TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/19 W123 2238639-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.08.2021
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Entscheidungsdatum

19.08.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W123 2238637-1/8E
W123 2238639-1/8E


IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Michael ETLINGER über die Beschwerden

1.       der XXXX (im Folgenden: Erstbeschwerdeführerin), geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.12.2020, Zl. 1254068203-201027813 (W123 2238637-1), und

2.       der mj. XXXX (im Folgenden: Zweitbeschwerdeführerin), geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.12.2020, Zl. 1254067805-201027848 (W123 2238639-1),

beide vertreten durch die BBU GmbH, nach Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und den Beschwerdeführerinnen gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass den Beschwerdeführerinnen damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Die Erstbeschwerdeführerin und die Zweitbeschwerdeführerin sind afghanische Staatsangehörige und Geschwister. Der Vater der Beschwerdeführerinnen ist gesetzlicher Vertreter der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin.

2.       Am 20.10.2020 stellten die Erstbeschwerdeführerin und die Zweitbeschwerdeführerin, vertreten durch ihren Vater, jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

3.       Im Rahmen der am selben Tag erfolgten Erstbefragung brachten die Beschwerdeführerinnen vor, dass ihr Vater den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Österreich erlangt habe und sie denselben Schutz beantragen.

4.       Am 01.12.2020 fanden vor der belangten Behörde die jeweiligen Einvernahmen statt.

5.       Mit den im Spruch angeführten Bescheiden wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführerinnen auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bzw. § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 wurde den Beschwerdeführerinnen der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.). Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bzw. § 8 Abs. 5 iVm Abs. 4 AsylG 2005 wurde ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung für „1 Jahr“ bzw. bis zum „18.01.2021“ erteilt (Spruchpunkt III.).

6.       Mit Schriftsätzen vom 28.12.2020 erhoben die Beschwerdeführerinnen jeweils fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der Bescheide der belangten Behörde. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass den Beschwerdeführerinnen zum einen aufgrund der allgemeinen Diskriminierungslage von Frauen bzw. Mädchen und zum anderen aufgrund ihrer speziellen Lebenssituation bzw. westlichen Orientierung bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine asylrelevante Verfolgung drohe.

7.       Mit Schreiben vom 19.07.2021 legten die Beschwerdeführerinnen Integrationsbelege vor.

8.       Am 20.07.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentlich mündliche Verhandlung statt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

Die Beschwerdeführerinnen sind Schwestern. Die Erstbeschwerdeführerin ist volljährig. Die Zweitbeschwerdeführerin ist minderjährig und wird durch ihren Vater gesetzlich vertreten. Sie sind Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan, Schiitinnen und gehören der Volksgruppe der Hazara an.

Die Beschwerdeführerinnen sind im Iran geboren und aufgewachsen. Sie lebten bis zu ihrer Ausreise nach Österreich in Teheran und waren noch nie in Afghanistan. Ihr Vater stellte im Jänner 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich und erhielt den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Nach dem Tod ihrer Mutter vor ca. sechs Jahren wohnten die Beschwerdeführerinnen bei einem Nachbarn.

Im Iran absolvierte die Erstbeschwerdeführerin die Matura, verfügt jedoch über keine Berufsausbildung. Die Zweitbeschwerdeführerin besuchte dort mehrere Jahre die Schule.

Die Großmutter, eine Tante und ein Onkel mütterlicherseits der Beschwerdeführerinnen leben im Iran. Der Kontakt zu diesen Verwandten ist nach dem Tod ihrer Mutter abgebrochen. Eine Tante väterlicherseits ist in Afghanistan wohnhaft, diese haben die Beschwerdeführerinnen nie kennengelernt.

Die Beschwerdeführerinnen halten sich derzeit gemeinsam mit ihrem Vater in Österreich auf.

Die Beschwerdeführerinnen tragen kein Kopftuch und kleiden sich „modern“. Sie sind keine überzeugten Musliminnen und praktizieren nicht den islamischen Glauben in Österreich. Von ihrem Vater wurden die Beschwerdeführerinnen nicht streng religiös erzogen. Vielmehr hat dieser sie gelehrt, aus Respekt gegenüber ihren Mitmenschen im Iran die Islamischen Vorschriften bzw. gesellschaftlichen Konventionen einzuhalten. Die Beschwerdeführerinnen mussten sich auch zu ihrer eigenen Sicherheit im Iran bedeckt kleiden, nämlich einen Mantel, ein Kopftuch und einen Schleier tragen. Einen Sprach- und Schwimmkurs durften sie damals zwar besuchen, sich ansonsten aber nur im Nahbereich ihrer Wohnung in Teheran aufhalten.

