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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
B-VG Art130 Abs1 Z2Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision der Landespolizeidirektion Steiermark gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Steiermark vom 27. April 2021, Zl. LVwG 20.3-3080/2020-19, betreffend Einvernahme und Sicherstellung nach der StPO durch Organe der Kriminalpolizei (mitbeteiligte Partei: mj. M S in G, vertreten durch die Kindeseltern A P und E S, diese vertreten durch Dr. Ralph Forcher, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Neutorgasse 51/II), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Der Bund hat der mitbeteiligten Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Angefochtenes Erkenntnis
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde über die Beschwerde des Mitbeteiligten wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt festgestellt, dass die Einvernahme des Mitbeteiligen am 28. Oktober 2020 einschließlich der Sicherstellung seines Smartphones in der Polizeiinspektion Graz-K durch Beamte der Landespolizeidirektion „Graz“ (gemeint: Steiermark; Amtsrevisionswerberin, im Folgenden LPD) rechtswidrig war. Sodann werden näher bezeichnete Bestimmungen des B-VG, des VwGVG, der StPO, des JGG, der EMRK sowie der GRC als Rechtsgrundlagen angeführt (A.).
Die LPD wurde gemäß § 35 VwGVG zu verpflichtet, näher bezeichnete Kosten des Verfahrens zu bezahlen (B.). Eine Revision wurde für unzulässig erklärt (C.).
2 Begründend stellte das Verwaltungsgericht zunächst (im Wesentlichen) fest, beim Mitbeteiligten habe es sich zum „Vorfallszeitpunkt“ um einen 15-jährigen Jugendlichen gehandelt. Im Zuge der Aufklärung mehrerer Straftaten „im Zusammenhang mit ‚Graffiti‘“ habe der Mitbeteiligte im Beisein seiner Mutter vor der Polizei angegeben, dass eine mögliche Verwendung seines Schriftzuges („Tag“) durch eine andere Person „gegeben war“. Auf Grund dessen sei der Mitbeteiligte von einem Polizeibeamten der LPD fernmündlich kontaktiert worden, „ob er ein paar Fragen ... beantworten könne“. Der Mitbeteiligte habe seine Eltern hievon nicht verständigt und sei mit einem Streifenfahrzeug, welches mit drei Polizeibeamten besetzt gewesen sei, abgeholt worden. Zum Beweis, dass er „mit den Graffitis in Graz nichts zu tun habe“, habe der Mitbeteiligte einem Polizeibeamten sein Smartphone ausgehändigt. In der Polizeiinspektion Graz-K sei die Befragung in einem Raum mit drei Polizisten weitergeführt worden. Der Mitbeteiligte sei dabei gefragt worden „mit welchen Freunden er sprühe und wo er sprühe“. Der Mitbeteiligte habe in der Folge die Fotogalerie auf seinem Handy gelöscht, weil diese Aufnahmen „niemanden etwas angehen würden“.
3 Daraufhin habe sich ein Polizeibeamter entschlossen, das Handy sicherzustellen, weil er ein näher beschriebenes Foto eines Graffitis vor der Löschung der Fotos wahrgenommen habe sowie „der Umstand, dass Tags normalerweise nicht gefälscht werden“ und die Löschung der Galerie „von Seiten des“ Mitbeteiligten durchgeführt worden sei.
4 Sodann sei der Mitbeteiligte von den Beamten als Beschuldigter im Sinne der StPO geführt worden und ihm dies mitgeteilt worden. Während der Amtshandlung sei der Mitbeteiligte nie auf seine freiwillige Mitwirkung, insbesondere bei der Herausgabe von Beweismitteln, hingewiesen worden. Dem Mitbeteiligten sei ein Sicherstellungsprotokoll „vom Handy“ ausgefolgt und ihm mitgeteilt worden, er würde „das Handy“ zurückbekommen, wenn die (gelöschten) Daten ausgewertet sein würden. Die Befragung bzw. Vernehmung des Mitbeteiligten in der Polizeiinspektion sei im Beisein von drei Polizisten abgehalten worden, wobei zwei Polizisten die Befragung durchgeführt hätten. Eine ausdrückliche Belehrung, dass der Mitbeteiligte bei der gesamten Amtshandlung die Eltern bzw. einen Anwalt beiziehen könne, sei nicht durchgeführt worden.
