TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/26 W192 2244838-1

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Veröffentlicht am 26.08.2021
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Entscheidungsdatum

26.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
BFA-VG §21 Abs7
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W192 2244838-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Ruso über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gesetzlich vertreten durch das Land Salzburg als Träger der Kinder- und Jugendhilfe, vertreten durch den Bürgermeister der Stadt Salzburg (Kinder- und Jugendhilfe), dieser vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.06.2021, Zahl: 1268664606-200875395, zu Recht:

A) Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 i.d.g.F. als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der minderjährige Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste gemeinsam mit seiner ebenfalls minderjährigen Schwester illegal und unbegleitet in das österreichische Bundesgebiet ein und wurde am 10.09.2020 beim versuchten Grenzübertritt Richtung Deutschland durch Organe der deutschen Bundespolizei aufgegriffen, welche die Einreise des Geschwisterpaares nach Deutschland verweigerten. Infolge Rückübernahme der beiden minderjährigen Kinder, welche über den Aufenthaltsort ihrer erziehungsberechtigten Eltern keine näheren Angaben erstatten konnten, wurden diese in eine Betreuungseinrichtung des Landes Salzburg verbracht.

Am 29.09.2020 wurde der minderjährige Beschwerdeführer im Verfahren über seinen an diesem Datum gestellten Antrag auf internationalen Schutz im Beisein seines gesetzlichen Vertreters vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Der minderjährige Beschwerdeführer gab an, aus Herat zu stammen und gemeinsam mit seiner zwölfjährigen Schwester gereist zu sein. Sein Vater, seine Stiefmutter und seine jüngeren Halbbrüder seien zuletzt in Griechenland aufhältig gewesen; der minderjährige Beschwerdeführer habe Afghanistan vor etwa fünf Jahren verlassen und seither im Iran gelebt, welchen die Familie vor etwa einem Jahr verlassen hätte. Der minderjährige Beschwerdeführer sei mit seiner Familie vom Iran über die Türkei nach Griechenland gereist und habe sich dort rund acht Monate aufgehalten. Anschließend seien sie durch Serbien nach Österreich gereist, unterwegs hätten sie seine Eltern verloren. Er sei dann zusammen mit seiner Schwester mit zwei Bekannten seines Vaters bis nach Österreich weitergereist. Über den aktuellen Aufenthaltsort seiner Eltern sei er nicht in Kenntnis. Ziel seiner Reise sei Deutschland gewesen, wo eine Tante leben würde. Zum Grund der Flucht sei ihm lediglich bekannt, dass seine Familie in Afghanistan von jemandem bedroht worden wäre und aus diesem Grund in den Iran geflüchtet sei, als der Beschwerdeführer fünf Jahre alt gewesen wäre. Vor einem Jahr habe er von seinen Eltern gehört, dass der Mann, welcher sie in Afghanistan bedroht hätte, sie im Iran wiedergefunden habe, sodass sie auch den Iran verlassen hätten.

Seitens des Bundesamtes wurde in der Folge versucht, über den Suchdienst des Roten Kreuzes Kontakt mit der in Deutschland lebenden Tante des Beschwerdeführers und seiner Schwester hinsichtlich einer etwaigen Übernahme der beiden Kinder durch diese aufzunehmen. Ein in der Folge durch einen Sozialarbeiter geführtes Telefonat mit der Tante der Kinder ergab, dass diese mit der momentanen Betreuung der Kinder in Österreich zufrieden sei, regelmäßig mit ihnen in Kontakt stünde und der Wunsch einer Übernahme derselben in ihre Obhut nach Deutschland nicht mehr gegeben wäre.

Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 18.03.2021 gab der minderjährige Beschwerdeführer im Beisein seiner gesetzlichen Vertretung und einer Vertrauensperson auf Befragen an, er sei gesund, benötige keine Medikamente und habe bei der Erstbefragung wahrheitsgemäße Angaben erstattet, welche ihm rückübersetzt worden seien. Der Beschwerdeführer habe nie ein identitätsbezeugendes Dokument besessen, er gehöre dem islamischen Glauben schiitischer Ausrichtung an und sei über seine Volksgruppenzugehörigkeit nicht in Kenntnis. Der Beschwerdeführer sei im Jahr 2010 in der Stadt Herat geboren worden und habe dort während seiner ersten vier bis fünf Lebensjahre mit seinen Eltern gelebt. Seine Eltern hätten sich getrennt, sein Vater sei eine Beziehung mit einer anderen Frau eingegangen. Sein Vater sei mit dem Beschwerdeführer, seiner Schwester und der Stiefmutter in den Iran gegangen, wo sie etwa fünf Jahre verblieben wären und wo seine beiden Halbbrüder vor etwa zwei Jahren geboren worden wären. Von seiner leiblichen Mutter hätte er jahrelang nichts mehr gehört. Nunmehr habe er wieder telefonischen Kontakt zu seiner im Iran lebenden leiblichen Mutter. Im Jahr 2019 habe sein Vater mit ihm, seiner Schwester und den Halbbrüdern den Iran verlassen. Sie seien über die Türkei nach Griechenland gereist und dort getrennt worden. Seine Schwester und er seien schlepperunterstützt Richtung Deutschland gereist und seien am 10.09.2020 von den deutschen Behörden nach Österreich rücküberstellt worden. Zu seinem Vater bestehe aktuell Kontakt, dieser befinde sich immer noch in einem Camp in Griechenland. Er habe den Wunsch, dass sein Vater, seine Stiefmutter und seine Halbbrüder nach Österreich kämen. Der minderjährige Beschwerdeführer habe im Iran ein Jahr lang die Schule besucht. In Afghanistan habe er keine sozialen Bindungen mehr. Weshalb sein Vater nicht gemeinsam mit ihm aus Griechenland ausgereist wäre, sei dem minderjährigen Beschwerdeführer nicht bekannt.

Zum Grund seiner Ausreise aus dem Heimatland führte der minderjährige Beschwerdeführer aus, sie seien Schiiten und seine neue Mutter sei Sunnitin. Sein Vater sei seinerzeit von den Brüdern seiner neuen Mutter bedroht worden, weshalb sie in den Iran reisten. Mehr sei ihm nicht bekannt. Persönliche Ausreisegründe habe er nicht. Ihm sei es in Afghanistan jedoch nicht gut gegangen, da er Angst aufgrund des dortigen Bürgerkrieges gehabt hätte. An ein bestimmtes Ereignis in diesem Zusammenhang könne er sich nicht erinnern, es handle sich um allgemeine Befürchtungen. Was passieren würde, wenn er mit seiner Schwester nach Afghanistan zurückkehren würde, sei ihm nicht bekannt, sie hätten jedoch große Angst. Der Beschwerdeführer habe nie Probleme in Zusammenhang mit seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seiner Religion gehabt, ebensowenig sei er von Problemen mit den Behörden seines Heimatlandes betroffen gewesen.

In Österreich habe er bereits viele Freunde, es ginge ihm hier gut und er habe bereits beginnende Kenntnisse der deutschen Sprache.

Mit Eingabe vom 22.03.2021 wurde durch die Vertretung des Beschwerdeführers ein Foto der griechischen Karte für Asylwerber des Vaters des Beschwerdeführers übermittelt.

In einer am 09.04.2021 eingebrachten Stellungnahme der Vertretung des Beschwerdeführers wurde zusammengefasst ausgeführt, aufgrund der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers sei die Behörde bei der Prüfung des Antrages angehalten, das Kindeswohl als oberste Priorität zu beachten. Der elfjährige Beschwerdeführer habe zu Afghanistan keinen Bezug mehr und wäre bei einer Rückkehr als unbegleitetes lediges Kind ohne Familienanschluss auf sich alleine gestellt, sodass ihm mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Kinder ohne familiären Anschluss drohen würde. Die Situation in afghanischen Waisenhäusern sei als äußerst fragwürdig und keineswegs kindgerecht einzustufen. Im aktuellen LIB zu Afghanistan werde über Gewalt, Misshandlung und sexuelle Übergriffe berichtet. Vor diesem Hintergrund sei der Beschwerdeführer ohne Schutz durch männliche Verwandte jedenfalls auch gefährdet, als „Bacha Bazi“ (Tanzjunge) angeheuert zu werden. Bei einer Rückkehr wäre der minderjährige Beschwerdeführer zudem gezwungen, für sich selbst zu sorgen und würde daher Opfer von Kinderarbeit werden. Die Behörde habe es verabsäumt, den Beschwerdeführer zu kinderspezifischen Fluchtgründen zu befragen. Von einem unmündigen minderjährigen Antragsteller könne nicht erwartet werden, dass er von sich aus potentielle Risiken bei einer Neuansiedelung in Afghanistan kenne. In Zusammenhang mit den vom Beschwerdeführer vorgebrachten Problemen aufgrund der Eheschließung seines schiitischen Vaters mit einer Sunnitin sei eine Verfolgung aufgrund einer Sippenhaftung als Angehöriger durch die Familie seiner Stiefmutter nicht auszuschließen. Dazu werde beantragt, die Niederschrift der Befragung des Vaters zu den Fluchtgründen aus Griechenland anzufordern. Aufgrund der dargestellten Gefährdungspotentiale werde ersucht, dem Antrag auf internationalen Schutz stattzugeben.

