Entscheidungsdatum
26.08.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W177 2158991-1/15E
Schriftliche Ausfertigung des am 20.07.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch BBU GmbH – Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 08.05.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung vom 20.07.2021 zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgeben und es wird XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 06.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am 08.11.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers nach dem AsylG 2005 statt. Der Beschwerdeführer gab an, afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Bamyan zu sein. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und Moslem schiitischer Glaubensrichtung. Seine Muttersprache sei Dari. Er habe in seinem Heimatland eine achtjährige Schulbildung erhalten und sei zuletzt als Polizist (ein Jahr in Kabul und sechs Jahre in Herat) tätig gewesen. Er sei traditionell verheiratet. Seine Ehefrau, seine Mutter und sein Bruder würden noch in Afghanistan leben. Die Schwester seiner Ehefrau würde in Österreich leben. Als Fluchtgrund gab er zusammengefasst an, dass er in Afghanistan in einem Gebiet, wo viele Paschtunen gelebt, als Polizeioffizier tätig gewesen sei. Die Bevölkerung habe mit den Taliban kooperiert und so sei seine Einheit oft verraten worden. Sie hätten daher oft gegen die Taliban gekämpft und wären deren Feinde gewesen. Auch hätten einige seiner Kollegen die Taliban unterstützt, weshalb der Beschwerdeführer als Verräter angesehen worden sei. Er habe dadurch schließlich seinen Dienst quittiert und hätte nun Angst, dass er von den Taliban getötet werde. Österreich sei sein Zielland gewesen. Im Falle einer Rückkehr wäre sein Leben wegen der Taliban in Gefahr.
3. Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (nunmehr kurz „BFA“) am 04.05.2017 gab der Beschwerdeführer an, gesund zu sein. Er legte medizinische Unterlagen vor, dass bei ihm Tuberkuloseverdacht bestanden, dieser sich jedoch nicht erhärtet habe. Er könne als identitätsbezeugende Dokumente seine Tazkira und seinen Führerschein vorlegen. Diese habe ihm seine Frau nachgeschickt. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und Moslem schiitischer Glaubensrichtung. Er stamme aus der Provinz Bamyan, wo er acht Jahre in die Schule gegangen und aufgewachsen sei. 2009 habe er die Polizeiakademie in Herat beendet und sei nach einem Jahr Dienst in Kabul wieder zurück nach Herat gegangen, wo er fünf weitere Jahre gearbeitet hätte. Er habe auch in anderen Provinzen militärischen Aufgaben erledigt und die Offiziersschule besucht. Er habe eine Waffenausbildung erhalten, mit Nachtsichtgeräten gearbeitet und sehr gut verdient.
In Afghanistan würden noch seine Frau, sein Tochter und sein Bruder leben. Seine Mutter habe noch einmal geheiratet, sodass kein Kontakt mehr zu ihr bestehe. Seine Gattin und seine Tochter würden sich in Herat aufhalten. Seine Tochter sei im Jahr 2016 geboren worden In Österreich halte sich die Schwester seiner Frau auf. Er selbst habe hier ein paar Bekanntschaften und bestreite seinen Lebensunterhalt von der Grundversorgung. In seinem Wohnort würde kein Deutschkurs angeboten, sodass er privat Deutsch lerne.