An einem durchschnittlichen Tag in Österreich spielen die Beschwerdeführerinnen zusammen Basketball, gehen Fahrradfahren, Einkaufen und mit ihrem Vater Spazieren oder treffen sich mit Freunden.

Die Erstbeschwerdeführerin besucht einen Deutschkurs. In ihrer Freizeit zeichnet sie, hört Musik, liest deutsche Bücher und die Nachrichten. Sie geht weiters gerne Schwimmen und Picknicken. Die Erstbeschwerdeführerin verfügt über ein eigenes Konto.

Die Zweitbeschwerdeführerin hat zurzeit Schulferien und zu ihren Hobbys zählen auch das Schwimmen, Fußballspielen, Malen und Schreiben.

In Österreich sind die Beschwerdeführerinnen trotz Einschränkungen bedingt durch die COVID-19-Pandemie um Weiterbildung bemüht. Gemeinsam werden zum Beispiel Filme in deutscher Sprache angesehen, um ihre Sprachfertigkeiten zu verbessern. Obwohl die Beschwerdeführerinnen nur sehr kurz in Österreich aufhältig sind, könne sich beide bereits in Deutsch verständigen.

Die Erstbeschwerdeführerin hat an einem Werte- und Orientierungskurs des ÖIF teilgenommen. Derzeit besucht sie einen Deutschkurs auf dem Niveau A1. Die Erstbeschwerdeführerin will in Zukunft selbständig leben und einer Arbeit im Pflegebereich oder im Bereich Grafikdesign nachgehen.

Die Zweitbeschwerdeführerin ist angesichts ihres jungen Alters sehr reif. Sie besucht die Schule und wiederholt in der Ferienzeit den Lernstoff des vorangegangenen Jahres. Sie ist bemüht, die deutsche und englische Sprache zu erlernen. Die Zweitbeschwerdeführerin möchte Schriftstellerin werden, in andere Länder reisen und an der Universität studieren.

Die Beschwerdeführerinnen sind junge selbstständige Frauen, die trotz ihres sehr kurzen Aufenthaltes in Österreich in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert sind. Sie leben in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition, lehnen die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und können sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die Beschwerdeführerinnen beabsichtigen, in Österreich eine Ausbildung zu machen und einer Arbeit nachzugehen, um berufliche Selbstständigkeit zu erlangen. Diese Einstellung steht im Widerspruch zu den im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen.

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben mittels Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, durch Einsichtnahme in die Akten der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der Beschwerdeführerinnen vor dieser und dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der bekämpften Bescheide und der Beschwerdeschriftsätze sowie in die von den Beschwerdeführerinnen vorgelegten Urkunden.

2.1.    Zur Person der Beschwerdeführerinnen:

Die Feststellungen zu Identität, Familienverhältnissen, Herkunft und Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführerinnen gründen sich auf ihren diesbezüglich im Verfahren vorgelegten Urkunden sowie ihren gleichbleibenden und daher glaubhaften Angaben vor dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der belangten Behörde, in den Beschwerdeschriftsätzen und in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerinnen aufkommen lässt.

2.2.    Zu den Fluchtgründen bzw. Rückkehrbefürchtungen der Beschwerdeführerinnen:

Einleitend ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführerinnen vorbrachten, dass ihnen aufgrund ihrer westlichen Orientierung im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung drohe und dass sie in Afghanistan als Frauen keine Freiheiten hätten.

Die Feststellungen zu den Beschwerdeführerinnen als junge moderne Frauen, die die traditionell begründeten gesellschaftlichen Einstellungen und die sich daraus für den Alltag ergebenden Zwänge gegenüber Frauen im Herkunftsstaat ablehnen, basieren auf den glaubwürdigen Angaben der Beschwerdeführerinnen in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und dem persönlichen Eindruck, der von den Beschwerdeführerinnen in der Verhandlung gewonnen werden konnte. Insbesondere ist der glaubhafte Eindruck der Zweitbeschwerdeführerin hervorzuheben, die für ihr Alter sehr reif auftritt.

Sowohl die Erstbeschwerdeführerin als auch die Zweitbeschwerdeführerin beantworteten die an sie gerichteten Fragen spontan und authentisch und hinterließen insgesamt einen glaubwürdigen und überzeugenden Eindruck.