In einer weiteren Stellungnahme vom 11.06.2021 verwies die Vertretung des Beschwerdeführers zum aktualisierten Länderberichtsmaterial auf die Ausführungen in der Stellungnahme vom 09.04.2021 sowie die zusehends verschlechterte Situation auch für Kinder durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie.

2. Mit dem nunmehr hinsichtlich Spruchpunkt I. angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.06.2021 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des minderjährigen Beschwerdeführers gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) sowie dem minderjährigen Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 leg.cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend wurde ausgeführt, der minderjährige Beschwerdeführer habe eine ihm aktuell in Afghanistan individuell drohende Gefahr nicht glaubhaft gemacht. Dem Vorbringen des Beschwerdeführers habe sich nicht entnehmen lassen, dass dieser im Vorfeld der Ausreise einer Bedrohung ausgesetzt gewesen wäre. Dessen Angaben zur fehlenden Kenntnis über die Umstände und Gründe der Trennung von seinem nach wie vor in Griechenland aufhältigen Vater würden im Ergebnis nicht nachvollziehbar und einstudiert wirken. Der Vater des Beschwerdeführers habe offensichtlich versucht, den Beschwerdeführer und seine ebenfalls minderjährige Schwester zur in Deutschland lebenden Tante „vorauszuschicken“, zumal die Einreise im Zuge eines Familienverfahrens die einfachste Möglichkeit darstellen würde, um von Griechenland nach Österreich zu gelangen. Von seiner Schwester sei in diesem Zusammenhang angegeben worden, dass der Vater es so ausgemacht und bezahlt hätte, dass der Beschwerdeführer und sie allein mit dem Schlepper nach Deutschland gebracht werden sollten. Zum Vorbringen einer Bedrohung des schiitischen Vaters durch die Brüder der sunnitischen Stiefmutter im Jahr 2015 sei anzumerken, dass ein Zusammenleben zwischen Schiiten und Sunniten sehr wohl möglich erscheine und auch in der Herkunftsregion des minderjährigen Beschwerdeführers in Herat verschiedene Ethnien ansässig seien. Eine gezielte Verfolgung von Angehörigen einer bestimmten Konfession lasse sich den Länderberichten nicht entnehmen und es ergebe sich auch aus den Angaben des minderjährigen Beschwerdeführers nicht, dass eine asylrelevante Verfolgungshandlung in diesem Zusammenhang jemals stattgefunden hätte. Ein Eingreifen in das in Griechenland geführte Asylverfahren des Vaters sei nicht geboten. Eine Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ausschließlich aufgrund der Minderjährigkeit komme nicht in Betracht und würde dazu führen, dass eine Schleppung von Kindern und anschließendes Nachkommen von Angehörigen zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen würde, obwohl eine entsprechende Gefahr bei keinem Familienmitglied vorgelegen hätte. Die in der Stellungnahme der gesetzlichen Vertreterin angeführten Gefährdungen einer Heranziehung als „Bacha Bazi“ würden sich auf ausschließliche Mutmaßungen beschränken. Das Kindeswohl finde insofern Berücksichtigung, als eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werde.

Da der Beschwerdeführer aufgrund seiner Minderjährigkeit und des derzeit nicht vorhandenen Unterstützungsnetzwerks bei einer Rückkehr nach Afghanistan ohne familiären Anschluss Gefahr laufen würde, eine Verletzung in seinen durch Art. 3 EMRK garantierten Rechten zu erleiden, sei diesem der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen.

3. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides wurde durch die (durch die gesetzliche Vertretung des Beschwerdeführers) bevollmächtigte Organisation mit Eingabe vom 15.07.2021 die gegenständliche Beschwerde erhoben. Begründend wurde ausgeführt, der Beschwerdeführer habe in Afghanistan keine weiteren nahen Verwandten, die sich um ihn kümmern würden und verfüge über kein soziales Netz in Afghanistan, da er das Land bereits vor über fünf Jahren verlassen hätte und seither bis zur Flucht nach Europa im Iran gelebt hätte. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde der Beschwerdeführer als unmündiger minderjähriger Bub ohne familiären Anschluss in eine ausweglose Lage geraten. Bei einer Rückkehr und Neuansiedelung bestehe die Gefahr von Übergriffen, Missbrauch sowie die Ausbeutung des Minderjährigen, da dieser niemanden habe, der ihn vor solchen Gefahren schütze. Den Länderberichten lasse sich eine katastrophale, von Gewalt geprägte Situation in Waisenhäusern und Kinderheimen entnehmen, sodass der Beschwerdeführer auf sich selbst gestellt und zur Kinderarbeit gezwungen wäre. Die Länderberichte der Behörde seien allgemein gehalten und würden sich nicht mit der konkreten Situation des unmündigen minderjährigen Beschwerdeführers ohne familiären Anschluss in Afghanistan auseinandersetzen. Dem angefochtenen Bescheid fehle eine Auseinandersetzung mit der aus der Minderjährigkeit resultierenden Vulnerabilität des Beschwerdeführers ebenso wie eine Auseinandersetzung mit kinderspezifischen Fluchtgründen. Das Vorbringen eines sehr jungen Beschwerdeführers könne nicht mit „normalen Maßstäben“ gemessen werden. Die Annahme, dass der Vater des Beschwerdeführers diesen bei einer Rückkehr begleiten würde, sei nicht nachvollziehbar. Es sei notorisch, dass die Asylbehörde bei jeder Entscheidung auf die Umstände zum Entscheidungszeitpunkt abzustellen habe und es lägen zudem keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Vater des Beschwerdeführers nach der Dublin III-Verordnung nach Österreich kommen würde. Hätte das BFA näher ermittelt und das Kindeswohl beachtet, so wäre es zu dem Schluss gekommen, dass dem Beschwerdeführer aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der (unmündigen) alleinstehenden Kinder in Afghanistan asylrelevante Verfolgung drohe. Die Behörde habe keine näheren Ermittlungen zur vom Beschwerdeführer vorgebrachten großen Angst vor einer Rückkehr nach Afghanistan sowie zu den Fluchtgründen des Vaters getätigt. Zudem sei nicht gesichert, dass dem Beschwerdeführer ein Schulbesuch in Afghanistan weiterhin möglich sein würde. Nach Ansicht des UNHCR könnten auch von ihren Eltern verlassene Kinder als soziale Gruppe aufgefasst werden. Alleinstehende Kinder würden als solche wahrgenommen, da diese nicht im Familienverband leben und nach außen hin als solche auftreten würden. Kinder, die obdachlos, verlassen oder sonst ohne elterliche Betreuung seien, können einem erhöhten Risiko von sexualisierter Gewalt und Ausbeutung oder Rekrutierung bzw. Verwendung durch Streitkräfte/bewaffnete Gruppierungen oder kriminelle Banden ausgesetzt sein. Dem UNHCR-Exekutivkomitee zufolge würden kinderspezifische Formen von Verfolgung unter anderem auch die Rekrutierung von Minderjährigen und Kinderhandel, Gewalt in der Familie und häusliche Gewalt, Zwangs- oder Kinderhandel, Gewalt in der Familie und häusliche Gewalt, Zwangs- oder Kinderheirat, Kinder in Schuldknechtschaft, gefährliche Kinderarbeit, Zwangsarbeit, Zwangsprostitution und Kinderpornographie umfassen. Eine Auseinandersetzung mit diesen Merkmalen, die aufgrund der Verdichtung der Risiken zu einer Situation maßgeblicher Verfolgungsgefahr führen könnten, habe das BFA nicht vorgenommen. Dem Beschwerdeführer drohe aufgrund seiner Eigenschaft als alleinstehendes Kind asylrelevante Verfolgung, da er dadurch systematisch Opfer von Gewalt, Missbrauch und Kinderarbeit werden würde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Fluchtgrund:

1.1.1. Der im Jahr 2010 geborene Beschwerdeführer führt die im Spruch ersichtlichen Personalien, ist Staatsangehöriger Afghanistans, er spricht muttersprachlich Dari, bekennt sich zum islamischen Glauben schiitischer Ausrichtung und lebte von Geburt an bis zur seiner etwa im Jahr 2015 erfolgten Ausreise im Familienverband in der Stadt Herat. Über seine Volksgruppenzugehörigkeit hat der minderjährige Beschwerdeführer keine Kenntnis.