Hier habe noch keinen Kontakt mit Gerichten gehabt. In seinem Heimatland habe er auch keine Strafdelikte begangen, sei dort auch nicht politisch aktiv gewesen oder habe irgendwelche Probleme mit staatlichen Behörden gehabt. Er habe vor seiner Ausreise in Herat gelebt. Sein Heimatland habe er verlassen, weil er ein gesetzestreuer und erfolgreicher Polizist gewesen sei. Er sei in gefährlichen Einsätzen in Kampfhandlungen mit wichtigen Talibankommandanten verwickelt gewesen, wobei auch einige Kommandanten getötet worden wären. Jedoch hätten die Taliban Spione gehabt und so sei der Beschwerdeführer telefonisch bedroht und seine Gruppe angegriffen worden. Als die Situation sowohl aufgrund der Angriffe als auch der Spione unerträglich geworden wäre, habe er den Dienst beendet. Ein Leben sei für ihn Afghanistan nun nicht mehr möglich, weil er unbewaffnet sei. Auch wenn er frisch verheiratet und seine Frau schwanger gewesen sei, habe er sich entschlossen in den Iran zu fliehen. Im Iran sei die Lage aber nicht so gewesen, wie er sich diese vorgestellt hätte. Da er dort entweder nach Syrien hätte gehen müssen oder er illegal aufhältig gewesen wäre, habe er nach Europa weiterfliehen müssen. Fluchtauslösend sei ein Angriff auf seine Gruppe gewesen, bei der zwei seiner Leute getötet worden wären. Er selbst habe Befehlsgewalt über drei oder vier Fahrzeuge und fünf Personen gehabt.
Die Drohanrufe hätten begonnen, nachdem ein Mullah bei einem Einsatz getötet worden sei. Er habe den Leichnam des Mullahs auf die Polizeistation bringen lassen und wollte diesen den Taliban nur gegen die Rückgabe dreier Fahrzeuge herausgeben. Ebenso hätten die Taliban gemerkt, dass der Leichnam geschändet worden wäre. Diese Anrufe hätten etwas neun Monate vor seiner Ausreise begonnen. Er sei mit dem Tode bedroht worden, weil er einen Märtyrer schlecht behandelt hätte.
Es habe auch Angriffe gegeben, die direkt ihm und seiner Gruppe gegolten hätten. Einmal sei seine Gruppe im Konvoi mit Autos vom Sicherheitskommando und dem Geheimdienst gefahren, jedoch sei nur sein Auto angegriffen worden. Damals seien sie von der linken Seite aus einem Hinterhalt aus einer Entfernung von 15 bis 20 Meter angegriffen worden. Er habe danach auch noch Drohanrufe erhalten, auf die er erwidert hätte, dass er mit den Anrufern das Gleiche machen werde. Auf die Frage, warum der Angriff ihm persönlich hätte gelten sollen, gab der Beschwerdeführer an, dass er bereits Drohanrufe erhalten hätte. Eine Nummer herauszufinden sei nicht sehr schwierig und Schutz seitens der Regierung würde es nicht geben. Wenn er nach Hause gefahren sei, hätte er dies immer in zivil gemacht. Nachdem er den Dienst quittiert hätte, wäre noch zu Hause gewesen, bevor er Afghanistan verlassen habe. Einen weiteren Drohanruf habe er nicht mehr erhalten, jedoch habe es weiterhin Angriffe gegeben. Da das Haus eines Polizisten, der gegen die Taliban gekämpft hätte, angegriffen worden sei, habe er sich zur Flucht entschlossen.
Er selbst habe keine Taliban getötet, jedoch die Männer seines Trupps. Seine Vorgesetzten habe er nicht über die Vorfälle informiert, weil er diese selbst für Spione halten würde. Nach Kabul sei er nicht gezogen, weil er dort keine Anknüpfungspunkte habe und deswegen eine Ansiedlung nicht möglich gewesen wäre. Er habe zwar in Kabul gearbeitet, aber mit seiner Familie in Kabul zu leben, sei etwas Anderes, als alleine. Es sei dort einfach nicht sicher genug. Er vermute auch, dass seine Frau bedroht werde. Er selbst würde im Falle einer Rückkehr ebenfalls bedroht sein, weil die Taliban viel Geld bekommen würden, wenn er als Offizier getötet werde. Ebenso gäbe es tausende Fotos von ihm in Uniform, weshalb er alleine wegen seiner Tätigkeit für die Regierung getötet werde. In Kabul würden sich zahlreiche Spione der Taliban aufhalten. Er hätte Angst vor regierungsfeindlichen Kräften und um seine Familie. Seitens staatlicher Behörden habe er nichts zu befürchten, jedoch könnten diese ihm keinen ausreichenden Schutz bieten. Neben diesen allgemeinen Befürchtungen sei auch noch der Vorfall, wie er den Leichnam des Mullahs beschlagnahmt hätte, ein Grund, dass er verfolgt werde. Damals wären auch zwei seiner Männer getötet worden. Außerdem sei er deswegen auch direkt telefonisch mit Vergeltung bedroht worden. Er bitte auch noch zu bedenken, dass er als Polizist durch seine Kameraden geschützt gewesen wäre, er als Zivilist diesen Schutz jedoch nicht hätte.
Auf Vorhalt, dass er dann den Dienst nicht hätte beenden dürfen und auch den Länderfeststellungen eine begründetet Gefährdungslage für ihn nicht zu entnehmen sei, vermeinte der Beschwerdeführer, dass es Fotos von ihm gäbe und es für ihn zu gefährlich wäre, dass er in Afghanistan als Zivilist umherlaufe.
4. Mit Bescheid vom 08.05.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zusammengefasst aus, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers keiner Glaubwürdigkeitsprüfung habe Stand halten können. Es sei zwar glaubhaft, dass er Polizist gewesen sei, jedoch habe er keine individuelle Bedrohungs- bzw. Gefährdungslage vorbringen können. Zwar werde es als glaubhaft erachtet, dass der Beschwerdeführer in dem von ihm geschilderten Angriff verwickelt gewesen sei, jedoch habe er nicht glaubhaft darlegen können, dass dieser Angriff ihm persönlich gegolten hätte. Gegen eine Glaubwürdigkeit einer persönlichen Verfolgung spreche es auch, dass die Drohanrufe nur vage und oberflächlich geschildert worden wären.
Der Beschwerdeführer habe aufgrund der Angst, die der Polizeiberuf mit sich bringen würde, sein Heimatland verlassen, jedoch habe eine Gefährdungslage aufgrund einer wohlbegründeten Furcht, die aus einer direkten und individuellen Verfolgung resultieren würde, in keiner Weise nachvollzogen werden können. Ebenso sei der Beschwerdeführer kein „high profile target“, sodass ihm mit Kabul eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehen würde. Ebenso sei angemerkt, dass der Beschwerdeführer nicht mehr für die Regierung arbeiten würde und sich Anschläge in Kabul nur gegen Einrichtungen der Regierung und internationaler Hilfskräfte richten würden. Außerdem sei es möglich und zumutbar, dass der Beschwerdeführer auch in seine Heimatprovinz Bamyan oder nach Herat zurückkehren könnte.
Eine Wiederansiedlung in Afghanistan sei dem Beschwerdeführer in vielen, generell sicheren Teilen Afghanistans, aber vor allem in Kabul, zumutbar, zumal er jung, gesund und arbeitsfähig wäre. Bezüglich der Rückkehrentscheidung würde das öffentliche Interesse überwiegen.
5. Mit Verfahrensanordnung vom 09.05.2017 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 09.05.2017 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.
6. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, nunmehr vertreten durch Rechtsanwalt Edward W. DAIGENAULT, mit Schreiben vom 23.05.2017 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin wurde unter anderem festgehalten, dass es beim Beschwerdeführer aufgrund seiner Tätigkeiten sehr wohl als eine Person, die als „high profile target“ eingestuft werde, handeln würde. Dem Beschwerdeführer stünde daher auch keine innerstaatliche Fluchtalternative in seine Heimatprovinz oder nach Kabul offen, weil die Taliban überall Spione hätten, die seinen Aufenthaltsort herausfinden würden. Ebenso könnte der Beschwerdeführer gegen diese Bedrohung durch die Taliban keinen ausreichenden Schutz durch die afghanischen Behörden erhalten, sodass das glaubwürdig und nachvollziehbar geschilderte Fluchtvorbringen alleine deswegen asylrechtliche Relevanz habe. Des Weiteren wäre, in Bezug auf die in Afghanistan vorherrschende Sicherheitslage und Versorgungslage, dem Beschwerdeführer zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren gewesen. Abschließend wurde noch die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.