Sie sind junge Frauen, die in Österreich alleine außer Haus gehen, sich ohne Orientierung an die traditionellen Kleidungsvorschriften ihres Herkunftsstaates bzw. des Irans kleiden, sich trotz ihres sehr kurzen Aufenthaltes in Österreich und pandemiebedingter Einschränkungen um Weiterbildung bemüht haben bzw. sind und einer Ausbildung bzw. einer Arbeit nachgehen möchten. Ihr Leben in Österreich unterscheidet sich nicht von dem Leben, welches andere Frauen in Österreich führen.

Das Bundesverwaltungsgericht gewann bei der Einvernahme der Beschwerdeführerinnen vor allem den Eindruck, dass es sich bei diesen um Personen handelt, die das streng konservativ-afghanische bzw. iranische Frauenbild ablehnen und ablegten sowie stattdessen „westliche" Werte verinnerlichten und auch danach leben.

Dieser Eindruck wird ua dadurch untermauert, dass die Beschwerdeführerinnen in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht die Unterschiede zwischen dem Leben der Frauen in Afghanistan bzw. im Iran gegenüber jenem in Österreich ansprachen und klarmachten, dass sie mit den Bedingungen nicht einverstanden sind, denen Frauen in Afghanistan bzw. im Iran nach wie vor unterworfen sind (vgl. Seite 7 f des Verhandlungsprotokolls, arg. „BF1: Im Iran bzw. In Afghanistan hat eine Frau keine Freiheiten. Sie kann nicht so leben wie sie möchte. Man kann dort als Frau keinen Sport betreiben –ich habe es zum Beispiel geliebt zu Schwimmen, aber dort war es mir nicht möglich. Eine Frau kann sich nicht weiterbilden, sie kann nicht ausziehen und alleine wohnen. Aber all das ist hier selbstverständlich. […] Im Iran durfte ich nicht mit meinen Freunden reisen. Ich durfte dort nicht spät draußen sein, hier aber schon.“; vgl. Seite 17 f des Verhandlungsprotokolls, arg. „BF2: Ja, die Frauen in Afghanistan müssen einen Hijab tragen, manchmal sogar eine Burka. Sie haben keine Freiheiten, sie dürfen nicht selbständige Entscheidungen treffen. Sei dürfen nicht studieren, sie dürfen keine eigene Wohnung haben. Es gibt keine Sicherheiten für sie. […] R: Wie ist die Stellung der Frauen in Österreich bzw. in Europa? BF2: Eine Frau hat hier diverse Freiheiten. Sie kann arbeiten, ihren Wunschberuf ausüben. Sie hat große Chancen etwas aus ihrem Leben zu machen, nichts steht ihr im Weg – sie muss es nur wollen. Sie kann alles erreichen was sie will. Es gibt hier Gelichberechtigung zwischen Mann und Frau. Eine Frau kann hier auch alleine Reisen, sie kann ihre Freunde treffen, selbstständig Entscheidungen treffen. Das waren ein paar Beispiele.“).

Zudem kann die auf ein selbstbestimmtes Leben gerichtete innere Einstellung („westliche Gesinnung“) der Beschwerdeführerinnen ihren Aussagen betreffend ihre Zukunftspläne und betreffend den Wunsch nach Bildung, Berufstätigkeit und Selbständigkeit zweifelsfrei entnommen werden. Sie lernen zielstrebig Deutsch sowie Englisch und nehmen aktiv und völlig ungezwungen am gesellschaftlichen Leben teil (vgl. Seite 8 des Verhandlungsprotokolls, arg. „BF1: […] hier möchte ich mich weiterbilden. Ich möchte selbstständig sein und mein eigenes Geld verdienen. Ich treffe meine Freunde, ich kann hier alleine Urlaub machen. […] Und meine Meinung bezüglich der Ehe hat sich geändert, ich finde man muss nicht unbedingt heiraten.“; vgl. Seite 17 des Verhandlungsprotokolls, arg. „BF2: Ich mag ein freies Leben führen. Wenn ich ein bisschen älter bin und mehr Freunde habe, möchte ich in andere Länder reisen. Ich möchte die Universität besuchen und mich weiterbilden, meinen Führerschein machen, ein Auto besitzen, Fahrradfahren. Ich möchte im Leben weiterkommen, Fortschritte machen und einen guten Job haben. Ich möchte in Zukunft eine wichtige Persönlichkeit werden.“). Aufgrund des gewonnenen persönlichen Eindrucks hegt der erkennende Richter keine Zweifel daran, dass beide in Zukunft Bildungsfortschritte machen.

Aus all dem ergibt sich, dass die Beschwerdeführerinnen als junge selbstständige Frauen anzusehen sind, die in einer Weise leben, die nicht mit den traditionell-konservativen Ansichten betreffend die Rolle der Frau in der afghanischen bzw. iranischen Gesellschaft übereinstimmt. Diese Lebensführung ist zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Beschwerdeführerinnen geworden, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken. Es ist daher davon auszugehen, dass eine Ablehnung der konservativ-islamischen Wertvorstellungen der Beschwerdeführerinnen im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihres Aufenthaltes im Ausland und ihrer Anpassung an das hier bestehende Gesellschaftssystem zumindest unterstellt werden würde.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1.    Gemäß § 3 Abs. 1 Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg.cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist).

Im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder in Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

3.2.    Zur Verfolgung der Beschwerdeführerinnen:

Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich, dass die Furcht der Beschwerdeführerinnen vor Verfolgung im Sinne der GFK wohlbegründet ist.

Die Beschwerdeführerinnen brachten im Wesentlichen vor, dass sie aufgrund ihrer (nunmehrigen) westlichen Orientierung in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wären und als Frauen keine Freiheiten in Afghanistan hätten.

3.2.1.  Im konkreten Fall ist die vorgebrachte Verfolgung als eine „gegen die Frauen insgesamt oder gegen bestimmte Gruppen der weiblichen Bevölkerung“ gerichtete Maßnahmen unter „dem Gesichtspunkt der drohenden Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu würdigen“ (vgl. VwGH 26.02.2002, 98/20/0544; 31.01.2002, 99/20/0497).

In seinem Erkenntnis vom 23.01.2018, 2017/18/0301, sprach der Verwaltungsgerichtshof in Bezug auf afghanische Frauen, die „westliches“ Verhalten oder „westliche“ Lebensführung annahmen, ua Folgendes aus:

„[…]

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten ‚westlich‘ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren (vgl. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388, mit weiteren Nachweisen). Nicht entscheidend ist, ob die Asylwerberin schon vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat eine derartige Lebensweise gelebt hatte bzw. deshalb bereits verfolgt worden ist. Es reicht vielmehr aus, dass sie diese Lebensweise im Zuge ihres Aufenthalts in Österreich angenommen hat und bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Falle der Rückkehr mit Verfolgung rechnen müsste (vgl. etwa VwGH 6.7.2011, 2008/19/0994-1000). […]

Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, führt dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Aus diesem Grund ist etwa das Revisionsvorbringen, die Erstrevisionswerberin könne im Falle einer Rückkehr nach Kabul - ohne männliche Begleitung - nicht mehr den Freizeitsport Nordic Walking ausüben, für sich betrachtet jedenfalls kein Grund, ihr asylrechtlichen Schutz zu gewähren. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. idS VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388). In diesem Sinne ist auch die rechtliche Argumentation des BVwG zu verstehen, der Bruch mit den gesellschaftlichen Normen des Heimatlandes muss ‚deutlich und nachhaltig‘ erfolgt sein.

[…]“

3.2.2.  Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wären die Beschwerdeführerinnen zunächst mit einer für sie prekären Sicherheitslage konfrontiert. Das bedeutet, dass für sie in fast allen Teilen Afghanistans ein erhöhtes Risiko besteht, Eingriffen in ihre physische Integrität und Sicherheit ausgesetzt zu sein. Gemäß den Länderfeststellungen ist dieses Risiko sowohl als generelle, die afghanischen Frauen betreffende Gefährdung zu sehen (Risiko, Opfer einer Vergewaltigung oder eines sonstigen Übergriffs bzw. Verbrechens zu werden) als auch als spezifische Gefährdung, bei non-konformem Verhalten (d.h. bei Verstößen gegen gesellschaftliche Normen, wie beispielsweise Bekleidungsvorschriften) einer „Bestrafung“ ausgesetzt zu sein.

Am Beispiel der die Frauen und Mädchen betreffenden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit wird anschaulich, dass afghanische Frauen de facto einer Verletzung in grundlegenden Rechten ausgesetzt sind. Es bestehen nach wie vor gesellschaftliche Normen dahingehend, dass Frauen sich nur bei Vorliegen bestimmter Gründe alleine außerhalb ihres Wohnraumes bewegen sollen. Widrigenfalls haben Frauen mit Beschimpfungen und Bedrohungen zu rechnen bzw. sind der Gefahr willkürlicher Übergriffe ausgesetzt. Für die Beschwerdeführerinnen würde sich die derzeitige Situation in Afghanistan so auswirken, dass sie im Falle einer Rückkehr einem Klima ständiger latenter Bedrohung, struktureller Gewalt und unmittelbaren Einschränkungen ausgesetzt wären.

Die Beschwerdeführerinnen unterliegen in Afghanistan zudem einer erhöhten Gefährdung, weil sie als Frauen nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition leben, sondern sich eine „westliche“ Lebensführung aneigneten, gegensätzlich zu dem in der afghanischen Gesellschaft weiterhin vorherrschenden traditionell-konservativen Rollenbild der Frau. Der Einschätzung des UNHCR, der Indizwirkung zukommt (vgl. VwGH 16.01.2008, 2006/19/0182), zufolge sind Frauen/Mädchen besonders gefährdet, Opfer von Misshandlungen zu werden, wenn ihr Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition oder sogar vom Rechtssystem auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird. Afghanische Frauen, die einen weniger konservativen Lebensstil annahmen, beispielsweise solche, die aus dem Exil im Iran oder in Europa zurückkehrten, werden nach wie vor als soziale und religiöse Normen überschreitend wahrgenommen. Die Beschwerdeführerinnen würden dadurch gegenwärtig in Afghanistan als Frauen wahrgenommen werden, die sich als nicht konform ihrer durch die Gesellschaft, Tradition und das Rechtssystem vorgeschriebenen geschlechtsspezifischen Rolle benehmen; sie sind insofern einem besonderen Misshandlungsrisiko ausgesetzt (vgl. dazu EGMR, Case N. vs. Schweden, 20.07.2010, 23505/09, ebenfalls unter Hinweis auf UNHCR).

Die der Beschwerdeführerinnen im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan drohende Situation ist daher in ihrer Gesamtheit von asylrelevanter Intensität (vgl. zur Definition des Verfolgungsbegriffes und der erforderlichen Intensität VwGH 22.03.2017, Ra 2016/19/0350, mit Verweis auf VwGH 15.12.2016, Ra 2016/18/0083).

Die Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung der Beschwerdeführerinnen ist aufgrund der jüngsten politischen Entwicklungen in Afghanistan umso akuter geworden, nachdem die Taliban innerhalb von nur wenigen Tagen den Großteil des Landes, inklusive aller größeren Städte Afghanistans eingenommen und Präsident Ashraf Ghani Berichten zufolge das Land verlassen hatte (vgl. ACCORD – Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan, 16. August 2021: Aktuelle sicherheitsrelevante Entwicklungen [Stand 16. August 2021).

3.2.3. Angesichts der dargestellten Umstände ist im Fall der Beschwerdeführerinnen daher davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerinnen im Falle ihrer nunmehrigen Rückkehr nach Afghanistan als Frauen dort mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer „westlichen“ Lebenshaltung Eingriffe asylrelevanter Intensität mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten haben, sich sohin aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne der GFK außerhalb Afghanistans befinden und in Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt sind, in dieses Land zurückzukehren.

Das Vorliegen eines Asylausschlussgrundes (§ 6 AsylG 2005) oder eines Endigungsgrundes (Art. 1 Abschnitt C GFK) ist im Verfahren nicht hervorgekommen.

3.2.5. Den Beschwerden war daher stattzugeben und den Beschwerdeführerinnen gemäß
§ 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass den Beschwerdeführerinnen damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Zu B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen (siehe dazu insbesondere die unter A) zitierte Judikatur). Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Asyl auf Zeit Asylgewährung asylrechtlich relevante Verfolgung Asylverfahren befristete Aufenthaltsberechtigung begründete Furcht vor Verfolgung Fluchtgründe Flüchtlingseigenschaft Glaubhaftmachung Glaubwürdigkeit inländische Schutzalternative innerstaatliche Fluchtalternative mündliche Verhandlung Nachfluchtgründe soziale Gruppe staatlicher Schutz Verfolgungsgefahr Verfolgungshandlung westliche Orientierung wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W123.2238639.1.00

Im RIS seit

03.12.2021

Zuletzt aktualisiert am

03.12.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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