhältnis gehabt habe, über den Plan der Taliban informiert. Am Tag des Vorfalls sei er um ca. 16 Uhr in den Garten gegangen, als die Taliban gekommen seien. Er habe von weitem gesehen, dass sie in seine Richtung unterwegs seien. Auch die Polizei habe mitbekommen, dass die Taliban kommen würden, und es sei zu einem Gefecht gekommen. 35 bis 40 Minuten lang sei geschossen und geschrien worden. Dann sei es ruhig geworden. Er habe sich bei einem kleinen Wasserfall an einem Bewässerungskanal versteckt. Nach dem Kampf habe er gehört, dass Taliban erschossen und verwundet worden seien. Einige seien festgenommen worden. Er sei dann zu einer Versammlung der Männer des Dorfes gegangen. Als die anderen ihn gesehen hätten, seien sie wütend auf ihn gewesen und hätten geschrien, dass er schuld sei. Seinetwegen seien die getöteten Taliban zu Märtyrern geworden. Er habe die Schuld an allem bekommen, die anderen seien aggressiv gewesen. Als er am nächsten Tag abends nachhause gekommen sei, hätten seine Frau und Schwester geweint. Sie hätten ihm einen Brief der Taliban gezeigt, der vor die Tür geworfen und in dem er wegen der Kämpfe im Garten beschuldigt worden sei. Noch in derselben Nacht sei er nach Kabul gefahren und drei Tage später mithilfe eines Schleppers ausgereist.
3. Mit Eingabe vom 26.07.2017 ersuchte der Beschwerdeführer um diverse Korrekturen im Einvernahmeprotokoll vom 20.07.2017.
4. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 21.08.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III. erster Satz), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt III. zweiter Satz) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III. dritter Satz). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, es sei glaubhaft, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatdorf einer Bedrohung durch die Taliban ausgesetzt gewesen sei und Afghanistan aus Furcht vor Verfolgung durch die Taliban verlassen habe. Es könne jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass ihm in einer der Städte Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat eine innerstaatliche Fluchtalternative offen gestanden wäre. Auch seiner Frau und seinen Kindern sei es seit seiner Ausreise möglich, unbehelligt bei seinen Schwiegereltern in der Provinz Ghazni zu leben. Afghanistan verfüge über kein Meldewesen, was ein Auffinden seiner Person durch etwaige Widersacher unmöglich erscheinen lasse. Zudem wäre es ihm möglich gewesen, beispielsweise in der Anonymität von Kabul unbehelligt zu leben. Da der Beschwerdeführer definitiv nicht der Zielgruppe „high profile person“ zuordenbar sei, nicht bekannt sei, dass örtliche Taliban-Gruppierungen überregional operieren würden und auch annähernd zwei Jahre seit seinem Verlassen Afghanistans vergangen seien, könne nicht davon ausgegangen werden, dass etwaige Verfolger nach wie vor nach ihm suchen würden. Er verfüge zudem über familiäre und soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan und würde bei einer Rückkehr nicht in eine ausweglose oder existenzbedrohende Situation geraten.
5. Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid durch seine bevollmächtigte Vertretung mit Eingabe vom 04.09.2017 fristgerecht Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, er habe bei seiner Einvernahme ausführlich zu seinen Asylgründen Stellung genommen. Falls asylrelevante Antworten ausgeblieben seien, wäre er bereit gewesen, weiter an der Sachverhaltsermittlung mitzuwirken. Die belangte Behörde habe es ihrerseits unterlassen, auf das konkrete individuelle Vorbringen einzugehen und eine Gesamtbeurteilung anhand der herkunftsstaatsspezifischen Informationen und der bisherigen Rechtsprechung vorzunehmen. Die Frage der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative und die Angabe des Beschwerdeführers, dass er auch außerhalb seiner Heimatprovinz nicht sicher wäre, seien nicht bzw. unzureichend gewürdigt worden. Die Behörde habe nicht näher begründet, weshalb sein diesbezügliches Vorbringen nicht glaubhaft sei. Der Beschwerdeführer möchte überdies neue Tatsachen, die seit der inhaltlichen Einvernahme hervorgekommen seien, geltend machen: Seine Ehefrau sei mit den Kindern bei ihrem Vater ausgezogen, er pflege nur selten Kontakt mit ihr und er wisse nicht exakt, wo seine Familie nun wohne. Davor sei seine Frau mehrmals von einem Mann aufgesucht worden, der sich nach dem Aufenthaltsort des Beschwerdeführers erkundigt habe. Auch die Nachbarn seien befragt worden. Bezüglich des Eventualantrages auf subsidiären Schutz werde angegeben, dass die derzeitige Situation in Afghanistan den Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr einem Klima ständiger Bedrohung, struktureller Gewalt und unmittelbaren Einschränkungen sowie einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen aussetzen würde. Mangels sozialer Anbindungen in Zusammenhang mit seiner mangelnden (Aus)bildung wäre er zudem Lebensbedingungen ausgesetzt, die als unmenschlich oder erniedrigend zu werten seien.
6. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 05.09.2017 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 08.09.2017 in der Gerichtsabteilung W173 einlangte.
7. Mit Eingabe vom 26.02.2018 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen vor.
8. Mit Eingabe vom 05.12.2019 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der ausgeführt wurde, dass ihm in der Beschwerde ein Fehler aufgefallen sei, welchen er korrigieren möchte. Es entspreche nicht den Tatsachen und sei aktenwidrig, dass er vor seiner Ausreise in Teheran gelebt habe und in einer Tischlerei tätig gewesen sei. Er sei noch nie in Teheran gewesen und habe auch nicht in einer Tischlerei gearbeitet. Weiters möchte der Beschwerdeführer bekanntgeben, dass sein Schwiegervater vor ca. eineinhalb Jahren von den Taliban aufgesucht und entführt worden sei. Bis heute wisse er nichts von dessen Verbleib. Weiters würden seine Frau, Kinder und Schwester aufgrund der Bedrohungslage mittlerweile in XXXX , Pakistan, leben.
9. Mit Eingabe vom 28.01.2021 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen vor.
10. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.03.2021 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W173 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 01.04.2021 einlangte.
11. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 26.05.2021 eine mündliche Verhandlung durch, die vor Beginn der inhaltlichen Befragung des Beschwerdeführers vertagt wurde, nachdem dieser um einen Dolmetscher ersuchte, der (auch) Paschtu spreche.
12. Mit Eingabe vom 27.05.2021 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung um eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, er falle wegen der Beschuldigung durch die Taliban, den Angriff auf den Checkpoint verraten zu haben, unter ein Risikoprofil nach den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018. Ebenso befürchte er, durch die Bewohner seines Heimatdorfes angefeindet zu werden, weil diese ihm die (Mit-)Schuld an der gewalttätigen Auseinandersetzung sowie den Todesopfern gegeben hätten. Er befürchte weiters, die afghanischen Sicherheitsbehörden würden ihn verdächtigen, die Taliban beim Angriff auf den Checkpoint unterstützt zu haben. Auch abgesehen von der Verfolgung könne der Beschwerdeführer wegen der unsicheren Lage nicht in seine Herkunftsregion in der Provinz Wardak zurückkehren. Für ihn bestehe keine innerstaatliche Fluchtalternative, einerseits aufgrund des geografisch großen Wirkungsradius der Taliban, andererseits aufgrund der sich infolge des Abzugs der NATO landesweit verschlechternden Sicherheitslage. Zudem wäre ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative auch unzumutbar, als verheirateter Mann mit drei minderjährigen Kindern gehöre er nicht zur Gruppe der „single able-bodied men“ iSd EASO Country Guidance. Durch die COVID-19-Pandemie habe sich die Versorgungslage weiter verschlechtert. Mit der Stellungnahme wurden afghanische Dokumente, Fotos und ein Unterstützungsschreiben vorgelegt.
13. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 30.06.2021 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu persönlichen Umständen, seinen Fluchtgründen und der Situation im Falle seiner Rückkehr befragt wurde. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Der Beschwerdeführer legte Integrationsunterlagen, Medienberichte, Fotos und einen vermeintlichen Drohbrief vor. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.