7. Mit Schreiben vom 23.05.2017 legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht gegenständliche Beschwerde samt Verfahrensakt vor und verzichtete auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.
8. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des BVwG vom 25.02.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung W258 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W177 neu zugewiesen.
9. Mit Schreiben vom 16.04.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht die Vollmachtsbekanntgabe ein, dass der Beschwerdeführer in gegenständlichem Verfahren nun durch den Rechtsanwalt Dr. Gregor KLAMMER rechtsfreundlich vertreten werde.
10. Mit Schreiben vom 18.06.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht die Vollmachtsbekanntgabe ein, dass der Beschwerdeführer in gegenständlichem Verfahren nun durch die BBU GmbH - Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen rechtsfreundlich vertreten werde.
11. Am 16.07.2021 legte die Rechtsvertretung des BF einen ergänzenden Schriftsatz und ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor. Es wurde nochmals darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines Polizeidienstes und des Vorfalls mit den Taliban, bei dem er den Leichnam eines Mullahs nicht herausgeben habe wollen, einer seitens des UNHCR eingestuften Risikogruppe angehöre. Deshalb sei befinde er sich in einem Personenkreis, der in Afghanistan einem größeren Risiko ausgesetzt sei.
Es gäbe zahlreiche Berichte zu Afghanistan, dass die Sicherheitslage schlechter werde und die Taliban immer weiter auf ihrem Vormarsch wären. So würden die Kampfhandlungen steigen und die Taliban einen immer größer werdenden Teil des Staatsgebiets kontrollieren. Dies führe zu einer katastrophalen Versorgungslage neuer Flüchtlinge und zur steigenden Gefahr, dass sich der Bürgerkrieg ausweite. Ebenso wäre der Beschwerdeführer auch aufgrund seiner langen Abwesenheit in Europa damit konfrontiert, dass ihn die Taliban jedenfalls als Apostaten ansehen würden.
12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.07.2021 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer und seine rechtsfreundliche Vertretung persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an dieser Verhandlung, wie bereits in der Beschwerdevorlage mitgeteilt, nicht teil.
Es erfolgte die Erörterung einer vorläufigen Beurteilung der politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat, die auf das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, der aktuellen EASO Guidance und der aktuellen UNHCR-Richtlinie basiere. Diese erfolgte auch unter der Berücksichtigung von COVID-19. Der BF bestritt diese Angaben und legte durch seine Rechtsvertretung eine Kurzinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 19.07.2021 vor.
Danach erfolgte die Befragung des Beschwerdeführers, wobei dieser angab immer die Wahrheit gesagt zu haben und sich nicht geändert habe, abgesehen von der drastischen Verschlechterung der Sicherheitslage. Nach der ausführlichen Erörterung der Sach- und Rechtslage gab der Beschwerdeführer an, dass sich seine Frau und seine Tochter noch immer in Herat aufhalten, sie aber ständig ihre Adresse wechseln würden. Er habe regelmäßigen Kontakt zu seiner Familie. Diese werde von seinem Schwager unterstützt und habe Einnahmen durch Pachterlöse.
Zu seinen fluchtauslösenden Vorfällen gefragt, führte der Beschwerdeführer aus, dass er den Leichnam des Mullahs nicht herausgeben habe wollen, um von den Taliban die drei an diese verlorenen Fahrzeuge wieder zurückzubekommen. Er habe es geschafft, den Leichnam zwei Tage zurückhalten zu können, jedoch sei der Druck dann zu groß geworden. Danach habe er einen Brief aus Kabul bekommen, dass er den Leichnam aushändigen müsse. Die Nachricht sei eigentlich vom Stützpunkt in Herat gekommen, jedoch sei die Entscheidung in Kabul getroffen worden. Es habe das Gerücht gegeben, dass dieser Mullah für den Geheimdienst gearbeitet hätte. Diese Fahrzeuge habe er zurückhaben wollen, weil diese das Bataillon, das vor dem Trupp des Beschwerdeführers in dieser Region tätig gewesen sei, bei einem Angriff verloren hätte. Die Nachricht, dass die Taliban den Leichnam herausgefordert hätten, habe er über den Dorfältesten erhalten. Er selbst sei mit seinen Vorgesetzten in Verbindung gewesen, die anfänglich auch gesagt hätte, dass die Leiche erst übergeben werde, wenn die Fahrzeuge zurück wären. Danach hätten ihm die Vorgesetzten gesagt, dass es unislamisch sei, die Leiche eines Märtyrers zu behalten. Auch wenn er die Leiche in einem Kühlhaus aufbewahrt hätte, habe er sie dann herausgegeben, weil er einen offiziellen Befehl von seinem Kommandanten erhalten habe.
Er selbst sei mehr als acht Jahre bei der Polizei gewesen und immer wieder für einige Monate an verschiedenen Orten in seinem Heimatland tätig gewesen. Jeder habe an seinen Wohnorten gewusst, dass er bei der Polizei tätig gewesen sei.
Es wurde festgehalten, dass der Beschwerdeführer glaubwürdig sei. Den diesbezüglichen Angaben des Bundesamtes werde auch nicht entgegengetreten. Es sei auch glaubwürdig, dass der Beschwerdeführer durch diesen Vorfall bei den Taliban in den höheren Ebenen bekannt geworden sei. In Zusammenschau mit den UNHCR-Richtlinien von 2018 müsse davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer ins Visier der Taliban geraten sei und einer gefährdeten Risikogruppe angehöre, obgleich er nur den Rang eines Unterleutnants gehabt habe.
Danach folgte der Schluss der Verhandlung, wobei das Erkenntnis samt wesentlicher Entscheidungsgründe und erteilter Rechtsmittelbelehrung gemäß § 29 Abs. 2 VwGVG dahingehend mündliche verkündet wurde, dass der Beschwerde stattgegeben werde und dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werde. Ebenso wurde festgestellt, dass dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 5 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
13. Mit Schreiben vom 21.07.2021 beantragte die belangte Behörde gem. § 29. Abs. 4 VwGVG die schriftliche Ausfertigung des am 20.07.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses.
14. Mit Schreiben vom 03.08.2021 beantragte die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers die Richtigstellung des Einsatzortes des Beschwerdeführers, zumal dieser offensichtlich falsch protokolliert worden sei und sich daher eine Divergenz mit den Angaben in der Einvernahme vor dem BFA ergeben würde.
15. Der Beschwerdeführer legt im Verlauf des Verfahrens folgende Unterlagen vor:
? Ärztliche Befunde über eine Tuberkuloseverdacht
? Afghanische Tazkira
? Afghanischer Führerschein
? Afghanisches Abschlusszeugnis der Polizeiakademie
? Afghanisches Zeugnis eines Offizierskurses
? Dienstausweis der afghanischen Polizei
? Teilnahmebestätigung und Fotos über die Durchführung gemeinnütziger Tätigkeiten
? Bestätigung einer Markgemeinde über die Durchführung gemeinnütziger Tätigkeiten
? Empfehlungsschreiben
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten, der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person und zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist Moslem schiitischer Glaubensrichtung. Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Bamyan geboren. Dort wuchs er auf und ging acht Jahre in die Schule. 2009 hat er die Polizeiakademie in Herat beendet und ist - nach einem Jahr Dienst in Kabul - wieder zurück nach Herat gegangen, wo er fünf weitere Jahre gearbeitet hat. Er hat in dieser Zeit auch in anderen Provinzen militärischen Aufgaben erledigt und die Offiziersschule besucht. Der Beschwerdeführer reiste im September 2015 aus Afghanistan aus und gelangte in der Folge nach Österreich, wo er am 06.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Die Familienangehörigen des Beschwerdeführers, seine Mutter, sein Bruder, seine Ehefrau und seine Tochter halten sich allesamt in Afghanistan auf. Der Beschwerdeführer hat regelmäßigen Kontakt zu seiner Ehefrau.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
In der mündlichen Verhandlung wurde festgestellt, der Beschwerdeführer ist persönlich glaubwürdig und der diesbezüglichen Einschätzung des Bundesamtes hinsichtlich der Richtigkeit seiner Angaben muss nicht entgegengetreten werden. Der Beschwerdeführer schildert plausibel seine Tätigkeit als Offizier bei der afghanischen Polizei. Ebenfalls ist der Vorfall um den Leichnam des Taliban-Kämpfers nachvollziehbar und entspricht der sich aus den Länderberichten ergebenden Situation im Herkunftsland. Der Beschwerdeführer ist allein durch diesen Vorfall den Taliban auch und gerade in deren höheren Ebenen und Kreisen bekannt geworden. Er war als Polizist auch in seiner privaten Umgebung allen bekannt. Vor diesem Hintergrund kann in der Zusammenschau mit den UNHCR-Richtlinien aus 2018 davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer jedenfalls in das Visier der Taliban geraten ist und als jemand identifiziert wird, der für die afghanische Polizei und damit für die Regierung gearbeitet hat. Darüber hinaus kam es zu dem vorher erwähnten Konflikt um den Leichnam, der dazu führt, dass der Beschwerdeführer in die Risikogruppe des zitierten UNHCR-Berichtes (trotz seines Ranges als Unterleutnant) hinzuzuzählen ist.
Somit ergeben sich aus dem Vorbringen und den internationalen Länderberichten hinreichende Anhaltspunkte für eine besondere individuelle Verfolgung des Beschwerdeführers. Es ist daher ein unter Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2 der Genfer Flüchtlingskonvention zu subsumierender Sachverhalt ableitbar. Die glaubhaft vorgebrachte landesweite Bedrohung beruht auf staatlich zumindest geduldeter Verfolgung.
Es liegen keine Gründe vor, nach denen der Beschwerdeführer von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen ist.
Festgehalten wird, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner fluchtauslösenden Vorfällen keiner asylrechtlich relevanten Verfolgungen in seinem Heimatland unterliegt.
Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan auch keiner landesweiten Verfolgung wegen der bloßen Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara ausgesetzt ist.
1.2. Zur Situation im Falle der Rückkehr:
Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.
Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.
Dem Beschwerdeführer ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif immer schlechter wird. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der Beschwerdeführer gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.
Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat würde diesem daher auch ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), drohen.
1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat/ maßgebliche Situation in Afghanistan:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 11.06.2021:
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019).
Für die meisten zivilen Opfer im Jahr 2020 waren weiterhin regierungsfeindliche Elemente verantwortlich, 62% wurden ihnen zugeschrieben. Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 schrieb UNAMA 5.459 zivile Opfer (1.885 Tote und 3.574 Verletzte) regierungsfeindlichen Elementen zu. Dies bedeutete einen Gesamtrückgang um 15% im Vergleich zu 2019. Die Zahl der von regierungsfeindlichen Elementen getöteten Zivilisten stieg jedoch um 13% (UNAMA 2.2021a)
Taliban
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020).
Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (BBC 15.4.2021).
Struktur und Führung
Die Taliban positionieren sich selbst als SchattenregierungAfghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019; BBC 15.4.2021) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).
Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).
Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vgl. BBC 15.4.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Rekrutierungsstrategien
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017).
Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: Sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta / Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.6.2017). UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (UNAMA 2.2021a; vgl. UNAMA 7.2020).
In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.6.2017). Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.6.2017).
Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen von, vielfach jungen, desillusionierten Männern. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.6.2017).
Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats der Taliban. Während Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt haben, dienen sie auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LI 29.6.2017).
Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vgl. EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.8.2019). Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen (LI 29.6.2017).
Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Know-how und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LI 29.6.2017).
Die Taliban wenden, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 30.3.2021; vgl. EASO 6.2018, DAI/CNRR 10.2016), teilweise werden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht (EASO 6.2018). Im Jahr 2020 gab es laut UNAMA insgesamt 196 Jungen, hauptsächlich im Norden und Nordosten des Landes, die sowohl von den Taliban als auch von den afghanischen Sicherheitskräften rekrutiert wurden. Es ist wichtig anzumerken, dass Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern in Afghanistan aufgrund der damit verbundenen Sensibilität und der Sorge um die Sicherheit der Kinder in hohem Maße unterrepräsentiert sind (UNAMA 2.2021a).
Jüngste Entwicklungen und aktuelle Ereignisse
Während die Taliban behaupten, nicht mehr dieselbe brutale Gruppe zu sein die Afghanistan in den 1990er Jahren beherrschte, und versuchen inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ein versöhnlicheres Image zu vermitteln, sagen Afghanen, die derzeit unter der Kontrolle der Taliban leben, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert (RFE/RL 13.4.2021), wobei sich viele innerhalb der Taliban erhoffen, ihr „Emirat“ wiederherstellen zu können (Ruttig 3.2021). Einem lokalen Vertreter der Talibanzufolge sind die Taliban von früher und die Taliban von heute dieselben (BBC 15.4.2021).
Die Taliban haben sich offenbar absichtlich vage darüber geäußert, was sie mit der „islamischen Regierung“ meinen, die sie schaffen wollen. Einige Analysten sehen darin einen bewussten Versuch, interne Reibereien zwischen Hardlinern und gemäßigteren Elementen zu vermeiden (BBC 15.4.2021).
Es gibt Anzeichen für einen wirklichen Politikwandel in bestimmten Bereichen (z.B. bei der Nutzung der Medien, im Bildungssektor, eine größere Akzeptanz von NGOs und die Einsicht, dass ein zukünftiges politisches System zumindest einige ihrer politischen Rivalen aufnehmen muss), doch scheinen ihre politischen Anpassungen eher von politischen Notwendigkeiten als von grundlegenden Veränderungen in der Ideologie getrieben zu sein (Ruttig 3.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In den letzten Jahren haben sich die Taliban dazu bekannt, Frauen ihre Rechte zu gewähren und ihnen zu erlauben, zu arbeiten und zur Schule zu gehen, wenn sie nicht gegen den Islam oder die afghanischen Werte verstoßen (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021), aber laut einer großen Zahl von Afghanen, die unter der Herrschaft der Taliban leben, hat sich die Politik der militanten Gruppe in Bezug auf die Bildung von Mädchen seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht geändert (RFE/RL 13.4.2021). In einigen von den Taliban kontrollierten Gebieten sind Schulen für Mädchen komplett verboten (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In anderen Regionen gibt es Beschränkungen. Die Gruppe deutete auch an, dass sie die kürzlich gewonnenen Freiheiten der Frauen beschneiden will, die ihrer Meinung nach „Unmoral“ und „Unanständigkeit“ fördern (RFE/RL 13.4.2021).
Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die berechtigte Sorge, dass sie zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt. Die Veränderungen in der Rhetorik und den Positionen der Taliban werfen jedoch ein Licht auf das, was sie in einer politischen Ordnung nach dem Friedensschluss in Afghanistan, in der sie sich mit anderen afghanischen Machtgruppen und Interessen zu einem Modus Vivendi zusammenfinden müssen, möglicherweise zu akzeptieren bereit sind. Ob einige Änderungen in der Herangehensweise aufrechterhalten werden, hängt von der Fähigkeit der afghanischen Gemeinschaft und politischen Gruppen ab, den Druck auf die Taliban aufrechtzuerhalten. Dies wiederum hängt von der anhaltenden internationalen Aufmerksamkeit gegenüber Afghanistan ab, insbesondere wenn es zu einer politischen Einigung und einer Machtteilung kommt und nachdem die ausländischen Soldaten abgezogen sind (Ruttig 3.2021).
Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin 1.5.2021 hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im „Jihad“ der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021). Für die Taliban ist die Errichtung einer „islamischen Struktur“ eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert (VIDC 26.4.2021).
Die Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, hat in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Die USA haben ihre Militäroperationen bereits drastisch zurückgefahren, nachdem sie im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet hatten, und viele befürchten, dass die Taliban nach ihrem Abzug in der Lage sein werden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021).
Im Jahr 2020 verursachten die Taliban weiterhin die meisten zivilen Opfer von allen Parteien des bewaffneten Konflikts (UNAMA 2.2021a). Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) gingen die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 % zurück (AIHRC 28.1.2021; vgl. ACCORD 6.5.2021) - nach Angaben der UNAMA war es ein Rückgang um 19 % (UNAMA 2.2021a). Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte ein Mangel an komplexen und Selbstmordattentaten in den großen Städten des Landes sein. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.1.2021; vgl ACCORD 6.5.2021). UNAMA schrieb den Taliban 3.960 zivile Opfer (1.470 Tote und 2.490 Verletzte) zu. Dieser Rückgang bezieht sich jedoch nur auf die verletzten Zivilisten, da Anstieg von getöteten Zivilisten um 13 % dokumentiert wurde (UNAMA 2.2021a).
Selbstmord- und Nicht-Selbstmord-IEDs verursachten mehr als die Hälfte der den Taliban zugeschriebenen zivilen Opfer, wobei Nicht-Selbstmord-IEDs fünfmal mehr zivile Opfer verursachten als Selbstmord-IEDs. Bodenkämpfe, einschließlich des Einsatzes von Mörsern und Raketen, waren für fast ein Viertel der von den Taliban verursachten zivilen Opfer verantwortlich. (UNAMA 2.2021a). UNAMA schrieb den Taliban 6 % mehr getötete Zivilisten aus Bodenkämpfen und 15 % weniger verletzte Zivilisten im Vergleich zu 2019 zu. Dieser Rückgang war hauptsächlich auf das Ausbleiben wahlbezogener Gewalt im Jahr 2020 zurückzuführen, wurde jedoch teilweise durch eine höhere Zahl von zivilen Opfern aufgrund der anhaltend hohen Zahl von Bodenkämpfen mit zivilen Opfern während des gesamten Jahres ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).
Die UNAMA verzeichnete außerdem einen Anstieg der Zahl der durch gezielte Tötungen der Taliban, zu denen auch „Attentate“ gehören, die bewusst auf Zivilisten abzielen, getöteten und verletzten Zivilisten um 22 % und einen Anstieg der zivilen Opfer bei Entführungen von Zivilisten durch die Taliban um 169% (UNAMA 2.2021a).
Ethnische Gruppen
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 16.2.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016 ; vgl. CIA 16.2.2021). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.7.2020).
Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (STDOK 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 2.9.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 30.3.2021).
Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 16.7.2020). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 30.3.2021).
Hazara
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).
Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.3.2019).
Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 12.5.2021). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 12.5.2021).
Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert (AA 16.7.2020; vgl. FH 4.3.2020) und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert (AA 16.7.2020). Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 30.3.2021). Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (FH 4.3.2020; vgl. WP 21.3.2018).
Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).
Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.3.2018). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an (USDOS 12.5.2021).
Während des gesamten Jahres 2020 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Am 6.3.2021 griffen Bewaffnete eine Zeremonie in Kabul an, an der hauptsächlich schiitische Hazara teilnahmen, und töteten 32 Personen. Am 24.10.2021 tötete ein Selbstmordattentäter in einem Bildungszentrum in einem Hazara-Viertel von Kabul 40 Personen und verwundete 72 weitere. Der ISKP bekannte sich dazu. Viele der Opfer waren zwischen 15 und 26 Jahre alt (USDOS 30.3.2021). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte (USDOS 12.5.2021).Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (MEI 10.2018; vgl. WP 21.3.2018). Im Mai 2021 explodierte eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen, getötet und mehr als 100 verletzt wurden (AJ 9.5.2021; vgl. RFE/RL 9.5.2021, BBC 9.5.2021, NYT 9.5.2021, TN 8.5.2021).
In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).
Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (BI 29.9.2017). NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (USDOS 30.3.2021).
COVID-19
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).
Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).
Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Händ