Infolge der Trennung seiner Eltern ging der Vater des Beschwerdeführers eine Beziehung mit einer sunnitischen Frau ein. In der Folge übersiedelte der minderjährige Beschwerdeführer im Familienverband mit seinem Vater, seiner Stiefmutter und seiner älteren, ebenfalls minderjährigen, Schwester (nunmehrige Beschwerdeführerin zu Zahl W192 2244840-1) in den Iran, wo vor rund drei Jahren die beiden Halbbrüder des Beschwerdeführers geboren wurden und wo der Beschwerdeführer rund ein Jahr lang eine Schule besuchte. Im Jahr 2019 verließ der Vater des Beschwerdeführers den Iran gemeinsam mit dem Beschwerdeführer, seiner Schwester, seinen Halbbrüdern und seiner Stiefmutter und reiste über die Türkei nach Griechenland, wo sich die Familie rund acht Monate gemeinsam aufhielt. In der Folge wurde vom Vater des Beschwerdeführers die schlepperunterstützte Weiterreise des Beschwerdeführers und seiner Schwester Richtung Deutschland, wo eine Tante der Minderjährigen lebt, organisiert und finanziert. Der Beschwerdeführer reiste sodann gemeinsam mit seiner ebenfalls unmündig minderjährigen Schwester unbegleitet und schlepperunterstützt nach Österreich, wurde am 10.09.2020 am Grenzübergang bei der versuchten Weiterreise nach Deutschland von deutschen Beamten aufgegriffen und am gleichen Datum nach erfolgter Einreiseverweigerung von österreichischen Beamten rückübernommen und gemeinsam mit seiner Schwester in einer Kindernotunterkunft untergebracht.

Am 29.09.2020 stellten der Beschwerdeführer und seine Schwester die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. Eine auf Initiative des Bundesamtes mithilfe des Suchdienstes des Roten Kreuzes erfolgte Kontaktaufnahme mit der in Deutschland lebenden Tante des Beschwerdeführers führte zum Ergebnis, dass diese mit der Unterbringung des Beschwerdeführers und seiner Schwester in Österreich einverstanden sei und eine Übernahme der Minderjährigen in ihre Obhut nach Deutschland nicht wünsche. Der Vater, die Stiefmutter und die Halbbrüder des Beschwerdeführers halten sich unverändert als Asylwerber in Griechenland auf, der Beschwerdeführer steht mit diesen in Kontakt. Die leibliche Mutter des Beschwerdeführers hält sich gegenwärtig im Iran auf.

1.1.2. Der minderjährige Beschwerdeführer war vor seiner Ausreise keinen Verfolgungshandlungen in Afghanistan ausgesetzt.

Der minderjährige Beschwerdeführer ist im Herkunftsstaat keiner Verfolgung durch Angehörige seiner sunnitischen Stiefmutter ausgesetzt, da diese sich mit deren Eheschließung mit dem schiitischen Vater des Beschwerdeführers nicht einverstanden gezeigt hätten.

Der Beschwerdeführer ist aufgrund seiner Minderjährigkeit keiner gezielten Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt und nicht konkret von einem sexuellen Missbrauch, Kinderarbeit oder Zwangsrekrutierung bedroht.

Der minderjährige Beschwerdeführer hat nicht dargelegt, dass er eine Lebensweise angenommen hat, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde.

Es kann auch sonst nicht festgestellt werden, dass der minderjährige Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.

Der minderjährige Beschwerdeführer ist gesund und benötigt keine medizinische Behandlung.

1.1.3. Dem minderjährigen Beschwerdeführer wurde mit dem insofern in Rechtskraft erwachsenen Bescheid vom 15.06.2021 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

1.2. Zum Herkunftsstaat:

Familienrecht

Letzte Änderung: 11.06.2021

Artikel 54 der Verfassung Afghanistans besagt, dass die Familie der Grundpfeiler der Gesellschaft ist und vom Staat geschützt werden soll. Er verpflichtet den Staat, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die körperliche und geistige Gesundheit der Familie, insbesondere des Kindes und der Mutter, die Erziehung der Kinder sowie die Beseitigung damit verbundener Traditionen, die den Prinzipien des Islam widersprechen, zu erreichen (Musawah 11.2019; vgl. CoA 26.1.2004).

Die Regelungen zum afghanischen Familienrecht für die sunnitische Mehrheit sind im afghanischen Zivilgesetzbuch von 1977 festgeschrieben (VfSt 31.10.1990; vgl. MPI-AoRuVR 7.2012, Musawah 2.2020, ACCORD 22.1.2021, ZGB-AFGH 5.1.1977). Für die schiitische Minderheit in Afghanistan gilt seit 2009 das schiitische Personenstandsrecht (Musawah 2.2020; vgl. SPSL 2009).

Sorgerecht und Vormundschaft

Letzte Änderung: 01.04.2021

Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht führt an, dass die elterliche Obsorge ein Schutzverhältnis ist, das den Interessen des minderjährigen Kindes dient. Sie stellt ein Recht dar, an das sich Verpflichtungen knüpfen und das für alle gilt. Das Hauptaugenmerk liegt auf der elterlichen Verantwortung und damit auf dem verpflichtenden Aspekt. Im islamischen Recht ist das elterliche Sorgerecht in drei Kategorien eingeteilt: Sorgerecht, Vormundschaft der Person bzw. der Erziehung und Vormundschaft des Eigentums (ACCORD 22.1.2021; vgl. MPI-AoRuVR 7.2012).

Sorgerecht

Sorgerecht (hed?nat) bezieht sich auf die Betreuung eines Kleinkindes in seinen frühen Lebensjahren, wenn es von einer Frau betreut wird. Diese Pflege wird von der Mutter oder einer anderen zu diesem Zweck beauftragten Frau übernommen (ACCORD 22.1.2021; vgl. MPI-AoRuVR 7.2012, ZGB-AFGH 5.1.1977).

Die Voraussetzungen, die eine Frau vorweisen muss, um das Sorgerecht übernehmen zu können, werden in Artikel 238 des afghanischen Zivilgesetzbuchs angeführt: eine Frau, die das Sorgerecht für ein Kind übernimmt, muss zurechnungsfähig, reif und vertrauenswürdig sein. Sie muss die Fähigkeit haben, das Kind zu pflegen und zu erziehen (ACCORD 22.1.2021; vgl. ZGB-AFGH 5.1.1977)

Dieses Sorgerecht gilt laut afghanischem Zivilgesetzbuch und schiitischem Personenstandsrecht für Söhne bis zum Alter von sieben Jahren und für Töchter bis zum Alter von neun Jahren (ACCORD 21.1.2021; vgl. ZGB-AFGH 5.1.1977, SPSL-AFGH 2009). Die Kosten für die Obsorge hat der Vater des Kindes zu tragen, außer das Kind besitzt Eigentum, dann werden die Kosten für die Obsorge davon bezahlt, außer wenn der Vater sie trotzdem übernimmt (ACCORD 21.1.2021; vgl. ZGB-AFGH 5.1.1977).

Vormundschaft

Wenn das Sorgerecht der Mutter endet, beginnt die Phase der Vormundschaft der Person durch den gesetzlichen Vormund. Die Vormundschaft der Person (vel?yat-e nafs) oder Vormundschaft der Erziehung (vel?yat-e tarbiyat) bezieht sich auf die Verpflichtung des gesetzlichen Vertreters, für Bildung, Erziehung, Entwicklung, Gesundheit und Sicherheit des Kindes zu sorgen. Der Vater des Kindes wird vor allen anderen als sein gesetzlicher Vertreter zum Vormund der Person ernannt (ACCORD 22.1.2021; vgl. MPI-AoRuVR 7.2012).