14. Mit Eingabe vom 05.07.2021 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, er habe glaubhaft gegen ihn gerichtete Verfolgungshandlungen seitens der Taliban vorgebracht und bereits im erstinstanzlichen Verfahren den Drohbrief vorgelegt. Auch die belangte Behörde habe in ihrem Bescheid das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers geglaubt. Dass im Fall einer Verfolgung durch die Taliban diese landesweit drohe und daher keine interne Fluchtalternative bestehe, ergebe sich aus den UNHCR-Richtlinien. Der Beschwerdeführer erfülle auch mehrere Zielpersonen-Kategorien iSd in das Verfahren eingeführten Landinfo-Berichts zum Nachrichtendienst der Taliban. Es sei daher davon auszugehen, dass er auf der „schwarzen Liste“ der Taliban stehe, und überall in Afghanistan gefunden werden könne. Weiters sei aufgrund der sich derzeit rasch verschlechternden Sicherheitslage auch die allgemeine Sicherheit in den als innerstaatliche Fluchtalternativen infrage kommenden Städten nicht mehr auf Dauer gewährleistet. Ganz Afghanistan sei für den Beschwerdeführer nicht einmal mittelfristig, geschweige denn längerfristig, sicher. Im Übrigen wäre ihm eine Fluchtalternative auch nicht zumutbar.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist XXXX geboren, er kennt sein genaues Geburtsdatum nicht. Für Identifikationszwecke wird dieses mit XXXX festgestellt. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch Dari und Deutsch.
Er wurde im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz XXXX geboren. Sein Vater hieß XXXX , er war Tadschike, und seine Mutter hieß XXXX , sie war Paschtunin. Beide sind bereits verstorben. Er hat eine Schwester, XXXX , sie ist ca. 38 Jahre alt.
Der Beschwerdeführer ist seit ca. 2008 mit XXXX verheiratet, sie ist ca. 31 Jahre alt. Sie haben drei gemeinsame Kinder, XXXX , ca. elf Jahre alt, XXXX , ca. neun Jahre alt, und XXXX , ca. sieben Jahre alt. Seine Ehefrau lebte nach der Ausreise des Beschwerdeführers mit den Kindern bei ihren Eltern im Distrikt XXXX in der Provinz Ghazni. Seit 2019 leben seine Frau, seine Kinder und seine Schwester in XXXX in Pakistan. Er hat regelmäßigen Kontakt mit seiner Familie.
Er hat einen Onkel mütterlicherseits, der im Dorf XXXX in der Provinz XXXX lebt.
Der Beschwerdeführer hat bis zu seiner Ausreise in seinem Heimatdorf in ihrem eigenen Haus gelebt. Er hat dort für zwölf Jahre die Schule besucht und diese mit Matura abgeschlossen. Seine Familie besitzt dort landwirtschaftliche Grundstücke im Ausmaß von zwölf Jirib. Er hat in der Landwirtschaft auf den Feldern gearbeitet. Sie haben Kartoffel und Getreide angebaut und hatten einen Obstgarten mit ca. 300 Apfelbäumen.
Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan Ende 2015 allein und stellte am 17.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer wurde im Oktober 2015 von den Taliban aufgesucht. Diese sagten ihm, dass sie Bomben und Sprengstoff in seinem Obstgarten verstecken wollen, um damit einen benachbarten Polizeiposten anzugreifen. Er lehnte dies ab und informierte auch einen befreundeten Polizisten über den Plan der Taliban. Zwei Tage später rückten die Taliban an und es kam zu einem Gefecht zwischen ihnen und der Polizei, bei dem es auf beiden Seiten Tote gab. Einige Taliban wurden auch festgenommen.
Am nächsten Tag warfen die Taliban einen Drohbrief vor die Tür des Beschwerdeführers, der von seiner Frau gefunden wurde. Als er abends nachhause kam, übergab sie ihm den Brief. Darin wurde ihm vorgeworfen, die Polizei über den Plan der Taliban informiert zu haben, weshalb die Polizisten bereits auf sie gewartet und sie angegriffen hätten. Er sei schuld daran, dass die Taliban Mitglieder verloren hätten. Seine Frau und Schwester waren sehr besorgt und rieten ihm zur Ausreise. Deshalb verließ er noch in derselben Nacht sein Heimatdorf und reiste über Kabul aus Afghanistan aus.