5 Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, es gehe davon aus, dass der Mitbeteiligte freiwillig einer Befragung zugestimmt habe und auch freiwillig in die Polizeiinspektion Graz-K mitgekommen sei. Auch die Übergabe des „Handys“ im Polizeifahrzeug sei freiwillig erfolgt. Jedoch sei durchaus nachvollziehbar, dass der 15-jährige Mitbeteiligte die Befragung des Polizisten in der Polizeiinspektion bzw. die weitere Vorgangsweise der Polizei als Zwang aufgefasst habe und daher von keiner freiwilligen Mitwirkung im Laufe der Amtshandlung auszugehen sei. Dass ein 15-jähriger die investigative Befragung durch zwei Polizisten, bei Anwesenheit von drei Polizisten in einer Polizeiinspektion, nicht mehr als freiwillig werte, sei für das Gericht nachvollziehbar; umso mehr, als seitens der einschreitenden Polizisten nicht auf die Freiwilligkeit während der Amtshandlung hingewiesen worden sei. Das Gericht gehe auch beweiswürdigend davon aus, dass er nicht darüber belehrt worden sei, dass er seine Eltern bzw. einen Anwalt beiziehen könne.
6 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht unter Wiedergabe von Art. 6 und 13 EMRK, Art. 48 GRC, § 32a Abs. 1, § 36 Abs. 1 und 2 sowie § 37 Abs. 1 und 2 JGG und § 164 Abs. 1 und 2 StPO im Wesentlichen aus, das Verwaltungsgericht „ist in Kenntnis“, dass der Einspruch des Mitbeteiligten im Sinne des § 106 StPO zurückgewiesen worden sei. Die LPD sei mit dem Vorbringen im Recht, wenn sie davon ausgehe, dass § 88 Abs. 2 SPG nicht zur Anwendung gelange.
7 Sehr wohl sei jedoch die Frage zu beantworten, ob eine qualifizierte Unterlassung - die massiv in die Rechte des Betroffenen eingreife - nicht unter Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG subsumiert werden könne. Eine Unterlassung im Zuge einer Amtshandlung - während Zwangsgewalt ausgeübt werde - könne als einer der „Umstände“ dieser Maßnahme bekämpfbar sein (Verweis auf VfSlg. 16.638/2002). Es sei davon auszugehen, dass „die Unterlassungen der Belehrungen“ im Zuge einer Amtshandlung, bei der der Mitbeteiligte bereits als Beschuldigter im Sinne der StPO geführt worden sei, gemacht worden seien. Für das Verwaltungsgericht sei nunmehr die Frage zu klären gewesen, ob diese Unterlassungen derart gravierende Eingriffe in die Rechtssphäre des Beschwerdeführers „hatten, damit sie einer Beschwerde iSd Art. 130 Abs 1 Z 2 B-VG zugänglich sind“.
8 Vorliegend handle es sich um einen 15-jährigen Jugendlichen, der im Verdacht gestanden sei, strafbare Handlungen begangen zu haben. Im Hinblick darauf, dass der Mitbeteiligte während der Amtshandlung „Beschuldigter im Sinne der StPO wurde“, sei es gerade bei einem Jugendlichen unbedingt notwendig, diesen über die entsprechenden Rechte aufzuklären, um ein faires Verfahren durchführen zu können. „Belehrungen bzw. Unterbrechung der Befragung“, um etwaige Personen im Sinn des § 37 JGG zu verständigen, wären unbedingt notwendig gewesen. Eine Unterlassung von Belehrungen könne jedenfalls gravierend in die Verteidigungsrechte eines jugendlichen Beschuldigten eingreifen. Ausdrücklich werde noch darauf hingewiesen, dass das Instrument der Erkundigung nicht dazu missbraucht werden dürfe, um Vernehmungen und deren strenge Formvorschriften zu umgehen. Sobald feststehe, dass die Angaben einer Person für das Verfahren von Bedeutung seien, und die Prozessrolle dieser Person geklärt sei, sei die Befragung in Form einer „förmlichen“ Vernehmung durchzuführen. Nachdem der Mitbeteiligte als „Beschuldigter“ geführt worden sei (nach Löschung der Daten am Smartphone), sei auf diesen Umstand offensichtlich überhaupt nicht Rücksicht genommen worden.