Die Vormundschaft des Eigentums (vel?yat-e amv?l) bezieht sich auf die Verpflichtung des gesetzlichen Vertreters, das Eigentum des Kindes zu verwalten. Auch hier ist zunächst der Vater als gesetzlicher Vertreter verpflichtet, das Vermögen des Kindes zu verwalten (ACCORD 22.1.2021; vgl. MPI-AoRuVR 7.2012).

Die Vormundschaft der Person endet mit dem Erreichen der Volljährigkeit (ACCORD 21.1.2021; vgl. ZGB-AFGH 5.1.1977, SPSL-AFGH 2009).

In der Praxis ist es möglich und auch üblich, dass ein Familienmitglied, zum Beispiel die ältere, verheiratete Schwester, die Vormundschaft für einen verwaisten Teenager übernimmt, ohne dass dies formell geklärt werde. Es ist aus rechtlicher oder religiöser Sicht für eine erwachsene, verheiratete Schwester möglich, die Vormundschaft für einen Teenager zu übernehmen, auch wenn es andere Verwandte gäbe, die in der Reihenfolge der Zuständigkeit vor ihr stünden, jedoch benötigt es in diesem Fall aus rechtlicher Sicht die Zustimmung derer, die in der Reihenfolge davor stünden. Ansonsten könnte dies rechtlich vor Gericht beeinsprucht werden. Auch sollte die Schwester in diesem Fall in der Lage sein, darzulegen, dass sie und ihr Mann die Interessen des Kindes besser wahrnehmen könnten, als die, welche in der Reihenfolge vor ihnen stehen (ACCORD 22.1.2021).

Das afghanische Zivilgesetzbuch hat einen "Rechtsansatz" für die Vormundschaft des Kindes und keinen "Verantwortungsansatz", so dass sie auch leicht von den Eltern auf andere Personen in der Reihe übertragen werden kann. Aber unter allen Umständen ist der Vater für den Unterhalt des Kindes (zur Deckung der finanziellen Kosten) bzw. für die Zahlung einer Vormundschaftsgebühr an den Vormund (Verwandten), wenn dieser solche Zahlungen verlangt, verantwortlich (RA KBL 15.7.2018).

Relevante Bevölkerungsgruppen

Kinder

Letzte Änderung: 11.06.2021

Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren insgesamt verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Von den ca. acht Millionen Schulkindern sind rund drei Millionen Mädchen. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab. Den geringsten Anteil findet man im Süden und Südwesten des Landes (Helmand, Uruzgan, Zabul und Paktika). Nach Angaben der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch den Konflikt verursachten zivilen Opfer unter Kindern im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 25 Prozent zurückgegangen. Im Jahr 2020 gab es insgesamt 2.019 zivile minderjährige Opfer, darunter 565 getötete Kinder und 1.454 verletzte Kinder. Im Jahr 2019 betrug die Gesamtzahl der minderjährigen Opfer in der Zivilbevölkerung 2.696, darunter 445 getötete und 2.251 verletzte Kinder (AIHRC 28.1.2021). UNAMA zählte 2019 874 getötete und 2.275 verletzte Kinder (3%-Anstieg im Vergleich zu 2018), dies entspricht 30% aller zivilen Opfer (AA 16.7.2020).

Die afghanische Bevölkerung ist eine der jüngsten und am schnellsten wachsenden der Welt - mit rund 47% der Bevölkerung (27,5 Millionen Afghanen) unter 25 Jahren und 46% (11,7 Millionen Kinder) unter 15 Jahren (UNFPA 18.12.2018; vgl. NSIA 1.6.2020). Das Durchschnittsalter liegt in Afghanistan bei 18,4 Jahren (WoM 6.10.2020) und die Volljährigkeit beginnt mit dem 18. Geburtstag, wobei einige politische Kräfte dies mit Verweis auf die Scharia ablehnen. Die Zwangsverheiratung auch von Kindern unter dem gesetzlichen Mindestalter der Ehefähigkeit – 18 Jahre für Männer, 16 für Frauen (mit Zustimmung des Vaters 15 Jahre) – ist weit verbreitet (AA 16.7.2020).

Das Familienleben gilt als Schnittstelle für Fürsorge und Schutz. Armut, schlechte Familiendynamik und der Verlust wichtiger Familienmitglieder können das familiäre Umfeld für Kinder stark beeinflussen. Die afghanische Gesellschaft ist patriarchal (ältere Männer treffen die Entscheidungen), patrilinear (ein Kind gehört der Familie des Vaters an) und patrilokal (ein Mädchen zieht nach der Heirat in den Haushalt des Mannes). Die wichtigste soziale und ökonomische Einheit ist die erweiterte Familie, wobei soziale Veränderungen, welche mit Vertreibung und Verstädterung verbunden sind, den Einfluss der Familie etwas zurückgedrängt haben. Zu Hause und Familie sind private Bereiche. Das Familienleben findet hinter schützenden Mauern statt, welche allerdings auch familiäre Probleme vor der Öffentlichkeit verbergen (Ventevogel et al. 2013).

Während des gesamten Jahres 2020 rekrutierten die Taliban, die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche bewaffnete Gruppen weiterhin Kinder. Die regierungsfeindlichen Elemente rekrutierten und verwendeten Kinder sowohl für Kampf- als auch für Dienstfunktionen. Während die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte insgesamt Fortschritte bei der Verhinderung der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern gemacht haben, gibt der Einsatz von Kindern durch die afghanische Nationalpolizei zu Dienst- und sexuellen Zwecken und in geringerem Maße der Einsatz von Kindern durch die Territorial Force der afghanischen Nationalarmee (ANA-TF) und die [Anm.: in Auflösung begriffene] afghanische Lokalpolizei (ALP) für Kampffunktionen weiterhin Anlass zu großer Sorge. Zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 2020 verifizierte UNAMA die Rekrutierung und den Einsatz von 196 Jungen, wobei die meisten Fälle in den nördlichen und nordöstlichen Regionen des Landes auftraten. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass Rekrutierung und Einsatz von Kindern in Afghanistan oft nicht gemeldet werden (UNAMA 2.2021a).

Schulbildung in Afghanistan

Letzte Änderung: 11.06.2021

Die akademische Freiheit wird weitgehend in den von der Regierung kontrollierten Gebieten ausgeübt. Neben dem öffentlichen Schulwesen gab es 2020 einen Zuwachs an privaten Bildungsmöglichkeiten, wobei neue Universitäten volle Autonomie von der Regierung genießen.

Der Schulbesuch ist in Afghanistan bis zum Abschluss der Unterstufe der Sekundarschule (d.h. nach sechs Jahren Grundschule und drei Jahren Sekundärbildung) verpflichtend (USDOS 30.3.2021; vgl. IOM 2019). Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger das Recht auf Bildung. Ob ein Kind tatsächlich in der Schule eingeschrieben wird, hängt vom Bildungsstand der Familie ab. Bildung wird vom Staat bis zum Hochschulabschluss in staatlichen Bildungseinrichtungen kostenlos zur Verfügung gestellt. Das Bildungsministerium hat aber keine ausreichenden Ressourcen, um die Bedürfnisse für ganz Afghanistan abzudecken (STDOK 4.2018).

In Afghanistan existieren zwei Bildungssysteme parallel zueinander. Für den Religionsunterricht sind die Mullahs in den Moscheen zuständig, während die Regierung für den kostenlosen akademischen Unterricht an den staatlichen Schulen sorgt. Von 6 bis 10 Jahren besuchen die Schülerinnen und Schüler Grundschulen, in denen sie die Grundlagen des Lesens, Schreibens, Rechnens und ihrer nationalen Kultur erlernen. Es folgen drei Jahre Mittelschule. Am Ende der Phase müssen die Schülerinnen und Schüler eine Prüfung ablegen, wenn sie ihre Schulbildung fortsetzen wollen. In der Sekundarschule haben die Schüler die Wahl, entweder drei Jahre lang eine akademische Laufbahn fortzusetzen, die vielleicht zur Universität führen könnte, oder stattdessen Fächer wie angewandte Landwirtschaft, Luftfahrt, Kunst, Handel und Lehrerausbildung zu belegen. Beide Studiengänge schließen mit einer "Bachelor"-Prüfung ab (IOM 2019).

