Entscheidungsdatum
26.08.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W192 2244840-1/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Ruso über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gesetzlich vertreten durch das Land Salzburg als Träger der Kinder- und Jugendhilfe, vertreten durch den Bürgermeister der Stadt Salzburg (Kinder- und Jugendhilfe), dieser vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.06.2021, Zahl: 1269210510-200931473, zu Recht:
A) Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 i.d.g.F. als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die minderjährige Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige Afghanistans, reiste gemeinsam mit ihrem ebenfalls minderjährigen Bruder illegal und unbegleitet in das österreichische Bundesgebiet ein und wurde am 10.09.2020 beim versuchten Grenzübertritt nach Deutschland durch Organe der deutschen Bundespolizei aufgegriffen, welche die Einreise des Geschwisterpaares nach Deutschland verweigerten. Infolge Rückübernahme der beiden minderjährigen Kinder, welche über den Aufenthaltsort ihrer erziehungsberechtigten Eltern keine näheren Angaben erstatten konnten, wurden diese in eine Betreuungseinrichtung des Landes Salzburg verbracht.
Am 29.09.2020 wurde die minderjährige Beschwerdeführerin im Verfahren über ihren an diesem Datum gestellten Antrag auf internationalen Schutz im Beisein ihrer gesetzlichen Vertretung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Die minderjährige Beschwerdeführerin gab an, aus Herat zu stammen und gemeinsam mit ihrem minderjährigen Bruder gereist zu sein. Ihr Vater, ihre Stiefmutter und ihre jüngeren Halbbrüder seien zuletzt in Griechenland aufhältig gewesen; die minderjährige Beschwerdeführerin habe Afghanistan vor etwa fünf Jahren verlassen und habe seither im Iran gelebt, welchen die Familie vor etwa einem Jahr verlassen hätte. Die minderjährige Beschwerdeführerin sei mit ihrer Familie vom Iran über die Türkei nach Griechenland gereist und habe sich dort rund acht Monate aufgehalten. Griechenland hätten sie mit einer großen Gruppe von Flüchtlingen verlassen und es sei ihnen von einem Mann gesagt worden, dass sie Serbien und Mazedonien durchqueren würden. Am dritten oder vierten Tag sei die Lage auf einmal sehr chaotisch gewesen und die Flüchtlinge hätten sich schnell auf zwei Fahrzeuge aufteilen müssen. Die Beschwerdeführerin und ihr Bruder seien schnell gelaufen und in eines der Fahrzeuge gestiegen; als sie bemerkt hätten, dass ihre Eltern nicht da gewesen wären, hätten sie wieder aussteigen wollen, der Mann sei jedoch sehr unfreundlich und aggressiv gewesen und hätte gemeint, dass sie sitzen bleiben müssten. So seien sie hierhergebracht worden und ihre Eltern seien zurückgeblieben. Ziel ihrer Reise sei Deutschland gewesen, wo eine Tante leben würde. Zum Grund der Flucht sei ihr nichts Genaueres bekannt, es sei die Entscheidung ihres Vaters gewesen.
Seitens des Bundesamtes wurde in der Folge versucht, über den Suchdienst des Roten Kreuzes Kontakt mit der in Deutschland lebenden Tante der Beschwerdeführerin und ihres Bruders hinsichtlich einer etwaigen Übernahme der beiden Kinder durch diese aufzunehmen. Ein in der Folge durch einen Sozialarbeiter geführtes Telefonat mit der Tante der Kinder ergab, dass diese mit der momentanen Betreuung der Kinder in Österreich zufrieden sei, regelmäßig mit ihnen in Kontakt stünde und der Wunsch einer Übernahme derselben in ihre Obhut nach Deutschland nicht mehr gegeben wäre.
Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 18.03.2021 gab die minderjährige Beschwerdeführerin im Beisein ihrer gesetzlichen Vertretung und einer Vertrauensperson auf Befragen an, völlig gesund zu sein, sie sei ein paar Mal beim Arzt gewesen und es ginge ihr jetzt besser. Ihre bisherigen Angaben seien wahrheitsgemäß gewesen und korrekt rückübersetzt worden. Die minderjährige Beschwerdeführerin sei in Herat-Stadt geboren worden, bekenne sich zum islamischen Glauben schiitischer Ausrichtung und sei über ihre Volksgruppenzugehörigkeit nicht in Kenntnis. In der Stadt Herat habe sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder gelebt. Sie sei jung gewesen, als sie ausreisten, ihr damaliges genaues Alter könne sie nicht nennen. Zuvor hätten sich ihre Eltern getrennt und ihr Vater habe eine andere Frau geheiratet. Diese sei Sunnitin, weshalb sie als schiitische Familie Probleme mit der sunnitischen Familie der neuen Frau ihres Vaters bekommen hätten und Afghanistan verließen. Im Iran hätten sie für etwa fünf Jahre gelebt, ihre beiden Halbbrüder seien im Iran geboren worden. Im Jahr 2019 hätten sie den Iran verlassen und seien über die Türkei nach Griechenland gereist, wo sich gegenwärtig ihr Vater mit ihren Halbbrüdern und seiner neuen Frau aufhielte. Die leibliche Mutter der Beschwerdeführerin befinde sich im Iran. Erziehungsberechtigt sei lediglich ihr Vater. Zur neuen Frau ihres Vaters habe sie ein gutes Verhältnis, welches jedoch nicht so wie jenes zu ihrer leiblichen Mutter wäre. Weshalb sie nicht bei ihrer Mutter im Iran geblieben wäre, wisse sie nicht, sie habe dies nicht entschieden und wäre gerne bei ihrer leiblichen Mutter. Ihr Vater habe sie nicht alleine nach Deutschland geschickt, sie seien von Schleppern in verschiedenen Autos in unterschiedliche Länder gebracht und in Griechenland getrennt worden. Ihr Vater halte sich in Thessaloniki in Griechenland auf und es wäre ihr Wunsch, wieder mit diesem zu leben. Sie würde gerne in Österreich leben, doch seien sie hier alleine. Sie hätten zu ihrer in Deutschland lebenden Tante mütterlicherseits gewollt. Ihr Vater habe es so ausgemacht und bezahlt, dass die Beschwerdeführerin und ihr Bruder alleine mit dem Schlepper nach Deutschland gebracht werden sollten.
Die Beschwerdeführerin sei im Iran zwei Jahre zur Schule gegangen. Grund der Ausreise in den Iran sei eine Bedrohung ihres Vaters durch die Familie seiner neuen Frau gewesen, da er Schiit sei. Die Beschwerdeführerin habe sowohl mit ihrer leiblichen Mutter als auch mit ihrem Vater Kontakt. Nach Afghanistan habe sie keine Kontakte mehr. Die Beschwerdeführerin sei in Afghanistan nie aufgrund ihrer Religion oder Volksgruppenzugehörigkeit verfolgt worden.
Zum Grund ihrer Flucht führte die Beschwerdeführerin aus, sie sei ein Mädchen und es gebe in Afghanistan für sie nicht solche Möglichkeiten wie in Österreich. Auch sei sie gegen die afghanische Kultur, da ein Mädchen in sehr jungen Jahren verheiratet werde. Aus diesen Gründen wolle sie nicht nach Afghanistan zurück. Von ihr habe bislang niemand verlangt, eine Ehe einzugehen. Von den Möglichkeiten, welche jungen Menschen in Österreich offen stünden, habe sie erst hier erfahren. Sie habe keine individuellen Ausreisegründe, doch hätten Frauen, wie gesagt, in Afghanistan nicht das Recht, eigene Entscheidungen zu treffen. Zu ihren Erwartungen für den Fall einer Rückkehr nach Afghanistan gab die Beschwerdeführerin an, sie habe dort niemanden und sehe sich nicht in der Lage, alleine oder mit ihrem kleinen Bruder dorthin zurück zu kehren.