Die Kinder, der Schwiegervater und ein Freund des Beschwerdeführers wurden nach seiner Ausreise wiederholt gefragt, wo er sich aufhalte. Sowohl sein Schwiegervater als auch der Freund sind später verschwunden und nicht wieder zurückgekehrt. Die Kernfamilie des Beschwerdeführers lebt mittlerweile in Pakistan.
Es ist daher in einer Gesamtbetrachtung davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines Verrats eines geplanten Taliban-Angriffs an die Polizei, der zur Tötung und Festnahme mehrerer Taliban-Mitglieder geführt hat, im gesamten Staatsgebiet Afghanistans einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre.
1.3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Jänner 2016 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 17.01.2016 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Er hat in Österreich Deutschkurse besucht und am 06.02.2018 die ÖSD-A2-Prüfung bestanden. Im Jahr 2019 hat er auch den B1-Kurs besucht, wobei er wegen der Corona-Pandemie bisher noch keine Prüfung abgelegt hat. Am 19.12.2016 nahm er am Werte- und Orientierungskurs des ÖIF teil.
Der Beschwerdeführer hat regelmäßig den „ XXXX “ in XXXX besucht. Im Jahr 2017 war er freiwillig bei der XXXX im Fachbereich für Asyl, Integration und Migration tätig. Er hat im Februar 2018 beim Magistrat der Stadt XXXX in der Abteilung Wirtschaftshof gearbeitet. Von 2019 bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie hat er ehrenamtlich in der Seniorenresidenz des XXXX Seniorenzentrums XXXX GmbH gearbeitet. Er hilft freiwillig beim Verein XXXX , z. B. beim Flohmarkt und anderen Aktivitäten.
Er wird von seinen Vertrauenspersonen als ruhig, engagiert, freundlich, hilfsbereit, und lernwillig beschrieben. In seiner Freizeit spielt er Fußball.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Familienangehörigen, aber Freunde und Bekannte.
Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.4. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
? Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan mit Stand 11.06.2021, Version 4 - auszugsweise (LIB)
? UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021 (UNHCR 2021)
? Kurzinformation der Staatendokumentation, Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan, Stand 20.08.2021 (KI Staatendokumentation)
? Homepage der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19 abgerufen am 23.08.2021 und https://covid19.who.int/region/emro/country/af, abgerufen am 23.08.2021 (WHO)
? Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)
1.4.1 Allgemeine aktuelle Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (LIB).
Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten. Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern (UNHCR 2021).
Aufgrund des Konflikts sind seit Anfang 2021 Schätzungen zufolge über 550.000 Afghan*innen innerhalb des Landes neu vertrieben worden, davon 126.000 neue Binnenvertriebene allein zwischen 7. Juli und 9. August 2021. Während es bis dato noch keine genauen Zahlen gibt, wie viele Afghan*innen das Land aufgrund der Kampfhandlungen und Menschenrechtsverletzungen verlassen haben, haben Berichten zufolge zehntausende Afghan*innen in den letzten Wochen die Landesgrenzen überschritten. (UNHCR 2021)
Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (KI Staatendokumentation).
Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (KI Staatendokumentation).
Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (KI Staatendokumentation).
Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (KI Staatendokumentation).
Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (KI Staatendokumentation).
Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (KI Staatendokumentation).
Priorität für die Vereinten Nationen (VN) hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-Sicherheitsrat Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (KI Staatendokumentation).
1.4.2 Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6 % unter der nationalen Armutsgrenze (LIB).
1.4.3. Ethnische Gruppen
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind 40 bis 42 % Paschtunen, 27 bis 30 % Tadschiken, 9 bis 10 % Hazara, 9% Usbeken, ca. 4 % Aimaken, 3 % Turkmenen und 2 % Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (LIB).
Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (LIB)
Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB).
Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land. Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus. Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan (Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul) bilden Tadschiken in weiten Teilen des Landes ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit (LIB).
Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Heute werden unter dem Terminus t?jik „Tadschike“ fast alle dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (LIB).
Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte (ehemalige) Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB).
1.4.4. Taliban
In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB).
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (LIB).
Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als "Islamisches Emirat Afghanistan", der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (LIB).
Die Anführer der Taliban
Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban Führer auch nach außen auf (KI Staatendokumentation).
Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des SchariaGerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird (KI Staatendokumentation).
Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die TalibanEinsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht (KI Staatendokumentation).
Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an (KI Staatendokumentation).
Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (KI Staatendokumentation).
Stärke der Taliban-Kampftruppen
Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (KI Staatendokumentation).
Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach „fehlverhalten“, unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten den meisten dieser Gruppen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance, zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen (Landinfo 1, Kapitel 4).
Dies gilt jedoch nicht für politische Feinde der Taliban, vermeintliche Spione oder Informanten der Regierung, Personen, die gegen die Scharia oder die Regeln der Taliban verstoßen, und Personen, die ihnen nützlich oder notwendig für ihre Kriegsführung erscheinen und die Zusammenarbeit verweigern. Diese Personengruppen haben – im Gegensatz zu „Auftragnehmern“ – in den Augen der Taliban allein schon durch ihre Zugehörigkeit zu diesen Kategorien Verbrechen begangen und erhalten daher keine Verwarnung und keine Möglichkeit, einer Verurteilung zu entgehen (Landinfo 1, Kapitel 4).
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache und weiteren Sprachen, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen sowie seiner familiären Situation in Afghanistan, seiner Schulbildung und seiner Berufserfahrung gründen sich auf seine diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben sowie die vorgelegten Nachweise. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.
2.2. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers stützen sich auf die von ihm in der Erstbefragung, vor der belangten Behörde und insbesondere in der mündlichen Verhandlung des Bundesverwaltungsgerichts am 30.06.2021 getätigten Aussagen.
Der Beschwerdeführer ließ bei der Schilderung seiner Fluchtgründe eine lineare Handlung und ein nachvollziehbares Bild der von ihm erlebten Geschehnisse erkennen. Seine Angaben sind auch vor dem Hintergrund der Verhältnisse in Afghanistan plausibel und nachvollziehbar. Er beschrieb die Gründe seiner Ausreise im gesamten Verfahren, auch schon in der polizeilichen Erstbefragung, im Kern gleichlautend. Wesentlich bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens war zudem der Umstand, dass er es umfangreich, schlüssig und detailliert schildern konnte. Die Erzählweise war flüssig und spontan. Das Fluchtvorbringen war in sich stimmig und wies – abgesehen von kleineren Details – keine Widersprüche auf, sodass das Bundesverwaltungsgericht dieses, vor allem auch aufgrund des vom Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung gewonnen persönlichen Eindrucks, als glaubhaft erachtet.
Auch die belangte Behörde hielt das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers im angefochtenen Bescheid bereits für glaubhaft. Es ist daher davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung maßgeblicher Intensität durch die Taliban aus asylrelevanten Gründen drohen würde zumal diese aktuell die Macht in Afghanistan übernommen haben und es damit keine staatlichen Einrichtungen (mehr) gibt, welche den Beschwerdeführer vor den Taliban schützen könnten.
2.3. Zu den Feststellungen zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Die Feststellungen zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich, insbesondere zur Aufenthaltsdauer, seinen Deutschkenntnissen, seinen familiären und sozialen Anknüpfungspunkten und seiner Integration in Österreich, stützen sich auf die Aktenlage, auf die Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie auf die von ihm im Verfahren vorgelegten Unterlagen.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.
2.4. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell. Die Lage in Afghanistan hat sich im August 2021 maßgeblich verändert, die afghanische Regierung ist nicht mehr im Amt und die Taliban haben die Macht übernommen. Das Bundesverwaltungsgericht hat demgemäß die aktuellsten Länderinformationen mit Stand 20.08.2021 zur Entscheidungsfindung herangezogen. Diese Informationen sind allgemein zugänglich und waren auch Gegenstand umfangreicher medialer Berichterstattung in den letzten Wochen, weswegen auf eine gesonderte Übermittlung dieser Informationen an die Parteien dieses Verfahrens im Rahmen des Parteiengehörs verzichtet wurde. Die in der Beschwerde zitierten Länderberichte sind jedenfalls durch die aktuellen, in den Feststellungen zitierten Länderinformationen überholt.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten
3.1.1. § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten
§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.
…“
3.1.2. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
3.1.3. Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde.
3.1.4. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. z. B. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011).