9 Zur Sicherstellung des Smartphones führte das Verwaltungsgericht nach Wiedergabe des § 110 Abs. 2 und 3 Z 1 StPO im Wesentlichen aus, weil die einschreitenden Kriminalbeamten die Sicherstellung eigenmächtig durchgeführt hätten, stehe dem Mitbeteiligten die Beschwerdelegitimation zu. Von einer „Geringwertigkeit“ des Smartphones könne infolge des Wertes von € 799,00 (laut Sicherstellungsprotokoll) nicht ausgegangen werden, da die (nicht zitierte) Rechtsprechung von einem Gebrauchswert von € 100,00 „im Hinblick der Geringwertigkeit als Obergrenze“ ausgehe. Das Verwaltungsgericht gehe auch davon aus, dass das Smartphone nicht „vorübergehend leicht ersetzbar ist“, umso mehr das Smartphone als Kommunikationsmittel für „Distance-Learning“ und das Speichern von privaten Bildern benutzt worden sei.
10 Dadurch, dass der jugendliche Mitbeteiligte bei seiner Einvernahme als Beschuldigter nicht über seine Rechte belehrt worden sei bzw. nicht eine Beiziehung eines Verteidigers oder einer Person des Vertrauens (§ 37 JGG) angeordnet worden sei, seien gravierende Rechte im Sinne des Art. 6 EMRK bzw. Art. 48 Abs. 2 GRC verletzt worden. Desgleichen sei bei der Amtshandlung durch die Abnahme des Smartphones ohne staatsanwaltschaftliche Anordnung in die Rechtssphäre des jugendlichen Mitbeteiligten eingegriffen worden, da ein Gegenstand sichergestellt worden sei, der weder geringwertig noch vorübergehend leicht ersetzbar sei.
11 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.
12 Der Mitbeteiligte erstattete nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof eine Revisionsbeantwortung (unter anderem) mit dem Antrag auf Aufwandersatz.
Zulässigkeit
Allgemein
13 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
14 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
15 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
Zulässigkeitsvorbringen der Amtsrevision
16 Die Amtsrevision verweist zu ihrer Zulässigkeit auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Ausübung verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und bringt vor, „umgemünzt auf den Anlassfall“ stelle sich vor allem die Frage, ob die mangelnde Belehrung, welche als Unterlassung zu klassifizieren sei, mit Beschwerde nach Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG angefochten werden könne. Das Verwaltungsgericht habe die Auffassung vertreten, eine Unterlassung im Zuge einer Amtshandlung - während der Zwangsgewalt ausgeübt werde - sei als ein Umstand dieser Maßnahme bekämpfbar. Die zur „Untermauerung“ dieser Rechtsmeinung zitierte Rechtsprechung sei aber keinesfalls auf den zu Grunde liegenden Lebenssachverhalt übertragbar (Verweis auf VfSlg. 16.638/2002). Rund um die unterlassene Belehrung nach der StPO bzw. dem JGG sei eine Handlung, der „nur ansatzweise“ ein Zwangs- bzw. Befehlscharakter zugesprochen werden könne, nicht verwirklicht, sodass die rechtliche Subsumtion dieses Teils der Beschwerde unter Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG als verfehlt qualifiziert werden müsse. Kriminialpolizeiliches Handeln aus Eigenem, welches keine Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt darstelle, sei als schlicht hoheitliches Verwaltungshandeln zu charakterisieren, für welches nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Verhaltensbeschwerde nach § 88 Abs. 2 SPG nicht in Frage komme (Verweis auf VwGH 28.3.2017, Ra 2017/01/0059).
17 Im Hinblick auf die Sicherstellung des Smartphones existiere noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Thematik, „ob Bezugspunkt bei der Beurteilung der Geringwertigkeit eines sichergestellten Gegenstands bzw. der vorübergehenden leichten Ersetzbarkeit im Rahmen einer Sicherstellung nach § 110 Abs 3 Z 1 lit d StPO das die Originaldaten enthaltende (ursprüngliche) Speichermedium oder ausschließlich der Wert der Daten an sich ist“ (Verweis auf OGH 11.9.2018, 14 Os 51/18h). Unter diesem Blickwinkel stelle sich die Frage, ob das Smartphone in seiner Gesamtheit als „Wert“ für die Beurteilung einer allfälligen Geringwertigkeit nach § 110 Abs. 3 Z 1 lit. d StPO heranzuziehen sei oder ob nur der Wert des Speichermediums oder gar der immaterielle Wert der sicherzustellenden Bilder entscheidend sei.