In Österreich habe sie in der Schule Freunde, sie habe bereits beginnende Deutschkenntnisse, möchte gerne Ärztin oder Friseurin werden und auf eigenen Beinen stehen. In Afghanistan würde sie nicht so wie in Österreich leben können, es würde sie stören, wenn andere Personen für sie entscheiden würden. Ob sie in Afghanistan eine Schule besuchen könnte, wisse sie nicht, sie glaube es jedoch nicht.
Mit Eingabe vom 22.03.2021 wurde durch die Vertretung der Beschwerdeführerin ein Foto der griechischen Karte für Asylwerber des Vaters der Beschwerdeführerin übermittelt.
In einer am 12.04.2021 eingebrachten Stellungnahme der Vertretung der Beschwerdeführerin wurde zusammengefasst ausgeführt, aufgrund der Minderjährigkeit der Beschwerdeführerin sei die Behörde bei der Prüfung des Antrages angehalten, das Kindeswohl als oberste Priorität zu beachten. Die dreizehnjährige Beschwerdeführerin habe zu Afghanistan keinen Bezug mehr und wäre bei einer Rückkehr als unbegleitetes lediges Kind ohne Familienanschluss auf sich alleine gestellt, sodass ihr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen/jungen Mädchen bzw. der verlassenen Kinder ohne familiären Anschluss drohen würde. Die Beschwerdeführerin halte sich erst seit kurzer Zeit in Österreich auf, allerdings genieße sie bereits jetzt die neuen Freiheiten, die sie als Mädchen in Österreich hätte. Sie könne selbst entscheiden, wie sie sich kleide, zeige erstes Interesse an Schminke und habe die Hobbies Tanzen und Musik Hören. Sie ginge gerne in die Schule, wolle später einen Beruf erlernen und von niemandem abhängig sein. Diese Einstellung stehe im eindeutigen Widerspruch zum in Afghanistan vorherrschenden traditionell-religiösen gesellschaftlichen Frauenbild. Diese würde als minderjähriges unbegleitetes Mädchen ohne männlichen Schutz und ohne familiären Anschluss in fast allen Teilen Afghanistans einem erhöhten Risiko ausgesetzt sein, Eingriffe in ihre physische und psychische Integrität zu erleiden. Dieses Risiko sei sowohl als generelle die afghanischen Frauen betreffende Gefährdung zu sehen (Risiko, Opfer einer Vergewaltigung oder eines sonstigen Übergriffs zu werden), als auch als spezifische Gefährdung, bei nonkonformem Verhalten einer Bestrafung ausgesetzt zu sein. Es bestehe durchaus die Gefahr, dass sich die Beschwerdeführerin mit zunehmendem Alter und aufgrund des in Österreich bereits in Ansätzen erfahrenen Wachstums an Selbstbewusstsein in Afghanistan mit eigenem Verhalten dem Verdacht aussetzen würde, sich nicht an die mit der Religion verbundenen Riten und Gebräuche zu halten. Erschwerend komme hinzu, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um in unbegleitetes minderjähriges Mädchen in der Pubertät handle, das weder über ein familiäres noch ein soziales Netzwerk in Afghanistan verfüge, bei einer Rückkehr auf sich alleine gestellt wäre und selbst für sich sorgen müsste. Es sei zudem zu befürchten, dass sieOpfer von sexueller Gewalt und Ausbeutung würde und/oder dazu gezwungen würde, eine Kinderehe einzugehen. Die Situation in afghanischen Waisenhäusern sei als äußerst fragwürdig und keineswegs kindgerecht einzustufen. Im aktuellen LIB zu Afghanistan werde über Gewalt, Misshandlung und sexuelle Übergriffe berichtet. In Zusammenhang mit den von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Problemen aufgrund der Eheschließung ihres schiitischen Vaters mit einer Sunnitin sei eine Verfolgung aufgrund einer Sippenhaftung als Angehörige durch die Familie ihrer Stiefmutter nicht auszuschließen.
Beiliegend übermittelt wurde eine Stellungnahme des SOS-Kinderdorfs vom 09.04.2021.