Für eine „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454, VwGH 09.04.1997, 95/01/055), denn die Verfolgungsgefahr – Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung – bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse, sondern erfordert eine Prognose (vgl. VwGH 16.02.2000, 99/01/0397). Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0318).
3.1.5. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. VwGH 15.03.2001, 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (vgl. VwGH 16.06.1994, 94/19/0183).
Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
3.1.6. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, 94/18/0263; VwGH 01.02.1995, 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht – diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann –, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256).
Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, 98/01/0370; VwGH 22.10.2002, 2000/01/0322).
3.1.7. Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich, dass die Furcht des Beschwerdeführers vor Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention wohlbegründet ist:
Der Beschwerdeführer hat glaubhaft gemacht, aufgrund seines Verrats eines geplanten Taliban-Angriffs an die Polizei, der zur Tötung und Festnahme mehrerer Taliban-Mitglieder geführt hat, einer asylrelevanten Verfolgung in seinem Herkunftsstaat ausgesetzt zu sein.
Nach dem gemäß § 2 Abs. 1 Z 12 AsylG unmittelbar anwendbaren Art. 10 Abs. 1 lit e der Richtlinie 2011/95/EU (in der Folge gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 AsylG „Statusrichtlinie“) ist unter dem Begriff der politischen Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 Statusrichtlinie genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.
Der Verwaltungsgerichtshof hat ausgesprochen, dass als politisch alles qualifiziert werden kann, was für den Staat, für die Gestaltung bzw. Erhaltung der Ordnung des Gemeinwesens und des geordneten Zusammenlebens der menschlichen Individuen in der Gemeinschaft von Bedeutung ist (vgl. VwGH 30.09.2004, 2002/20/0293 mwN; siehe auch Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, § 3 AsylG, K51). Nach der gefestigten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes reicht für die Annahme einer asylrechtlich relevanten Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung aus, dass eine solche politische Gesinnung zumindest unterstellt wird (vgl. etwa VwGH 06.05.2004, 2002/20/0156).
3.1.8. Wie festgestellt hat der Beschwerdeführer einen geplanten Taliban-Angriff an die Polizei verraten, was zur Tötung und Festnahme mehrerer Taliban-Mitglieder geführt hat. Es liegt daher in Zusammenschau mit den Länderfeststellungen, nach denen die Taliban unter anderem jene ins Visier nehmen, von denen angenommen wird, dass sie sie für die Regierung ausspionieren oder Informationen über sie liefern, jedenfalls nahe, dass ihm von diesen eine ihnen gegenüber feindliche Haltung zumindest unterstellt wird. Dem Beschwerdeführer droht daher aufgrund seiner ihm unterstellten gegenüber den Taliban oppositionellen politischen Gesinnung Verfolgung durch sie.
Vor dem Hintergrund der Feststellungen zur allgemeinen Situation in Afghanistan kann auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass im gegenständlichen Fall ein ausreichender Schutz seitens des afghanischen Staates gegeben wäre, zumal die Taliban selbst es sind, welche aktuell in Afghanistan die Macht übernommen haben.
Anhand der Ermittlungsergebnisse ist daher davon auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer aus wohlbegründeter Furcht, wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb Afghanistans befindet und im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren. Angesichts dessen, dass durch den Verrat des Beschwerdeführers Taliban-Mitglieder getötet und festgenommen wurden und dass jenen, von denen angenommen wird, dass sie die Taliban für die Regierung ausspionieren, nach den Länderinformationen auch nicht die Möglichkeit der Reue offensteht (siehe dazu gleich), ist ihr Interesse an seiner Person mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zeitlich nicht begrenzt und seine Furcht vor Verfolgung auch nach wie vor aktuell.
3.1.9. Dem Beschwerdeführer steht im konkreten Fall entgegen der Ausführungen im angefochtenen Bescheid auch keine innerstaatliche Fluchtalternative in anderen Landesteilen Afghanistans zur Verfügung:
Für die Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative sind zwei getrennte und selbständige Voraussetzungen zu prüfen (UNHCR, Kapitel III. C). Zum einen ist zu klären, ob in dem als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und Schutz vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG die Gewährung von subsidiären Schutz rechtfertigen würden, gegeben ist. Das als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet muss zudem sicher und legal zu erreichen sein (VwGH vom 23.01.2018, Ra 2018/18/0001; VwGH 08.08.2017, Ra 2017/19/0118). (Analyse der Relevanz). Von dieser Frage ist getrennt zu beurteilen, ob dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann, bzw. dass von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in dem betreffenden Gebiet niederzulassen (Analyse der Zumutbarkeit).
In einer Zusammenschau mit den ins Verfahren eingebrachten Länderberichten ist es maßgeblich wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer für den Fall seiner Rückkehr im gesamten Staatsgebiet Afghanistans Gefahr liefe, durch die nachrichtendienstlichen Aktivitäten der Taliban, welche seit August 2021 die Macht in Afghanistan übernommen haben, von diesen ausfindig gemacht zu werden.
Im Fall des Beschwerdeführers, dem von den Taliban vorgeworfen wird, einen geplanten Taliban-Angriff an die Polizei verraten zu haben und damit den Tod und die Festnahme mehrerer ihrer Mitglieder verschuldet zu haben, ist daher maßgeblich wahrscheinlich, dass er erneut von den Taliban ausfindig gemacht werden könnte. Der Beschwerdeführer zählt aufgrund des festgestellten Sachverhaltes zu den im Bericht genannten typischen Zielpersonen der Taliban (Kategorien d) und f), vgl. Kapitel 4). Personen, von denen angenommen wird, dass sie die Taliban für die Regierung ausspionieren oder Informationen über sie liefern, steht nach diesen Länderinformationen auch nicht die Möglichkeit der Reue offen, sie haben allein schon durch Zugehörigkeit zu dieser Kategorie ein Verbrechen begangen. Es ist aufgrund der Schwere seines vermeintlichen „Verbrechens“ jedenfalls anzunehmen, dass die Taliban erhebliche Anstrengungen darauf verwenden, den Beschwerdeführer zu finden.
Die diesbezüglichen Ausführungen der belangten Behörde, wonach dem Beschwerdeführer „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat offen gestanden wäre (vgl. AS 261-262), gelten zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung nicht mehr, zumal auch diese Städte nunmehr im Einflussbereich der Taliban sind. Dass seine Familie nach wie vor unbehelligt in Afghanistan lebe, entspricht mittlerweile - wie festgestellt - nicht mehr den Tatsachen. Dass Afghanistan über kein Meldewesen verfüge und es sich bei Kabul um eine mehrere Millionen Einwohner zählende Großstadt handle, ist angesichts der bereits erwähnten nachrichtendienstlichen Kapazitäten der Taliban nicht maßgeblich.
3.1.10. Da weder eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, noch ein in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannter Endigungs- und Asylausschlussgrund hervorgekommen ist, war der Beschwerde stattzugeben, und dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
3.1.11. Wurde ein Antrag auf internationalen Schutz mit oder nach dem 15.11.2015 gestellt, so kommt gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 ("Asyl auf Zeit") iVm mit § 75 Abs. 24 leg. cit. einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu.
Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird.
Der Beschwerdeführer stellte am 17.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet, wodurch diese Bestimmung auf sie Anwendung findet.
Das Einreise- und Aufenthaltsrecht des Asylberechtigten wird in diesen Fällen nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unmittelbar kraft Gesetzes bestimmt, eine Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtes zur Erteilung eines Aufenthaltstitels als Asylberechtigter hat nicht zu erfolgen (vgl. VwGH vom 03.05.2018, Zl. Ra 2017/19/0374).
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, wenn die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.
In der Beschwerde findet sich kein schlüssiger Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
Schlagworte
Asyl auf Zeit Asylgewährung asylrechtlich relevante Verfolgung Asylverfahren befristete Aufenthaltsberechtigung begründete Furcht vor Verfolgung Fluchtgründe Flüchtlingseigenschaft Glaubhaftmachung Glaubwürdigkeit inländische Schutzalternative innerstaatliche Fluchtalternative mündliche Verhandlung private Verfolgung staatlicher Schutz Taliban unterstellte politische Gesinnung Verfolgungsgefahr Verfolgungshandlung wohlbegründete FurchtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W261.2170073.1.00Im RIS seit
06.12.2021Zuletzt aktualisiert am
06.12.2021