Kinder können in Afghanistan öffentliche, private oder religiöse Schulen besuchen (EASO 4.2019). Der Unterricht in öffentlichen Bildungseinrichtungen von der Grundschule bis einschließlich der Universität ist kostenlos. Nur private Schulen und Universitäten heben Studiengebühren ein (IOM 2019). Die Regierung versorgt die Schüler mit Schulbüchern. Jedoch sind das Budget und die Anzahl der Bücher meistens nicht ausreichend; auch wird das Unterrichtsmaterial oft zu spät zugestellt: z.B. vier Monate nach Unterrichtsbeginn. Aus diesen Gründen gibt es in Afghanistan einen Schwarzmarkt für Bücher, wo Familien kopierte Versionen der Schulbücher erwerben können. Der Staat versucht vergebens, dies zu verhindern. Die Regierung bietet weder Stipendien an, noch stellt sie Schulmaterialien für ärmere Familien zur Verfügung. In besonders verarmten Gebieten verteilen Organisationen wie UNICEF Schulmaterialien. Solche Hilfsaktionen betreffen allerdings nur die ländlichen Gebiete und auch dort ist das Ausmaß nicht ausreichend: in der Regel werden zwischen 80 und 100 Schulen versorgt. Einige private Schulen vergeben Stipendien, z.B. die Afghan-Turk-Schule. Meistens handelt es sich hierbei um Leistungsstipendien für Schüler von der siebten bis zur zwölften Klasse. Jedes Jahr werden zwischen 100 und 150 Stipendien je nach Kapazität der Schule vergeben (STDOK 13.6.2019).

Laut UNICEF wird in Afghanistan 3,7 Millionen Kindern im Alter zwischen 7 und 17 Jahren die Schulbildung vorenthalten, 60% von ihnen sind Mädchen (UNICEF 23.8.2020). Gemäß Schätzungen der CSO [Anm.: jetzt NSIA, Statistikbehörde Afghanistans] besuchten im Zeitraum 2016-17 landesweit 56,1% der Kinder im Grundschulalter eine Grundschule (CSO 2018; vgl. STDOK 10.2020). Es existieren allerdings erhebliche Unterschiede hinsichtlich des Geschlechts und Wohnorts: Während 77,5% der Buben in urbanen Gebieten und 66% in ländlichen Gebieten eine Grundschule besuchten, waren es bei den Mädchen 45,5% im städtischen Raum und 40,3% auf dem Land. Nur schätzungsweise 6,6% der Angehörigen der nomadischen Gruppe der Kuchi im Grundschulalter besuchten im Zeitraum 2016-17 eine Grundschule (10% der Buben und 2,5% der Mädchen). Im Bereich der sekundären und tertiären Schulbildung (Mittelschule/höhere Schule, bzw. Universität) sind die Schulbesuchsraten in allen genannten Gruppen niedriger (CSO 2018).

Die Schulbesuchsrate unter Buben aus Rückkehrerfamilien liegt bei 55%, während es bei den Mädchen nur 30% sind. Unter den Binnenvertriebenen (internally displaced persons, IDPs) besuchen 64% der Buben und 42% der Mädchen eine Schule (UNHCR 5.2018). Damit beispielsweise Kinder von Binnenvertriebenen und speziell von Rückkehrern aus Pakistan auch die Möglichkeit zum Schulbesuch haben, arbeitet das Norwegian Refugee Council (NRC) mit dem afghanischen Bildungsministerium zusammen, um Schulen mit Unterrichtsmaterialien zu unterstützen und die Kapazitäten in diesen Institutionen zu erweitern (STDOK 4.2018).

Als Gründe für die niedrigen Schulbesuchsraten werden insbesondere bei Mädchen kulturelle Gegebenheiten, wahrgenommene oder tatsächliche Unsicherheit und die Distanz bis zur nächsten Schule genannt. Für alle Kinder ist Armut neben Wohnort, Geschlecht und etwaigen Behinderungen, ein bestimmender Faktor für den Schulbesuch oder -abbruch, bzw. Nichteintritt (EASO 4.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, UNICEF 23.8.2020). Direkte Angriffe und Drohungen gegen Lehrer, Schulen und Schüler sowie wahllose Angriffe, die denselben beiläufig Schaden zufügen, behindern den Zugang von Kindern zu Bildung in Afghanistan zusätzlich (UNAMA 2.2021a). Kinder mit psychischen Problemen, Angehörige von ethnischen oder religiösen Minderheiten, unterschiedlichem linguistischem Hintergrund, Bewohner von Slums, Straßenkinder, Kinder von saisonal migrierenden Familien, Flüchtlinge und Binnenvertriebene gehen einer Studie zufolge überproportional oft nicht zur Schule. Ebenso wirkt sich Kinderarbeit negativ auf den Bildungsverlauf der betroffenen Kinder aus (EASO 4.2019).

Neben der Qualität der Ausbildung ist die niedrige Schuleintrittsrate ein Hauptproblem des afghanischen Bildungssystems (EASO 4.2019), auch wird von Mängeln hinsichtlich der Infrastruktur der Schulen - beispielsweise bei der Strom- und Wasserversorgung sowie den Sanitäranlagen (SIGAR 2.2018; SIGAR 3.2017) - bzw. fehlenden Schulgebäuden berichtet (SIGAR 30.1.2019). Die Gelder für die Instandhaltung der Schulen sind sehr gering und so werden diese oft von den Eltern zur Verfügung gestellt, oder von internationalen Organisationen wie UNICEF, die auch Wartungsarbeiten bzw. Reparaturen durchführen. In einigen Fällen, z.B. wenn das Schulgebäude zu klein und die Zahl der Schüler zu groß ist, wird der Unterricht in Zelten durchgeführt. Hierbei stellen die Wetterbedingungen oft eine Herausforderung dar: Herat ist z.B. oft starken Winden ausgesetzt, dadurch sind Zelte dort nicht als Unterrichtsstätten geeignet. Bezüglich der Schulzeit wird Afghanistan in „kalte“ und „warme“ Provinzen aufgeteilt: In ersteren schließen die Schulen mangels Heizmöglichkeiten im Winter und in letzteren wird der Unterricht wegen der hohen Temperaturen im Sommer unterbrochen (STDOK 13.6.2019).

Sowohl staatliche Sicherheitskräfte als auch die Taliban nützen Schulen als Militärposten (USDOS 30.3.2021). Zwischen dem 1.1.2020 und dem 31.12.2020 verifizierte UNAMA 62 Vorfälle, die den Zugang von Kindern zu Bildung beeinträchtigten. Dazu gehörten Angriffe, die auf Schulen und Madrassas abzielten oder diese zufällig beschädigten, die Tötung, Verletzung und Entführung von Bildungspersonal und Schülern sowie Drohungen gegen Bildungseinrichtungen und Personal (UNAMA 2.2021a). Im Mai 2021 explodierte eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi in Kabul, einer von mehrheitlich schiitischen Hazara bewohnten Gegend, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen getötet und mehr als 100 verletzt wurden (HRW 10.5.2021; vgl. AJ 9.5.2021, RFE/RL 9.5.2021, BBC 9.5.2021, NYT 9.5.2021, TN 8.5.2021).

Auch wird Korruption als ein Problem des afghanischen Bildungssektors genannt (HRW 30.6.2020). Lehrer sind oftmals unterqualifiziert und das Lernumfeld für die Kinder inadäquat. Die Anzahl der Lehrer korreliert zudem nicht mit der Anzahl an Schülern und ist regional ungleich verteilt (EASO 4.2019). Es besteht der Verdacht, dass Lehrposten aufgrund von Nepotismus und Bestechung vergeben werden (SIGAR 30.1.2019). Insbesondere in den Provinzen wird der Lehrberuf aufgrund der niedrigen Bezahlung und der Sicherheitsrisiken als wenig attraktiv wahrgenommen (EASO 4.2019).

Die COVID-19-Pandemie führte zu periodischen Schulschließungen im ganzen Land, wodurch der Zugang der Kinder zu Bildung im Jahr 2020 noch schwieriger wurde (UNAMA 2.2021a).

Kinderarbeit und Waisenhäuser

Letzte Änderung: 11.06.2021

Afghanistan hat die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Kinderarbeit ist in Afghanistan somit offiziell verboten (AA 16.7.2020). Trotz Verbesserungen mangelt es nach wie vor an einer wirksamen Regelung zur Verhinderung von Kinderarbeit. Nach afghanischem Recht ist das Mindestalter für eine Erwerbstätigkeit 18 Jahre, jedoch können Kinder zwischen 15 und 17 Jahren arbeiten, wenn „die Arbeit nicht schädlich ist, weniger als 35 Stunden pro Woche beträgt und eine Form der Berufsausbildung darstellt“. Kinder unter 14 Jahren dürfen nicht arbeiten (EASO 4.2019). Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2018 sind insbesondere zwei Faktoren zentral: 1.) ob eine Familie intakt ist, oder bedeutsame Ernährer der Familie (Väter) fehlen; 2.) ist auch die Haltung der Familien, insbesondere der Eltern, gegenüber Kinderarbeit und Bildung von Bedeutung (APPRO 4.2018).

Viele Familien, insbesondere die mit weiblichem Oberhaupt, sind auf die Einkünfte, die ihre Kinder erwirtschaften, angewiesen (AA 16.7.2020; vgl. ILO 2018). Daher ist eine konsequente Umsetzung des Kinderarbeitsverbots schwierig. Es gibt Programme, die es Kindern erlauben sollen, neben der Arbeit eine Schulausbildung zu absolvieren. Auch ein maximaler Stundensatz und Maßnahmen zum Arbeitsschutz (wie z.B. das Tragen einer Schutzmaske beim Teppichknüpfen) sind gesetzlich geregelt. Der Regierung fehlt es allerdings an durchsetzungsfähigen Überprüfungsmechanismen dieser gesetzlichen Regelungen. 6,5 Millionen Kinder gelten als Gefahren ausgesetzt. Viele Kinder sind unterernährt. Straßenkinder gehören zu den am wenigsten geschützten Gruppen Afghanistans und sind jeglicher Form von Missbrauch und Zwang ausgesetzt (AA 16.7.2020).

Im Jahr 2014 haben laut AIHRC (Children’s Situation Summary Report vom 14.Dezember 2014) 51,8% der Kinder in Afghanistan auf die ein oder andere Weise gearbeitet (AA 16.7.2020). Die CSO (Central Statistics Organization) [Anm.: jetzt NSIA, Statistikbehörde Afghanistans] schätzte den Anteil der arbeitenden Kinder gemäß der Definition von Kinderarbeit der International Labour Organization (ILO) unter den fünf- bis 17-Jährigen im Zeitraum 2013-14 auf 26,5%. Gemäß der Definition von Kinderarbeit durch UNICEF waren nach CSO-Schätzung im selben Zeitraum 29,4% der fünf- bis 17-Jährigen in Kinderarbeit involviert, wobei UNICEF - anders als ILO - auch Tätigkeiten im Haushalt berücksichtigt. Bei beiden Definitionen von Kinderarbeit lag der Anteil der arbeitenden Buben (ILO: 32,7%; UNICEF: 34,1%) über jenem der Mädchen (ILO: 19,6%; UNICEF: 24,2%). Kinderarbeit ist unter IDPs weiter verbreitet, als in anderen Bevölkerungsschichten (NRC 27.9.2018).

Arbeitsgesetze sind meist unbekannt und Vergehen werden oftmals nicht sanktioniert. Arbeitende Kinder sind besonders gefährdet, Gewalt oder sexuellen Missbrauch zu erleiden. Dies kann durch den Arbeitgeber, aber auch durch andere Personen geschehen. Für Kinder, welche ungeschützt im öffentlichen Raum arbeiten, besteht beispielsweise ein erhöhtes Risiko von Entführungen, sexuellen Übergriffen und in manchen Fällen auch Tötungen (APPRO 4.2018).

Neben Kinderarbeit, welche ausschließlich dem Gelderwerb dient, existieren in Afghanistan auch Beschäftigungsverhältnisse von Kindern, welche sich an einem Lehrmodell orientieren. Eltern geben ihre Kinder dabei bei einem Arbeitgeber in die Lehre, um dem Kind das Erlernen eines Berufs zu ermöglichen. Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2018 erfüllen viele Arbeitgeber ihre Pflichten gegenüber den Kindern und behandeln diese entsprechend, jedoch können Arbeitgeber bei Vergehen gegenüber den Kindern kaum zur Rechenschaft gezogen werden (APPRO 4.2018).

Beobachtungen verschiedener Organisationen, darunter IOM, Weltbank, UNICEF und ILO, deuten darauf hin, dass Kinderarbeit während der COVID-19-Krise für viele Familien zu einem Bewältigungsmechanismus geworden ist. Mit Stand März 2021 sind staatliche Schulen geschlossen, was die Situation für die Kinder verschlechtert und sie zwingt, Vollzeit zu arbeiten (IOM 18.3.2021; vgl. UNICEF 12.6.2020). In Koordination mit dem Afghanistan Protection Cluster (APC) führte IOM 1.659 Haushaltsbefragungen bei undokumentierten Rückkehrern durch, um die Auswirkungen von COVID-19 auf das Umfeld des Schutzes in elf Provinzen zu untersuchen. Vorläufige Ergebnisse weisen auf eine Zunahme der Kinderarbeit an einigen Orten hin: Ghor und Sar-i-Pul waren die Provinzen mit den höchsten Raten, welche im Juni 2020 ihren Höchststand erreichten (mit 81% bzw. 63%) (IOM 23.9.2020; vgl. GPC 5.5.2020).

Waisenhäuser

Die Lebensbedingungen in afghanischen Waisenhäusern sind schlecht. Laut NGOs sind bis zu 80% der vier- bis 18-Jährigen in den Waisenhäusern keine Waisen, sondern Kinder, deren Familien nicht für ihre Verpflegung, Unterkunft oder Bildung sorgen können. Kinder in Waisenhäusern berichteten von psychischem, physischem und sexuellem Missbrauch, manchmal werden sie auch zu Opfern von Menschenhandel. Sie haben keinen regelmäßigen Zugang zu Wasser, Heizung im Winter, Sanitäranlagen innerhalb des Hauses, Gesundheitsleistungen, Freizeiteinrichtungen oder Bildung (USDOS 30.3.2021).

Sexueller Missbrauch und körperliche Züchtigung von Kindern

Letzte Änderung: 11.06.2021

Obwohl gesetzlich verboten, bleibt die körperliche Bestrafung in Schulen, Rehabilitationszentren und anderen öffentlichen Einrichtungen weit verbreitet (USDOS 30.3.2021; vgl. APPRO 4.2018, UNSC 29.3.2019). Dem afghanischen Strafgesetzbuch zufolge, stehen Kindesmissbrauch und -vernachlässigung unter Strafe. Körperliche oder geistige Züchtigung sowie Misshandlung eines Kindes können wie folgt bestraft werden: eine Geldstrafe von 10.000 Afghanis (rund 130 USD), bis zu einem Jahr Gefängnis, vorausgesetzt das Kind erleidet keine schweren Verletzungen oder Behinderung. Der Straftatbestand der Gefährdung des Lebens eines Kindes wird mit einer Strafe von ein bis zwei Jahren Gefängnis oder einer Geldstrafe von 60.000 bis 120.000 Afghanis (ca. 800 bis 1.600 USD) in bar geahndet (USDOS 30.3.2021).

In weiten Teilen Afghanistans bleibt der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ein großes Problem. Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird gewöhnlich unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten verschwiegen oder verharmlost. Es wird von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen, da die Mehrheit der Vorfälle nicht angezeigt wird. UNAMA konnte in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 aufgrund der mit dem Thema verbundenen gesellschaftlichen Befindlichkeiten lediglich vier Fälle von sexueller Gewalt gegen Minderjährige überprüfen und dokumentieren. Ein Großteil der Täter hat keinerlei Unrechtsbewusstsein. Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen ist durch das afghanische Gesetz unter Strafe gestellt, die strafrechtliche Verfolgung scheint nur in Einzelfällen stattzufinden (AA 16.7.2020; vgl. UNAMA 24.2.2019).

Die afghanische Polizei war im Jahr 2018 nur begrenzt zur Bekämpfung von Sexualverbrechen fähig, teilweise aufgrund der niedrigen Anzahl von Frauen in der Polizei (rund 1.8% der Kräfte). Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA in dieser Hinsicht 37 Fälle von sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Fünf Vergewaltigungen und eine Zwangsheirat wurden von UNAMA bestätigt, welche von Konfliktparteien begangen wurden - unter anderem von Mitgliedern der Taliban sowie einer weiteren nicht identifizierten Person einer regierungsfeindlichen Gruppierung. In fünf von sechs Fällen wurden die Angeklagten von den Behörden belangt und verurteilt. UNAMA hat auch zwei Fälle von sexueller Gewalt gegen Buben durch Mitglieder der afghanischen Nationalpolizei überprüft; in einem Fall handelte es sich um Bacha Bazi (sog. „Tanzjungen“ auch „Knabenspiel“) (UNSC 29.3.2019).

Berichten zufolge kam zu Fällen von Misshandlung und sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch die Polizei. Minderjährige, welche sich in Missbrauchsfällen an die Polizei wandten, berichteten von weiterer Belästigung und Missbrauch durch Exekutivbeamte, insbesondere bei Fällen von Bacha Bazi, was Opfer davon abhielt, Vergehen zu melden (USDOS 30.3.2021). Es wird von sexuellen Übergriffen durch die Streitkräfte, der Afghan Local Police (ALP) und Afghan National Police (ANP) berichtet (HRC 28.1.2019; vgl. UNSC 29.3.2019; SIGAR 18.1.2018).

Bacha Bazi

Eine in Afghanistan praktizierte Form der Kinderprostitution ist Bacha Bazi, was in der afghanischen Gesellschaft in Bezug auf Jungen nicht als homosexueller Akt erachtet und als Teil der gesellschaftlichen Norm empfunden wird (AA 16.7.2020). Bacha Bazi ist eine Praxis, bei der Buben von reichen oder mächtigen Männern zur Unterhaltung, insbesondere Tanz und sexuellen Handlungen, ausgebeutet werden (UNAMA 24.2.2019, vgl. UNAMA 7.2020).

Mit einer Ergänzung zum Strafgesetz, die am 14.2.2018 in Kraft trat, wurde die Bacha-Bazi-Praxis erstmalig explizit unter Strafe gestellt (AA 16.7.2020). Das Anheuern von Bacha Bazi wird nun durch das revidierte Strafgesetzbuch als Straftat definiert und im Artikel 653 mit Strafe bedroht (MoJ 15.5.2017). Aber auch hier verläuft die Durchsetzung des Gesetzes nur schleppend und Straflosigkeit der Täter ist weiterhin verbreitet. Missbrauchte Jungen und ihre Familien werden oft von ihrer sozialen Umgebung ausgeschlossen und stigmatisiert; eine polizeiliche Aufklärung findet nicht statt (AA 16.7.2020).

Üblicherweise sind die Buben zwischen zehn und 18 Jahren alt (SBS 20.12.2016); viele von ihnen werden weggegeben, sobald sie erste Anzeichen eines Bartes haben (SBS 21.12.2016). Viele der Buben wurden entführt, manchmal werden sie auch von ihren Familien aufgrund von Armut an die Täter verkauft (SBS 20.12.2016; vgl. AA 16.7.2020).

Im Jahr 2020 wurden fünf Fälle von Bacha Bazi im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt dokumentiert (UNSC 30.3.2021).

Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (UMF)

Letzte Änderung: 11.06.2021

Mit dem Begriff „unbegleitete Minderjährige“ werden Personen bezeichnet, die unter 18 Jahre alt sind, bzw. das nationale Volljährigkeitsalter nicht erreicht haben und getrennt von ihren Eltern bzw. ohne die Obhut eines Vormundes leben (MPI 11.2017). Quellen zufolge entscheidet meist der weitere Familienkreis, ein minderjähriges Familienmitglied nach Europa zu schicken (EASO 2.2018), wobei Minderjährige oft selbst eine mögliche Migration ansprechen und schließlich ihre Familie davon überzeugen (Hall 19.7.2020). Ohne familiäre Unterstützung wäre es dem Minderjährigen meistens gar nicht möglich, die Reise nach Europa anzutreten; dies ist eine wichtige Netzwerkentscheidung, die u. a. die Finanzen der Familie belastet. Jedoch gibt es auch Fälle, in denen der Minderjährige unabhängig von seiner Familie beschließt, das Land zu verlassen und nach Europa zu reisen. Meist sind dies junge Leute aus gebildeten, wohlhabenden Familien. Dies wird oft durch den Kontakt zu Freunden und Bekannten im Ausland gefördert, die über soziale Medien ein idealisiertes Bild der Lebensbedingungen in Europa vermitteln (EASO 2.2018).

Eine von der norwegischen COI-Einheit Landinfo zitierte Analystin des AAN (Afghanistan Analysts Network), legt dar, dass Familien in Afghanistan in der Regel den Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied halten und genau Bescheid wissen, wo sich die Person aufhält und wie es ihr in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (STDOK 4.2018).

Die genaue Zahl der nach Afghanistan zurückkehrenden Minderjährigen, sowohl unbegleitet, von den Eltern getrennt oder gemeinsam mit ihrer Familie, kann von staatlichen Behörden nicht angegeben werden (STC 16.10.2018). Ca. 58% der Rückkehrer nach Afghanistan sind unter 18 Jahre alt (UKHO 4.2018). Der größte Teil rückkehrender Minderjähriger sind Buben (STC 16.10.2018). Schätzungen von IOM zufolge hat sich die Anzahl der nach Afghanistan zurückgekehrten UMF von 2.110 im Jahr 2015 auf 4.419 im Jahr 2017 verdoppelt (IOM/UNHCR 28.2.2018).

Das Ministerium für Arbeit, Soziales, Märtyrer und Behinderte (MoLSAMD) und das Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) bemühen sich, ein Unterstützungssystem für rückkehrende Minderjährige einzuführen. Die Verantwortung für rückkehrende UMF ist zwischen diesen beiden Ministerien aufgeteilt. Beide Ministerien haben unzureichende Mittel und Informationen. Trotz gut entwickelter rechtlicher Rahmenbedingungen für Minderjährige gibt es keine spezifischen Richtlinien oder Anordnungen für ihre Rückkehr und Reintegration (STC 16.10.2018). Die Möglichkeiten der Regierung, vulnerable Personen - viele von ihnen unbegleitete Minderjährige - zu helfen, sind begrenzt, und die Regierung ist dabei auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen (USDOS 30.3.2021).

UMF sind bei Rückkehr vulnerabel, auch bei vorhandener familiärer Unterstützung (Oxfam 1.2018). Eine Nachbetreuung für Familien von rückkehrenden UMF ist praktisch nicht existent (STC 16.10.2018) und es gibt keine auf UMF spezialisierten Reintegrationsprogramme (UKHO 4.2018). IOM legt im Rahmen des Reintegrationsprojektes Restart III ein besonderes Augenmerk auf u. a. unbegleitete Minderjährige. Nehmen diese an freiwilligen Rückkehr- oder Integrationsprojekten von IOM teil, muss gewährleistet sein, dass diese im Herkunftsland durch eine Bezugsperson empfangen werden, die sich auch faktisch um den Minderjährigen kümmern muss. Ebenso notwendig ist eine enge Zusammenarbeit mit dem Jugendwohlfahrtsträger bzw. dem jeweiligen Erziehungsberechtigten bzw. Vormund in Österreich und das Primat des Kindeswohls ist zu jedem Zeitpunkt sicherzustellen (STDOK 14.7.2020).

Eine größere Anzahl an unbegleiteten Minderjährigen ist auf der Suche nach Arbeit in den Iran, nach Pakistan, Europa und in urbane Zentren innerhalb Afghanistans migriert; viele von ihnen nutzten dafür Schlepperdienste (MPI 11.2017; vgl. USDOS 25.6.2020).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Die Feststellungen zu den vom Beschwerdeführer geführten Personalien ergeben sich aus seinen Angaben. Da die angeführten Personalien nicht durch die Vorlage von Identitätsdokumenten im Original belegt wurden, war die präzise Identität des minderjährigen Beschwerdeführers nicht zweifelsfrei festzustellen. Die Feststellungen zu seinem Alter ergeben sich aus seinen Angaben, welche mit seinem äußeren Erscheinungsbild laut dem im Verwaltungsakt ersichtlichen Lichtbild im Einklang stehen.

Die Feststellungen zu seiner Staatsangehörigkeit, zu seinem Religionsbekenntnis, seinem Geburtsort, seinem Leben in Herat sowie im Iran und seinen familiären Bindungen beruhen auf den dahingehend glaubwürdigen Angaben des minderjährigen Beschwerdeführers im Verfahren. Der Beschwerdeführer gab an, über seine Volksgruppe nicht in Kenntnis zu sein; durch die bei seiner niederschriftlichen Einvernahme anwesende Dolmetscherin wurde angemerkt, dass es wahrscheinlich sei, dass eine muttersprachlich Dari sprechende Person aus Herat der Volksgruppe der Tadschiken angehöre. Da jedoch der minderjährige Beschwerdeführer Probleme in Zusammenhang mit seiner Volksgruppenzugehörigkeit nicht vorgebracht hat und sich den Länderberichten keine Anhaltspunkte auf eine gegenwärtige gezielte Verfolgung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe in Afghanistan entnehmen lassen, konnte eine abschließende Feststellung der Volksgruppenzugehörigkeit des minderjährigen Beschwerdeführers unterbleiben.

Die Feststellungen zur Ausreise und zur Reisebewegung ergeben sich aus den nachvollziehbaren Ausführungen des minderjährigen Beschwerdeführers. Die näheren Hintergründe der Trennung des Beschwerdeführers und seiner Schwester von dem nach wie vor in Griechenland aufhältigen Teil der Familie lassen sich mangels konkreter Angaben des Beschwerdeführers hierzu nicht feststellen, es ist jedoch angesichts der dahingehenden Angaben der Schwester des Beschwerdeführers unstrittig, dass der Vater die schlepperunterstützte Weiterreise des Beschwerdeführers und seiner Schwester Richtung Deutschland bewusst organisiert und finanziert hat.

Die Feststellungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und der erteilten Aufenthaltsberechtigung stützen sich unmittelbar auf den angefochtenen Bescheid vom 15.06.2021.

2.2. In Bezug auf die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe ist zunächst festzuhalten, dass er diese in einem minderjährigen Alter erlebt hätte. Zur Berücksichtigung der Minderjährigkeit in der Beweiswürdigung hat der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen, dass etwa in einem Fall, in dem das fluchtauslösende Ereignis im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren erlebt wurde und diesem Ereignis eine mehrjährige Flucht nachfolgte, eine besonders sorgfältige Beurteilung der Art und Weise des erstatteten Vorbringens zu den Fluchtgründen erforderlich ist und die Dichte dieses Vorbringens nicht mit "normalen Maßstäben" gemessen werden darf. Es muss sich aus der Entscheidung erkennen lassen, dass solche Umstände in die Beweiswürdigung Eingang gefunden haben und dass darauf Bedacht genommen wurde, aus welchem Blickwinkel die Schilderung der Fluchtgeschichte erfolgte. Auf die Tatsache, dass ein Asylwerber seinen Heimatstaat als Minderjähriger verlassen hat, ist in der Entscheidung einzugehen. Im Lichte dieser Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist ersichtlich, dass es zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Minderjährigen einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung bedarf (vgl. etwa VwGH 29.01.2021, Ra 2020/01/0470, mwN.).

Wie in der Begründung des angefochtenen Bescheides zutreffend dargelegt worden ist, hat der minderjährige Beschwerdeführer unter Berücksichtigung seines minderjährigen Alters im gegenständlichen Verfahren eine ihm individuell drohende Verfolgung im Herkunftsstaat nicht glaubhaft gemacht. Dieser schilderte nachvollziehbar, dass er Afghanistan bereits im Jahr 2015 im Alter von etwa fünf Jahren gemeinsam mit seiner Familie verlassen hätte und fortan im Iran gelebt hätte. Zum diesbezüglichen Grund verwies der Minderjährige auf eine Bedrohung seines Vaters durch die Angehörigen seiner neuen Frau, welche nicht einverstanden gewesen wären, dass diese eine Beziehung zu einem Schiiten eingegangen wäre. Konkrete von ihm wahrgenommene Bedrohungshandlungen schilderte der Minderjährige nicht, sondern er verwies darauf, dass er von der Problematik lediglich aus Erzählungen seines Vaters wisse und selbst nie bedroht worden sei. Die Annahme, dass die Brüder seiner Stiefmutter den damals erst fünfjährigen Beschwerdeführer bei einer nunmehrigen hypothetischen Rückkehr mehr als sechs Jahre später aufgrund von Einwänden gegen die Beziehung zwischen ihrer Schwester und dem Vater des Beschwerdeführers bedrohen würden, erweist sich als rein spekulativ und keinesfalls ausreichend konkret um eine Gefährdung des Minderjährigen in diesem Zusammenhang feststellen zu können (vgl. zur erforderlichen Prognoseentscheidung VwGH 08.09.2016, Ra 2015/20/0217, mwN; vgl. zu der dabei vorzunehmenden einzelfallbezogenen Beurteilung VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009, mwN).

Einen Sachverhalt, aus welchem sich eine individuelle Bedrohung des Beschwerdeführers ableiten ließe, hat er mit diesem Vorbringen – auch unter Berücksichtigung seiner Minderjährigkeit – nicht aufgezeigt. Wie im angefochtenen Bescheid zutreffend dargelegt, hat der minderjährige Beschwerdeführer nicht vorgebracht, dass er im Vorfeld der Ausreise jemals Drohungen oder gar konkreten Übergriffen in diesem Kontext ausgesetzt gewesen wäre. Er hielt zudem ausdrücklich fest, lediglich allgemeine Befürchtungen aufgrund der Bürgerkriegssituation gehabt zu haben, wobei auch die Beschwerde keine darüberhinausgehenden konkreten Befürchtungen nannte.

Es wurde auch kein Vorbringen dazu erstattet, dass der elfjährige Beschwerdeführer allenfalls eine bestimmte Lebensweise verinnerlicht hätte, die ihn bei einer Rückkehr der Gefahr von Übergriffen aussetzen würde.

Der Beschwerdeführer hat im Verfahren auch nicht aufgezeigt, dass er alleine aufgrund seines minderjährigen Alters in Afghanistan konkret davon bedroht sein würde, Opfer sexuellen Missbrauchs oder einer Zwangsrekrutierung zu werden oder auf die Verrichtung von Kinderarbeit angewiesen zu sein. Konkrete, über die Nennung allgemeiner kinderspezifischer Gefährdungen in Afghanistan hinausgehende, individuelle Befürchtungen wurden vom Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang nicht genannt. Insbesondere brachte er nicht vor, in der Vergangenheit in Afghanistan bzw. innerhalb seines Familienverbandes Opfer von Gewalt geworden zu sein.

Den Länderberichten lässt sich nicht entnehmen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr konkret von einer Zwangsrekrutierung bedroht wäre. Die im angefochtenen Bescheid zur Rekrutierung Minderjähriger zitierten Berichte und die dort angeführten Zahlen von dokumentierten Fällen zeigen nicht auf, dass jeder in Afghanistan lebende männliche Minderjährige der konkreten Gefahr einer Zwangsrekrutierung unterliegt. Auch die Beschwerde zeigt keine Berichte auf, die eine systematische zwangsweise Rekrutierung sämtlicher männlicher Kinder/Jugendlicher durch regierungsfeindliche Gruppierungen nahelegen würden. Der Beschwerdeführer lebte in einem intakten Familienverband und es ergibt sich demnach auch unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände keine erhöhte Wahrscheinlichkeit einer – auch zwangsweisen – Rekrutierung durch regierungsfeindliche Gruppen.

Die Beschwerde hat zudem in allgemeiner Weise darauf verwiesen, dass Minderjährige in Afghanistan von Vergewaltigung und Missbrauch als „Tanzjungen“ bedroht wären, zeigte jedoch eine individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers in diesem Zusammenhang nicht auf, sodass nicht festzustellen war, dass der minderjährige Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat konkret davon bedroht ist, Opfer sexuellen Missbrauchs zu werden. Auch hat dieser nicht konkret dargelegt, dass er bei einer Rückkehr zu einer gefährlichen Form von Kinderarbeit gezwungen wäre.

In diesem Zusammenhang ist nochmals darauf zu verweisen, dass der minderjährige Beschwerdeführer im Vorfeld der Ausreise in einem intakten Familienverband mit seinen Eltern und Geschwistern gelebt hat und eine Rückkehr (ungeachtet der gegenwärtig unterschiedlichen Aufenthaltsstaaten innerhalb Europas) nur im Familienverband erfolgen würde, sodass nicht zu erkennen ist, dass der Beschwerdeführer bei einer (hypothetischen) Rückkehr auf sich alleine gestellt und demnach mit höherer Wahrscheinlichkeit von kinderspezifischen Risiken wie sexuellem Missbrauch oder Kinderarbeit betroffen wäre. Den Länderberichten lässt sich auch nicht entnehmen, dass für den

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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