In einer weiteren Stellungnahme vom 11.06.2021 verwies die Vertretung der Beschwerdeführerin zum aktualisierten Länderberichtsmaterial auf die Ausführungen in der Stellungnahme vom 12.04.2021 sowie die zusehends verschlechterte Situation auch für Kinder durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie. Zudem befinde sich die Beschwerdeführerin in wöchentlicher psychotherapeutischer Behandlung.
2. Mit dem nunmehr hinsichtlich Spruchpunkt I. angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.06.2021 wurde der Antrag auf internationalen Schutz der minderjährigen Beschwerdeführerin gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) sowie der minderjährigen Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihr gemäß § 8 Abs. 4 leg.cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres erteilt (Spruchpunkt III.).
Begründend wurde ausgeführt, die minderjährige Beschwerdeführerin habe eine ihr aktuell in Afghanistan individuell drohende Gefahr nicht glaubhaft gemacht. Dem Vorbringen der Beschwerdeführerin habe sich nicht entnehmen lassen, dass diese im Vorfeld der Ausreise einer Bedrohung ausgesetzt gewesen wäre. Der Vater der Beschwerdeführerin habe offensichtlich versucht, die Beschwerdeführerin und ihren ebenfalls minderjährigen Bruder zur in Deutschland lebenden Tante „vorauszuschicken“, zumal die Einreise im Zuge eines Familienverfahrens die einfachste Möglichkeit darstellen würde, um von Griechenland nach Österreich zu gelangen. Zum Vorbringen einer Bedrohung ihres schiitischen Vaters durch die Brüder der sunnitischen Stiefmutter im Jahr 2015 sei anzumerken, dass ein Zusammenleben zwischen Schiiten und Sunniten sehr wohl möglich erscheine und auch in der Herkunftsregion der minderjährigen Beschwerdeführerin in Herat verschiedene Ethnien ansässig seien. Eine gezielte Verfolgung von Angehörigen einer bestimmten Konfession lasse sich den Länderberichten nicht entnehmen und es ergebe sich auch aus den Angaben der minderjährigen Beschwerdeführerin nicht, dass eine asylrelevante Verfolgungshandlung in diesem Zusammenhang jemals stattgefunden hätte. Aufgrund ihres erst kurzen Aufenthaltes und ihres Alters von 13 Jahren werde nicht von einer intensiven „Verwestlichung“ ausgegangen, welche etwa nach einer Rückkehr nach Afghanistan zu Sanktionen oder Diskriminierung führen würde. Die diesbezüglichen Aussagen der Beschwerdeführerin würden sich auf knappe, einstudiert wirkende, Sätze beschränken. Eine Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausschließlich aufgrund der Minderjährigkeit komme nicht in Betracht und würde dazu führen, dass eine Schleppung von Kindern und anschließendes Nachkommen von Angehörigen zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für die gesamte Familie führen würde, obwohl eine entsprechende Gefahr bei keinem Familienmitglied vorgelegen hätte. Das Kindeswohl finde insofern Berücksichtigung, als eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werde.
Da die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Minderjährigkeit und des derzeit nicht vorhandenen Unterstützungsnetzwerks bei einer Rückkehr nach Afghanistan ohne familiären Anschluss Gefahr laufen würde, eine Verletzung in ihren durch Art. 3 EMRK garantierten Rechten zu erleiden, sei dieser der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen.
3. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides wurde durch die bevollmächtigte Vertreterin der Beschwerdeführerin mit Eingabe vom 14.07.2021 die gegenständliche Beschwerde erhoben. Begründend wurde ausgeführt, die Beschwerdeführerin habe in Afghanistan keine weiteren nahen Verwandten, die sich um sie kümmern würden und verfüge über kein soziales Netz in Afghanistan, da sie das Land bereits vor über fünf Jahren verlassen hätte und seither bis zur Flucht nach Europa im Iran gelebt hätte. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde die Beschwerdeführerin als vulnerables unmündiges minderjähriges Mädchen ohne familiären Anschluss in eine ausweglose Lage geraten. Bei einer Rückkehr und Neuansiedelung bestehe die Gefahr von sexuellen Übergriffen, Missbrauch sowie Zwangsverheiratung, da diese niemanden habe, der sie vor derartigen Gefahren schützen würde. Hinzu komme, dass die Beschwerdeführerin bereits an die neuen Freiheiten für Mädchen in Österreich gewöhnt sei; sie entscheide selbst, welche Kleidung sie trage, ihre Hobbies seien Musik hören, Tanzen und Schminken, sie sei dabei, Inlineskaten zu lernen und fahre mit dem Fahrrad zur Schule. All dies wäre ihr in Afghanistan nicht ohne Weiteres möglich. Den Länderberichten lasse sich eine katastrophale, von Gewalt geprägte, Situation in Waisenhäusern und Kinderheimen entnehmen, sodass die Beschwerdeführerin auf sich selbst gestellt und zur Kinderarbeit gezwungen wäre. Die Länderberichte der Behörde seien allgemein gehalten und würden sich nicht mit der konkreten Situation der unmündigen minderjährigen Beschwerdeführerin ohne familiären Anschluss in Afghanistan auseinandersetzen. Die Stellungnahme des SOS Kinderdorfs sowie die Stellungnahme der Vertretung vom 09.04.2021 seien im Bescheid weitgehend unberücksichtigt geblieben. Die Annahme, dass der Vater der Beschwerdeführerin diese bei einer Rückkehr begleiten würde, sei nicht nachvollziehbar. Es sei notorisch, dass die Asylbehörde bei jeder Entscheidung auf die Umstände zum Entscheidungszeitpunkt abzustellen habe. Hätte das BFA näher ermittelt und das Kindeswohl beachtet, so wäre es zu dem Schluss gekommen, dass der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der (westlich orientierten) jungen Frauen bzw. aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden jungen Mädchen/Kinder ohne familiären Anschluss in Afghanistan asylrelevante Verfolgung drohe. Zudem könnte dieser aufgrund ihrer langen Abwesenheit und ihrer immer stärker ausgeprägten „westlichen“ Orientierung eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden. Schließlich sei nicht gesichert, dass der Beschwerdeführerin ein Schulbesuch in Afghanistan weiterhin möglich sein würde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin und ihrem Fluchtgrund:
1.1.1. Die im Jahr 2007 geborene Beschwerdeführerin führt die im Spruch ersichtlichen Personalien, ist Staatsangehörige Afghanistans, spricht muttersprachlich Dari, bekennt sich zum islamischen Glauben schiitischer Ausrichtung und lebte von Geburt an bis zu ihrer etwa im Jahr 2015 erfolgten Ausreise im Familienverband in der Stadt Herat. Über ihre Volksgruppenzugehörigkeit hat die minderjährige Beschwerdeführerin keine Kenntnis.
Infolge der Trennung ihrer Eltern ging der Vater der Beschwerdeführerin eine Beziehung mit einer sunnitischen Frau ein. In der Folge übersiedelte die minderjährige Beschwerdeführerin im Familienverband mit ihrem Vater, ihrer Stiefmutter und ihrem jüngeren Bruder (nunmehriger Beschwerdeführer zu Zahl W192 2244838-1) in den Iran, wo vor rund drei Jahren die beiden Halbbrüder der Beschwerdeführerin geboren wurden und wo die Beschwerdeführerin rund zwei Jahre lang eine Schule besuchte. Im Jahr 2019 verließ der Vater der Beschwerdeführerin den Iran gemeinsam mit der Beschwerdeführerin, ihrem Bruder, ihren Halbbrüdern und ihrer Stiefmutter und reiste über die Türkei nach Griechenland, wo sich die Familie in der Folge rund acht Monate gemeinsam aufhielt. In der Folge wurde vom Vater der Beschwerdeführerin die schlepperunterstützte Weiterreise der Beschwerdeführerin und ihres Bruders Richtung Deutschland, wo eine Tante der Minderjährigen lebt, organisiert und finanziert. Die Beschwerdeführerin reiste sodann gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder unbegleitet und schlepperunterstützt nach Österreich, wurde am 10.09.2020 am Grenzübergang zu Deutschland von deutschen Beamten aufgegriffen und nach erfolgter Einreiseverweigerung am gleichen Datum von österreichischen Beamten rückübernommen und gemeinsam mit ihrem Bruder in einer Kindernotunterkunft untergebracht.