18 Aus Sicht der LPD bedürfe es einer Aufhebung der angefochtenen Entscheidung „aufgrund von eklatanten Widersprüchen zur einhelligen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes“.
19 Auch sei das angefochtene Erkenntnis mit sekundären Feststellungsmängeln behaftet, da zum tatsächlichen Wert des Smartphones mangels jeglicher Angabe zur Marke, dem Alter usw. vom Verwaltungsgerichtshof „keinerlei Überprüfungen angestellt werden können“.
Vorbringen der Revisionsbeantwortung
20 Die Revisionsbeantwortung hält dem entgegen, nach der (näher bezeichneten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sei die Frage, ob ein behördlicher Befehl als Maßnahme im Sinne des Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG vorliege, bei objektiver Betrachtungsweise aus dem Blickwinkel des Betroffenen bei Beurteilung des behördlichen Vorgehens in seiner Gesamtheit zu beurteilen. Beim damals 15-jährigen Mitbeteiligten habe unzweifelhaft der Eindruck bestanden, dass bei Nichtbefolgung der behördlichen Anordnungen mit ihrer unmittelbaren zwangsweisen Durchsetzung zu rechnen sei.
21 Selbst wenn man das Unterlassen der Belehrung des Betroffenen nicht an sich als Akt unmittelbarer behördlicher Befehls- und/oder Zwangsgewalt interpretieren wolle, sei die Unterlassung als einer der „Umstände“ der Amtshandlung als Maßnahme bekämpfbar. Die von der Amtsrevision angeführte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Verweis auf VwGH 28.3.2017, Ra 2017/01/0059) sei auf den verfahrensgegenständlichen Sachverhalt nicht übertragbar. Nach näheren Ausführungen zum sichergestellten Smartphone, welches „derzeit zur absoluten ‚high-end Oberklasse‘ auf dem Smartphone-Markt“ zähle, bringt die Revisionsbeantwortung vor, der „geringe Wert“ im Sinne des § 110 Abs. 3 Z 1 lit. d StPO orientiere sich an der Rechtsprechung zu § 141 StGB, welche ihn mit ca. € 100,00 ansetze. Auch sei notorisch, dass ein privat genutztes, hochwertiges Smartphone (insbesondere) eines jungen Erwachsenen schon grundsätzlich nicht als „leicht ersetzbar“ nach § 110 Abs. 3 Z 1 lit. d StPO gewertet werden könne.
Zum Handeln im Dienste der Strafjustiz (Kriminalpolizei)
22 Dazu ist im vorliegenden Zusammenhang auf folgende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen:
23 Die Aufgaben der Sicherheitsbehörden und der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Rahmen der StPO, namentlich bei der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten, also das Behördenhandeln im Dienste der Strafjustiz („Kriminalpolizei“), zählt nicht zur Sicherheitspolizei bzw. Sicherheitsverwaltung.
Beim (selbstständigen) Einschreiten im Dienste der Strafjustiz gelten gemäß § 22 Abs. 3 SPG, sobald ein bestimmter Mensch der strafbaren Handlung verdächtig ist, ausschließlich die Bestimmungen der StPO. Soweit es um Ermittlungen wegen einer gerichtlich strafbaren Handlung nach dem StGB geht, liegt ein Handeln im Dienste der Strafjustiz vor, welches nicht zur Sicherheitspolizei zu zählen ist und dem im Grunde des § 22 Abs. 3 zweiter Satz SPG eine sicherheitspolizeiliche Komponente nicht (mehr) innewohnt.
Beim Handeln der Kriminalpolizei im Dienste der Strafjustiz ist die Möglichkeit einer Verhaltensbeschwerde nach § 88 Abs. 2 SPG nicht gegeben. Das Handeln der Kriminalpolizei im Dienste der Strafjustiz ist jedoch, soweit es um die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt geht, (nach der Aufhebung der Worte „oder Kriminalpolizei“ in § 106 Abs. 1 StPO) mit Maßnahmenbeschwerde beim Landesverwaltungsgericht bekämpfbar (vgl. zu allem VwGH 7.9.2020, Ro 2020/01/0010, mwN).
Zur Unterlassung der Belehrung nach § 37 JGG während der Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt
24 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes liegt ein Akt der Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt dann vor, wenn Verwaltungsorgane im Rahmen der Hoheitsverwaltung einseitig gegen individuell bestimmte Adressaten einen Befehl erteilen oder Zwang ausüben und damit unmittelbar - das heißt ohne vorangegangenen Bescheid - in subjektive Rechte des Betroffenen eingreifen.
Das ist im Allgemeinen dann der Fall, wenn physischer Zwang ausgeübt wird oder die unmittelbare Ausübung physischen Zwanges bei Nichtbefolgung eines Befehls droht. Es muss ein Verhalten vorliegen, das als „Zwangsgewalt“, zumindest aber als - spezifisch verstandene - Ausübung von „Befehlsgewalt“ gedeutet werden kann.
Weil das Gesetz auf Befehle, also auf normative Anordnungen, abstellt, sind behördliche Einladungen zu einem bestimmten Verhalten auch dann nicht tatbildlich, wenn der Einladung Folge geleistet wird. Die subjektive Annahme einer Gehorsamspflicht ändert noch nichts am Charakter einer Aufforderung zum freiwilligen Mitwirken. Als unverzichtbares Merkmal eines Verwaltungsaktes in der Form eines Befehls gilt, dass dem Befehlsadressaten eine bei Nichtbefolgung unverzüglich einsetzende physische Sanktion angedroht wird. Liegt ein ausdrücklicher Befolgungsanspruch nicht vor, so kommt es darauf an, ob bei objektiver Betrachtungsweise aus dem Blickwinkel des Betroffenen bei Beurteilung des behördlichen Vorgehens in seiner Gesamtheit der Eindruck entstehen musste, dass bei Nichtbefolgung der behördlichen Anordnung mit ihrer unmittelbaren zwangsweisen Durchsetzung zu rechnen ist (vgl. zu allem nochmals VwGH 7.9.2020, Ro 2020/01/0010, mwN).
25 Ob es sich um eine Ausübung unmittelbarer sicherheitsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gehandelt hat, unterliegt einer einzelfallbezogenen Beurteilung des Verwaltungsgerichtes (vgl. etwa VwGH 27.9.2021, Ro 2021/01/0019, mwN).
26 Davon ausgehend bestehen gegen die vom Verwaltungsgericht vorgenommene einzelfallbezogene Beurteilung, es habe sich bei der Amtshandlung insgesamt - fallbezogen der Einvernahme des minderjährigen Mitbeteiligten in der Polizeiinspektion Graz-K durch mehrere Organe der Kriminalpolizei - um die Ausübung von Befehlsgewalt gehandelt, keine Bedenken. Dagegen wendet sich auch nicht die Amtsrevision. Sie bezweifelt vielmehr, dass die unterlassene Belehrung nach § 37 JGG mit Maßnahmenbeschwerde angefochten werden könne.
27 Dazu ist auf folgende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen: Eine Beschwerde wegen der Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt kann sich nicht (nur) gegen die Maßnahme als solche, sondern auch gegen deren Modalitäten richten (vgl. insoweit zur Zuständigkeitsfrage VwGH 25.4.2017, Ro 2016/01/0005, mwN). Wird durch das Gesetz bezüglich der Ausübung von Befugnissen eine besondere Anordnung getroffen und wird dieser Anordnung nicht entsprochen, so wird die Befugnisausübung selbst - weil nicht in der gebotenen Art vorgenommen - rechtswidrig. Mithin handelt es sich bei einem solchen Thema um eine bloße Modalität der zu Grunde liegenden „Maßnahme“, weshalb dieser Punkt im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme (so sich diese nicht schon aus anderen Gründen als rechtswidrig erweist) zu beurteilen ist (vgl. zu allem VwGH 29.6.2006, 2005/01/0032, betreffend § 30 Abs. 1 Z 2 SPG; vgl. zur Modalität einer Maßnahme unter Verweis auf diese Rechtsprechung auch VwGH 19.4.2016, Ra 2015/01/0232).
28 Entsprechend diesen Leitlinien der Rechtsprechung hat das Verwaltungsgericht auf die besondere Anordnung des § 37 JGG hingewiesen, nach der die Organe der Kriminalpolizei im vorliegenden Fall verpflichtet waren, den minderjährigen Mitbeteiligen über seine Rechte nach dieser Bestimmung zu belehren, bei seiner Vernehmung nach StPO einen Verteidiger oder eine Person seines Vertrauens beizuziehen (vgl. zu § 37 JGG bereits VwGH 27.2.2009, 2008/17/0169, dort die Einvernahme in einer Strafsache nach dem SMG betreffend). Da dieser besonderen Anordnung nicht entsprochen wurde, durfte das Verwaltungsgericht - nach dem Gesagten - die Auffassung vertreten, dass die mit Maßnahmenbeschwerde bekämpfte Einvernahme selbst rechtswidrig war.
29 Insoweit zeigt die Amtsrevision kein Abweichen des Verwaltungsgerichtes von den Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auf.
Zur Sicherstellung nach § 110 Abs. 3 Z 1 lit. d StPO
30 Die Amtsrevision vermisst weiters Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen der eigenmächtigen Sicherstellung von Gegenständen durch die Kriminalpolizei nach § 110 Abs. 3 Z 1 lit. d StPO.
31 Bei der Auslegung von nicht in die Kompetenz der Verwaltung fallenden Rechtsmaterien kommt dem Verwaltungsgerichtshof keine Leitfunktion zu; er ist zur Fällung grundlegender Entscheidungen auf dem Gebiet des Zivilrechts nicht berufen, sodass die Auslegung zivilrechtlicher Normen auch keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG begründen kann, solange den Verwaltungsgerichten dabei keine krasse Fehlentscheidung unterlaufen ist. Eine derartige Unvertretbarkeit ist in der Regel dann auszuschließen, wenn die Verwaltungsgerichte eine zivilrechtliche Vorfrage im Einklang mit der Rechtsprechung der Obersten Gerichtshofes (OGH) gelöst haben (vgl. etwa VwGH 3.7.2020, Ra 2020/14/0006, Rn. 41). Gleiches gilt für die Auslegung strafrechtlicher Normen wie vorliegend von Bestimmungen der StPO (vgl. zu der dem OGH nach der Bundesverfassung in Zivil- und Strafrechtssachen zukommenden Leitfunktion bereits VfGH 13.12.2012, G 137/11; vgl. auch VwGH 14.11.2017, Ro 2017/05/0002, wonach eine Unvertretbarkeit einer rechtlichen Beurteilung in der Regel dann auszuschließen ist, wenn die Verwaltungsgerichte eine zivil- oder strafrechtliche Vorfrage im Einklang mit der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte, insbesondere des OGH, gelöst haben).
32 Zu § 110 Abs. 3 Z 1 lit. d StPO besteht bereits - wie auch von der Amtsrevision zutreffend angeführt - Rechtsprechung des OGH. So hat der OGH im Urteil vom 11. September 2018, 14 Os 51/18h (RIS-Justiz RS0132239), zu dieser Bestimmung festgehalten:
„Die Sicherstellung ist - soweit hier von Relevanz - in § 109 Z 1 lit a StPO als vorläufige Begründung der (tatsächlichen) Verfügungsmacht über Gegenstände (bewegliche körperliche Sachen; vgl Bauer, ÖJZ 2008, 755; EBRV 25 BlgNR 22. GP 153) legal definiert.
...
Damit wird klargestellt, dass die Bestimmungen des 1. Abschnitts des 8. Hauptstücks der StPO den Strafverfolgungsbehörden (auch) den Zugriff auf (immaterielle elektronische) Daten ermöglichen sollen, wenn es auch für deren Existenz ihrer materiellen Verkörperung bedarf (EBRV 25 BlgNR 22. GP 156) und Objekt der eigentlichen ‘Sicherstellung’ (als Gegenstand im Sinn des § 109 Z 1 lit a StPO) ein - auszufolgender oder herzustellender - ‘Datenträger’ ist, der die verfahrensrelevanten Informationen enthält (vgl dazu auch Tipold/Zerbes, WK-StPO § 111 Rz 12).
...
Durch die Regelung des § 110 Abs 3 StPO sollte ‘einem dringenden Bedürfnis der Praxis’ entgegengekommen und in Anerkennung der eigenen Ermittlungskompetenz der Kriminalpolizei Ermittlungsmaßnahmen, die mit unwesentlichen Eingriffen in die Rechte Dritter verbunden sind und einer raschen und unkomplizierten Durchführung bedürfen, um die Ausforschung des Beschuldigten nicht wesentlich zu erschweren, in deren Eigenkompetenz übertragen werden (vgl EBRV 25 BlgNR 22. GP 118, 154).
Danach ist - soweit hier relevant - Voraussetzung für die Berechtigung der Kriminalpolizei, eine Sicherstellung von sich aus vorzunehmen, die (an § 141 StGB orientierte) Geringwertigkeit des sichergestellten Gegenstands (§ 110 Abs 3 Z 1 lit d StPO; vgl erneut Tipold/Zerbes, WK-StPO § 110 Rz 66). Bezugspunkt dieser Beurteilung war im vorliegenden Fall nicht das die Originaldaten enthaltende (ursprüngliche) Speichermedium, dessen Sicherstellung nach dem Vorgesagten nicht zulässig war, sondern ausschließlich der Wert der Daten der elektronischen Lichtbilder und des Kopien derselben enthaltenden, von der Betroffenen zur Verfügung gestellten Datensticks.
...
Bleibt anzumerken, dass die automatisierte Anfertigung der gegenständlichen Daten durch die Kamera eines Bankomaten, das gespeicherte Motiv oder das Alter der Bilddaten keinen speziell hohen Wert (vgl Tipold/Zerbes, WK-StPO § 110 Rz 66) und auch keinen sonstigen wirtschaftlichen (Tausch-)Wert indizieren, der die Schwelle der Geringwertigkeit übersteigt.“
33 Im Hinblick auf die von der Amtsrevision aufgeworfene Rechtsfrage nach der Beurteilung der Geringwertigkeit weist der OGH darauf hin, dass sich die Voraussetzung der Geringwertigkeit des sichergestellten Gegenstands an § 141 StGB orientiert.
34 „Geringer Wert“ gemäß § 141 StGB ist der Rechtsprechung des OGH folgend relativ nach den jeweiligen Umständen des Falles, allerdings unterhalb einer maximalen Grenze von nunmehr € 100,00 als Obergrenze, zu bestimmen; starre Regeln lassen sich hiefür nicht aufstellen (vgl. RIS-Justiz RS 0094478, insbesondere OGH 21.02.1989, 11 Os 2/89, SSt 60/10, und OGH 12.4.2005, 11 Os 140/04).
35 Weiters hat der OGH im Urteil vom 11. September 2018, 14 Os 51/18h, festgehalten, dass (bei der Sicherstellung von Daten) Bezugspunkt dieser Beurteilung ausschließlich „der Wert der Daten der elektronischen Lichtbilder und des Kopien derselben enthaltenden, von der Betroffenen zur Verfügung gestellten Datensticks“ war. Damit wurde durch den OGH klargestellt, dass das jeweilige Speichermedium samt den darin enthaltenen Daten für die Bemessung des Wertes maßgeblich ist.
36 Ausgehend von dieser Rechtsprechung des OGH ist nicht zu sehen, dass das Verwaltungsgericht im vorliegenden Einzelfall die Frage der Rechtmäßigkeit der Sicherstellung nach § 110 Abs. 3 Z 1 lit. d StPO nicht im Einklang mit dieser Rechtsprechung gelöst hat. So wurde im vorliegenden Fall das Mobiltelefon des Mitbeteiligten als Speichermedium samt den darin (noch) enthaltenen Daten sichergestellt. Gegen die Beurteilung der (fehlenden) Geringwertigkeit des Mobiltelefons bestehen keine Bedenken.
Ergebnis
37 In der Revision werden aus diesen Gründen keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat zurückzuweisen.
38 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 10. November 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021010211.L00Im RIS seit
06.12.2021Zuletzt aktualisiert am
13.12.2021