Am 29.09.2020 stellten die Beschwerdeführerin und ihr Bruder die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. Eine auf Initiative des Bundesamtes mithilfe des Suchdienstes des Roten Kreuzes erfolgte Kontaktaufnahme mit der in Deutschland lebenden Tante der Beschwerdeführerin führte zum Ergebnis, dass diese mit der Unterbringung der Beschwerdeführerin und ihres Bruders in Österreich einverstanden sei und eine Übernahme der Minderjährigen in ihre Obhut nach Deutschland nicht wünschte. Der Vater, die Stiefmutter und die Halbbrüder der Beschwerdeführerin halten sich unverändert als Asylwerber in Griechenland auf, die Beschwerdeführerin steht mit diesen in Kontakt. Die leibliche Mutter der Beschwerdeführerin hält sich nach wie vor im Iran auf, auch zu dieser besteht ein regelmäßiger Kontakt.
1.1.2. Die minderjährige Beschwerdeführerin war vor ihrer Ausreise keinen Verfolgungshandlungen in Afghanistan ausgesetzt.
Die minderjährige Beschwerdeführerin ist im Herkunftsstaat keiner Verfolgung durch Angehörige ihrer Stiefmutter ausgesetzt, da diese sich mit deren Eheschließung mit dem schiitischen Vater der Beschwerdeführerin nicht einverstanden gezeigt hätten.
Die dreizehnjährige Beschwerdeführerin lebt gegenwärtig in einem SOS Kinderdorf und besucht eine Neue Mittelschule, in ihrer Freizeit hört sie gerne Musik, tanzt und fährt mit dem Fahrrad zur Schule. Sie kleidet sich nach dem bei Schülerinnen ihres Alters typischen Kleidungsstil (Jeans, Shirt) und trägt kein Kopftuch. Sie hat sich beginnende Deutschkenntnisse angeeignet und äußerte den Wunsch, später den Beruf der Ärztin oder Friseurin zu erlernen und Entscheidungen selbständig treffen zu wollen. Bei der Beschwerdeführerin ist keine derart fortgeschrittene Persönlichkeitsentwicklung zu erkennen, aufgrund derer eine Verinnerlichung eines „westlichen Verhaltens“ oder eine „westliche Lebensführung“ als wesentlicher Bestandteil ihrer Identität angenommen werden kann. Die minderjährige Beschwerdeführerin hat keine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde.
Die Beschwerdeführerin ist aufgrund ihrer Minderjährigkeit keiner gezielten Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt und nicht konkret von einem sexuellen Missbrauch oder Kinderarbeit bedroht. Ebensowenig ist diese konkret von einer Zwangsverheiratung bedroht.
Es kann auch sonst nicht festgestellt werden, dass die minderjährige Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.
Die minderjährige Beschwerdeführerin leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD 10-F43.1) sowie an einer Anpassungsstörung (ICD 10-43.2) und befindet sich seit Ende Februar 2021 in psychotherapeutischer Behandlung in Form einer wöchentlichen Gesprächstherapie. Sie nimmt keine Medikamente ein, leidet an keinen Erkrankungen im physischen Bereich und erklärte im Verfahren vor dem Bundesamt, sich gesund zu fühlen.
1.1.3. Der minderjährigen Beschwerdeführerin wurde mit dem insofern in Rechtskraft erwachsenen Bescheid vom 15.06.2021 der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.
1.2. Zum Herkunftsstaat:
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).
Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).
Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021).
Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).
Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in Taliban-Gebieten arbeiten (NH 7.4.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt (NH 7.4.2021).
Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten - mehr als ein Viertel - als "schwer erreichbar" gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021). Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (UNOCHA 3.6.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).
Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurde berichtet, dass in 16 Provinzen aufgrund steigender Fallzahlen für 14 Tage die Schulen geschlossen würden (BAMF 31.5.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; vgl. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021, HRW 13.1.2021, UNOCHA 19.12.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, Martins/Parto 11.2020, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei später alle Grenzübergänge geöffnet wurden (IOM 18.3.2021). Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt (UNOCHA 3.6.2021; vgl. AnA 29.4.2021). Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet (UNOCHA 3.6.2021).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021). Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich (IOM AUT 25.5.2021).
Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) der Taliban eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020, USDOS 30.3.2021).
In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021; vgl. UNGASC 12.3.2021, AIHRC 28.1.2021).
Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat (UNGASC 12.3.2021; vgl. AAN 16.8.2020), scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020). Die Taliban hielten jedoch den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, einschließlich gefährdeter Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Autobahnen zu sichern und die Gewinne der Taliban rückgängig zu machen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar (UNGASC 12.3.2021).
Zivile Opfer
Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung (UNAMA 4.2021; vgl. UNSC 1.6.2021).
Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).
Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).
Obwohl ein Rückgang der durch regierungsfeindliche Elemente verletzten Zivilisten im Jahr 2020, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, festgestellt werden konnte, so gab es einen Anstieg zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch wahllos von Opfern aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021).
Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).(…)
Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet (UNAMA 4.2021; vgl. BAMF 19.4.2021) .
Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die "Woche der Gewaltreduzierung" vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Khorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021a; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021a; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Khost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).
High-profile Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente werden landesweit fortgesetzt, insbesondere in der Stadt Kabul. Zwischen dem 13.11.2020 und dem 11.2.2021 wurden 35 Selbstmordattentate dokumentiert, im Vergleich zu 42 im vorherigen Berichtszeitraum. Darüber hinaus wurden 88 Anschläge mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen verübt, 43 davon in Kabul, darunter auch gegen prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Gezielte Attentate, oft ohne Bekennerschreiben, nahmen weiter zu (UNGASC 12.3.2021).
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).
Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 1.7.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).
Opiumproduktion und die Sicherheitslage
Afghanistan ist das Land, in dem weltweit das meiste Opium produziert wird. In den letzten fünf Jahren entfielen etwa 84 % der globalen Opiumproduktion auf Afghanistan. Im Jahr 2019 ging die Anbaufläche für Schlafmohn zurück, während der Ernteertrag in etwa dem des Jahres 2018 entsprach (UNODC 6.2020; vgl. ONDCP 7.2.2020). Der größte Teil des Schlafmohns in Afghanistan wird im Großraum Kandahar (d.h. Kandahar und Helmand) im Südwesten des Landes angebaut (AAN 25.6.2020). Opium ist eine Einnahmequelle für Aufständische sowie eine Quelle der Korruption innerhalb der afghanischen Regierung (WP 9.12.2019); der Opiumanbau gedeiht unter Bedingungen der Staatenlosigkeit und Gesetzlosigkeit wie in Afghanistan (Bradford 2019; vgl. ONDCP 7.2.2020).
Herat
Letzte Änderung: 10.06.2021
Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden (UNOCHA Herat 4.2014). Herat ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Enjil, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kuhna, Obe, Pashtun Zarghun, Zendahjan und die „temporären“ Distrikte Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar, Kozeor), Zawol und Zerko (NSIA 1.6.2020; IEC Herat 2019), die aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden (AAN 3.7.2015; vgl. PAJ 1.3.2015). Ihre Schaffung wurde vom Präsidenten nach Inkrafttreten der Verfassung von 2004 aus Sicherheits- oder anderen Gründen genehmigt, während das Parlament seine Zustimmung (noch) nicht erteilt hat (AAN 16.8.2018). Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (NSIA 1.6.2020). Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans (P