TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/24 W248 2209726-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.08.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

24.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W248 2209726-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. NEUBAUER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien vom 23.10.2018, Zl. XXXX , in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.07.2021 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 stattgegeben und wird XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis XXXX erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

1        Verfahrensgang:

1. XXXX , geb. XXXX , (im Folgenden: Beschwerdeführer), ein afghanischer Staatsbürger, stellte am 24.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, XXXX am 25.01.2016, gab der Beschwerdeführer an, in der afghanischen Provinz Parwan geboren zu sein und zuletzt im Iran, in XXXX , gelebt zu haben. Seine Muttersprache sei Dari. Er gab weiters an, den Namen XXXX zu führen, afghanischer Staatsbürger sowie Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Moslem zu sein. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Eltern und seine Schwester würden sich im Iran aufhalten. Sein Bruder XXXX lebe in Afghanistan, und drei weitere Brüder würden sich vermutlich in Europa bzw. in Österreich aufhalten. Der Beschwerdeführer reiste in Begleitung seines jüngeren Bruders XXXX nach Österreich ein und gab bei der Erstbefragung an, er sei Analphabet und verfüge über Arbeitserfahrung als Schweißer. Den Entschluss, Afghanistan zu verlassen, habe er etwa 20 Tagen früher gefasst. Die Abreise sei vor etwa 20 Tagen aus dem Iran erfolgt. Im Iran habe der Beschwerdeführer etwa fünf bis sechs Jahre verbracht. Im Iran habe er einen Reisepass gehabt, der nun abgelaufen sei, und welchen er bei der afghanischen Botschaft in XXXX habe ausstellen lassen. Der Beschwerdeführer wolle in Österreich bleiben, zur Schule gehen und sich ein besseres Leben aufbauen. Der Vater des Beschwerdeführers habe die Ausreise für ihn und seinen jüngeren Bruder organisiert.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass er im Iran als Afghane schlecht behandelt worden sei. Er habe auch keine Dokumente gehabt. Als Straßenkind sei er oft geschlagen worden. Er fürchte sich insbesondere vor einer Rückschiebung nach Afghanistan.

3. Am 11.10.2016 nahm der Beschwerdeführer zur Wahrung des Parteiengehörs Stellung und führte aus, dass die Aufnahmebedingungen in Kroatien unzureichend seien.

4. Am 13.10.2016 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) mit einem Dolmetscher für die Sprache Dari statt.

Hinsichtlich der geplanten Rückführung nach Kroatien führte der Beschwerdeführer aus, dass er nicht die Obsorge für seinen minderjährigen Bruder XXXX habe. Der ältere Bruder XXXX lebe bereits seit fünf Jahren in Österreich. Ein gemeinsamer Haushalt bestehe allerdings nicht. XXXX habe dem Beschwerdeführer und seinem jüngeren Bruder ein Handy gekauft und etwas Taschengeld gegeben. Mit dem jüngeren Bruder habe der Beschwerdeführer auch im Herkunftsland gemeinsam gewohnt und wolle nicht von ihm getrennt werden. Durch die Reise habe der jüngere Bruder psychische Probleme bekommen. In XXXX sei sein Bruder zwei bis drei Mal medizinisch behandelt worden. Im Falle einer Rückschiebung nach Kroatien würde sich der Beschwerdeführer nicht um seinen Bruder kümmern, er wolle nämlich, dass sein Bruder in Österreich bleiben könne, um hier medizinisch behandelt zu werden.

5. Mit Bescheid vom 17.10.2016, Zl. XXXX , wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zurück, ohne in die Sache einzutreten (Spruchpunkt I.). Gemäß § 61 Abs. 1 FPG wurde die Außerlandesbringung angeordnet. Eine Abschiebung nach Kroatien sei zulässig (Spruchpunkt II.).

Der Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 19.10.2016 zugestellt.

6. Jeweils mit Schreiben vom 02.11.2016 erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den XXXX und die XXXX , Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des Bescheides des BFA.

Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer seinen jüngeren Bruder, der unter psychischen Problemen leide, unter keinen Umständen verlassen wolle, da sie eine enge Bindung zueinander hätten. Der ältere Bruder XXXX lehne es ab, sich um den jüngeren Bruder XXXX zu kümmern.

7. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11.11.2016, XXXX , wurde der Beschwerde gemäß § 17 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

8. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.02.2017, XXXX , wurde der damaligen Beschwerde stattgegeben.

9. Am 08.02.2018 fand eine zweite niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) mit einem Dolmetscher für die Sprache Dari statt.

Der Beschwerdeführer führte aus, aus dem Dorf XXXX , welches im Distrikt XXXX in der afghanischen Provinz Parwan liege, zu stammen. Sein Bruder XXXX befinde sich aktuell im Gefängnis, da er einen Streit mit seiner Frau gehabt habe. Sämtliche Geschwister hätten die gleichen Eltern. Der Vater des Beschwerdeführers lebe im Heimatdorf im Distrikt XXXX . Seine Mutter, seine Schwester sowie sein ältester Bruder XXXX würden sich im Iran aufhalten. Etwas später behauptete der Beschwerdeführer, dass sein Vater auch im Iran lebe. Neben seinem Vater habe der Beschwerdeführer weitere Verwandte in Afghanistan. In Mazar-e Sharif lebe ein Onkel namens XXXX , mit welchem er nicht so viel Kontakt habe. Es gebe noch weitere Verwandte, jedoch wisse der Beschwerdeführer nicht genau, wo diese leben würden. In Kabul lebe ein Onkel mütterlicherseits namens XXXX mit dessen Familie. Sein Vater sei arbeitslos und werde von den älteren Brüdern des Beschwerdeführers unterstützt. Sein Bruder XXXX arbeite in Österreich als KfZ-Mechaniker und verteile Zeitungen. Seit kurzem sei er verlobt. Der Beschwerdeführer habe etwa fünf bis sechs Jahre lang im Iran gelebt. Er habe keinen Kontakt mehr zu in Afghanistan lebenden Angehörigen und seit etwa einem Jahr keinen Kontakt mehr zu seiner Kernfamilie im Iran. Seit sich der Beschwerdeführer in Österreich aufhalte, habe er überhaupt nur einmal Kontakt mit seiner Familie gehabt. Seine Brüder XXXX , XXXX , XXXX und XXXX würden sich in Österreich befinden und seien unabhängig voneinander zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingereist. Der Vater des Beschwerdeführers habe sich die gleichzeitige Ausreise aller Brüder nicht leisten können. Die Reise für den Beschwerdeführer und seinen Bruder XXXX habe etwa $ 10.000,- gekostet. In Afghanistan sei der Vater ein Polizeikommandant gewesen. Der Beschwerdeführer habe in Afghanistan als Mechaniker in der KfZ-Werkstatt seines Bruders XXXX gearbeitet.

Befragt zu seinen Fluchtgründen betreffend sein Herkunftsland führte der Beschwerdeführer aus, dass die Taliban in die Werkstatt seines Bruders gekommen seien, um ein Auto reparieren zu lassen. Daraufhin sei sein Bruder XXXX zur Zusammenarbeit mit den Taliban aufgefordert worden. XXXX habe den Taliban geantwortet, dass er zuerst mit seinem Vater sprechen müsse. Die Taliban hätten ebenfalls den jüngeren Bruder XXXX von seiner Schule mitgenommen und XXXX davon telefonisch informiert, woraufhin dieser zu den Taliban gegangen sei. Die Taliban hätten XXXX bei sich behalten und XXXX freigelassen. XXXX sei gefoltert worden, er habe jedoch flüchten können und sei im Krankenhaus aufgrund seiner Verletzungen behandelt worden. Die Familie habe anschließend beschlossen, Afghanistan zu verlassen. Sein Vater habe sämtliche Besitztümer verkauft und sei gemeinsam mit der Familie in den Iran gezogen. XXXX habe beschlossen, direkt nach Europa zu flüchten. Der Vater habe auch aufgrund seiner Tätigkeit als Polizeikommandant in Afghanistan Probleme gehabt. Kurz vor der Ausreise in den Iran hätten fünf bis sechs bewaffnete Personen versucht, den Beschwerdeführer zu entführen, er habe jedoch flüchten können, da er sich in der Gegend besonders gut ausgekannt habe. Im Falle einer Rückkehr fürchte sich der Beschwerdeführer vor den Feinden seines Vaters und vor den Taliban.

Befragt zu seinen Fluchtgründen betreffend den Iran führte der Beschwerdeführer aus, dass sein Bruder XXXX mit einem Mädchen, dessen Eltern gegen die Beziehung gewesen seien, aus dem Iran nach Österreich geflüchtet sei. Der Bruder des Mädchens habe den Beschwerdeführer an seiner Arbeitsstelle aufgesucht und ihn bedroht. Falls er seinen Bruder XXXX nicht ausliefere, würde der Bruder des Mädchens den Beschwerdeführer schlagen. Daraufhin habe der Beschwerdeführer aus Angst den Iran verlassen.

10. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

In der Begründung des Bescheides gab das BFA die entscheidungsrelevanten Angaben des Beschwerdeführers wieder und traf Feststellungen zur Lage in Afghanistan. Es wurde im Wesentlichen zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass der Beschwerdeführer bereits in der Erstbefragung widersprüchliche Angaben gemacht habe. Er habe angegeben, dass er keine Dokumente im Iran gehabt habe und daher nicht die Schule habe besuchen dürfen. Widersprüchlich dazu habe der Beschwerdeführer ebenfalls angeführt, dass er einen Reisepass gehabt habe, welcher von der afghanischen Botschaft in XXXX ausgestellt worden sei. Sämtliche Ausführungen zur Situation im Iran würden im Fall des Beschwerdeführers keine Asylrelevanz entfalten. In der Einvernahme vor dem BFA habe der Beschwerdeführer sein Vorbringen zudem wesentlich gesteigert. Seine vorgebrachten Fluchtgründe würden hauptsächlich seinen Bruder XXXX betreffen, welcher sich seit 02.04.2012 in Österreich befinde. Diesbezüglich sei auch dem Bruder XXXX mit Bescheid vom 10.11.2015, Zl. XXXX , die Glaubwürdigkeit abgesprochen worden. Der Beschwerdeführer habe keine persönliche Verfolgung glaubhaft machen können. In weiterer Folge habe er behauptet, dass seine gesamte Familie betroffen sei, zumal sein jüngerer Bruder XXXX entführt worden sei. Im Widerspruch dazu habe der Bruder XXXX in seiner Erstbefragung angegeben, dass er von seinem drogensüchtigen Onkel geschlagen worden sei und ihn seine Mutter daher nach Europa geschickt habe. Der von XXXX geschilderte Vorfall aus der Einvernahme weiche allerdings ebenfalls von den Angaben des Beschwerdeführers ab, zumal er nicht angegeben habe, dass sein Bruder XXXX bei seiner Befreiung „eingetauscht“ worden sei. Der Beschwerdeführer habe sein Vorbringen gegen Ende der Einvernahme erneut gesteigert, indem er angeführt habe, dass sein Vater Polizeikommandant gewesen sei und daher Feinde gehabt habe. Dass diese Feinde versucht hätten, den Beschwerdeführer zu entführen, sei nicht glaubhaft vorgebracht worden. Er habe weiters angegeben, dass sein Vater in seinem Herkunftsdorf in Parwan lebe, was angesichts des Fluchtvorbringens nicht lebensnah sei, zumal es nicht nachvollziehbar erscheine, dass der Vater unbehelligt im Herkunftsdorf leben könnte. Im Anschluss habe der Beschwerdeführer diese Angaben revidiert und behauptet, dass sein Vater auch im Iran lebe und er nie angegeben habe, dass sich sein Vater in Afghanistan befinde. Selbst bei Wahrunterstellung würde es sich um eine private Verfolgung durch Dritte handeln, sodass dem Vorbringen keine Asylrelevanz zukomme.

Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer nach Afghanistan zurückkehren und sich in Kabul oder Mazar-e Sharif niederlassen könne, wo er über ein familiäres Netzwerk verfüge.

Zu seinem Privatleben führte das BFA aus, dass der Beschwerdeführer lediglich einen Bruder im Bundesgebiet habe, welcher über ein Aufenthaltsrecht verfüge. XXXX sei der subsidiäre Schutz aberkannt worden, und er befinde sich derzeit im laufenden Beschwerdeverfahren wegen § 3 AsylG. XXXX sei negativ beschieden worden und befinde sich im Beschwerdeverfahren. XXXX sei subsidiär schutzberechtigt, und gegen XXXX sei eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot erlassen worden. XXXX befinde sich bereits seit 2012 in Österreich, und es könne kein Abhängigkeitsverhältnis festgestellt werden.

Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 25.10.2018 zugestellt.

11. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 23.10.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der XXXX amtswegig als Rechtsberatung zur Seite gegeben.

12. Mit Schreiben vom 14.11.2018 erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch die XXXX , Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des Bescheides des BFA und legte eine Vollmacht für die genannte Organisation vor.

Der Beschwerdeführer führte in seiner Beschwerde aus, dass sein Bruder XXXX von den Taliban, nach der Verweigerung der Zusammenarbeit durch den Bruder XXXX , entführt worden sei. XXXX habe angeboten, die Autos der Taliban als Gegenleistung für die Freilassung des jüngeren Bruders zu reparieren. Statt XXXX freizulassen seien beide geschlagen und gefoltert worden. Aufgrund einer Unaufmerksamkeit der Taliban sei es beiden gelungen zu flüchten. Auch der Beschwerdeführer sei gewaltsam angegriffen und geschlagen worden. Er gehe davon aus, dass es entweder Feinde seines Vaters oder Taliban gewesen seien. Drei bis vier Personen seien auf den Beschwerdeführer losgegangen und hätten ihn am Kopf und am Rücken geschlagen. Er habe jedoch flüchten können. Im Falle einer Rückkehr würden ihm die Taliban aufgrund der Weigerung seines Bruders XXXX eine politisch oppositionelle Gesinnung unterstellen. Der Beschwerdeführer verwies auf diverse Länderberichte zu Afghanistan. Als Sohn eines Polizeikommandanten sei er ebenfalls einer Verfolgung ausgesetzt. Er sei bei der Erstbefragung davon ausgegangen in den Iran zurückgeschickt zu werden, sodass er sich lediglich auf Vorkommnisse im Iran beschränkt habe. Hinsichtlich der Angaben zum Wohnort des Vaters handle es sich um ein Missverständnis. Der Beschwerdeführer verfüge über keine Schulbildung und nur über rudimentäre Arbeitserfahrung. Seine Familie befinde sich im Iran, sodass eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar sei. Die enge Beziehung zwischen den Brüdern zeige sich auch darin, dass der Beschwerdeführer die Obsorge über XXXX bis zu dessen 18. Lebensjahr innegehabt habe. Die Brüder würden in regelmäßigem Kontakt stehen.

13. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 19.11.2018 mit Schreiben vom 16.11.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein, wo die Sache der Gerichtsabteilung XXXX zur Bearbeitung zugewiesen wurde. Auf Grund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 12.10.2020 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung XXXX abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung XXXX neu zugewiesen.

14. Der Beschwerdeführer übermittelte eine Vollmacht für die XXXX vom 31.05.2021, welche am 21.06.2021 seitens der Organisation wieder zurückgelegt wurde.

15. Mit Schreiben vom 10.06.2021 gab der Beschwerdeführer bekannt, dass er den XXXX , mit seiner Vertretung beauftragt habe.

16. Am 01.07.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner nunmehrigen Vertretung und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt. In dieser Verhandlung wurde der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und hatte die Möglichkeit, diese Gründe umfassend darzulegen. Das BFA als belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.

Der Beschwerdeführer brachte korrigierend vor, dass sein Vater in Afghanistan geboren sei, allerdings nicht mehr dort lebe. Sein älterer Bruder sei von Afghanistan aus direkt nach Österreich geflüchtet und habe nicht mit der Familie im Iran gelebt. Zu seinem Bruder XXXX habe er keinen Kontakt mehr, seit dieser in den Iran zurückgereist sei. Zu seinem Bruder XXXX bestehe loser Kontakt, sein Bruder XXXX befinde sich vermutlich in XXXX , Kontakt bestehe jedoch nicht. Zu seinem Bruder XXXX bestehe regelmäßiger Kontakt, etwa einmal pro Monat besuche ihn der Beschwerdeführer in XXXX . Die Brüder XXXX und XXXX hätten gemeinsam in XXXX gelebt. Der Beschwerdeführer habe einen Onkel väterlicherseits in Mazar-e Sharif und einen Onkel mütterlicherseits in Kabul. Ein weiterer Onkel befinde sich in Tschechien, mit welchem Kontakt bestehe.

Befragt zu seinen Fluchtgründen wiederholte der Beschwerdeführer, dass sein Vater und sein Bruder in Afghanistan Probleme gehabt hätten. Sein Bruder habe in Afghanistan eine Kfz-Werkstatt gehabt und gelegentlich Autos von Taliban repariert. Die Taliban hätten daraufhin von seinem Bruder verlangt, mit ihnen zusammen zu arbeiten. Dadurch habe die gesamte Familie Probleme bekommen und sein jüngerer Bruder XXXX sei entführt worden. Nach der Entführung sei sein Bruder XXXX zu den Taliban gegangen und habe XXXX aus der Madrassa befreien können. XXXX habe anschließend einen Streit mit den Taliban gehabt und sei dabei verletzt worden, sodass er im Krankenhaus habe behandelt werden müssen. Unbekannte Personen hätten auch versucht, den Beschwerdeführer zu entführen, er habe jedoch flüchten können. In ganz Afghanistan sei die Sicherheitslage schlecht. Der Beschwerdeführer könnte auch nicht bei seinem Onkel väterlicherseits leben, da er zu diesem nicht viel Kontakt habe und dort die Sicherheitslage und die Wirtschaftslage schlecht seien. Die Taliban würden ihn auch in Mazar-e Sharif oder in Kabul finden.

Der Beschwerdeführer beantragte eine einwöchige Frist zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme zur aktuellen Lage in Afghanistan, welche gewährt wurde.

Der Beschwerdeführer legte Integrationsunterlagen vor.

17. Am 06.07.2021 übermittelte der Beschwerdeführer innerhalb offener Frist eine Stellungnahme und führte aus, dass die COVID-19 Pandemie in Afghanistan außer Kontrolle geraten sei. Er verwies auf die allgemein schlechte Sicherheits- und Wirtschaftslage in Afghanistan und führte aus, dass die afghanischen Behörden nicht in der Lage seien, den Beschwerdeführer zu schützen. Der Beschwerdeführer verwies weiters auf diverse Medienberichte hinsichtlich des US- und NATO-Truppenabzuges. Den von der Behörde herangezogenen Länderberichten könne selbst entnommen werden, dass eine Reintegration für Rückkehrer aus dem Westen schwierig sei, insbesondere wenn diese lange Zeit außerhalb Afghanistans verbracht hätten. Der Beschwerdeführer habe in Österreich große Anstrengungen zu seiner Integration unternommen, die deutsche Sprache gelernt und soziale Kontakte entwickelt. Er sei zudem arbeitsfähig und arbeitswillig und werde für Österreich keine Belastung darstellen. Der Beschwerdeführer sei unbescholten und befinde sich bereits seit knapp sechs Jahren in Österreich.

18. Am 22.07.2021 wurde dem Beschwerdeführer eine Kurzinformation der Staatendokumentation – Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan, Stand 19.07.2021, zur Stellungnahme innerhalb einer Woche ab Zustellung, übermittelt. Der Beschwerdeführer gab keine Stellungnahme ab.

19. Im August 2021 veröffentlichte der UNHCR eine Position zur Rückkehr nach Afghanistan. Darin wird auf die als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan verschlechterte Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen von Afghanistan eingegangen und u.a. empfohlen, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichem Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und geprüft wurde, wann die geänderten Umstände im Land eine Rückkehr in Sicherheit und Würde erlauben würden.

20. In einer Kurzinformation der Staatendokumentation vom 20.08.2021 wurde erklärt, dass die Länderinformationen der Staatendokumentation zu Afghanistan durch die dramatischen Ereignisse vor Ort zum überwiegenden Teil obsolet geworden seien und nun so bald wie möglich komplett neu erstellt werden müssten. Diejenigen Kapitel der aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan (Version vom 11.06.2021), welche weiterhin aktuell sind, wurden explizit genannt. Es wurde angekündigt, das BFA und andere Bedarfsträger in Form von Kurzinformationen bestmöglich zu versorgen, bis sich die Lage vor Ort endgültig geklärt hat.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

2        Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht mit hinreichender Sicherheit fest. Es werden, soweit für den gegenständlichen Fall relevant, die Gerichtsakten der Brüder des Beschwerdeführers XXXX , geb. XXXX , XXXX ; XXXX XXXX , geb. XXXX , XXXX ; XXXX , geb. XXXX , XXXX ; XXXX , geb. XXXX , XXXX , ergänzend herangezogen. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie der Einvernahmen des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des BFA, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

2.1      Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Er spricht zudem Farsi und ein wenig Deutsch. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer stammt aus dem Distrikt XXXX in der afghanischen Provinz Parwan, wo er gemeinsam mit seinen Eltern, seinen fünf Brüdern und seiner Schwester lebte. Etwa im Jahr 2010 übersiedelte der Beschwerdeführer mit seinen Eltern, drei der fünf Brüder und der Schwester nach XXXX , in den Iran. Seine Mutter und seine Schwester befinden sich nach wie vor in XXXX . Der Vater des Beschwerdeführers lebt in der Herkunftsprovinz in Afghanistan.

Der Beschwerdeführer reiste als Analphabet nach Österreich und besuchte weder in Afghanistan noch im Iran eine Schule. In Afghanistan arbeitete der Beschwerdeführer als Schweißer und Mechaniker in der Kfz-Werkstatt seines älteren Bruders. Im Iran sammelte er Arbeitserfahrung als Fenster- und Türenmacher.

Die Kfz-Werkstatt und der sonstige Besitz der Familie wurden etwa im Jahr 2010 verkauft, um den Umzug in den Iran zu finanzieren.

Der Beschwerdeführer hat fünf Brüder:

Der älteste Bruder XXXX lebt in Afghanistan, in Kabul.

XXXX stellte am 02.04.2012 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesem Antrag auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes, Zl. XXXX , bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG stattgegeben und ihm gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. XXXX wurde am 16.04.2012 und am 17.07.2012 vom Bundesasylamt einvernommen. Mit Bescheid vom 19.10.2016 wurde die Aufenthaltsberechtigung bis zum 09.11.2018 verlängert. XXXX wurde am 24.10.2018 von seinem Hauptwohnsitz in XXXX abgemeldet. Seither verfügt er über keine aufrechte Meldung im österreichischen Bundesgebiet. XXXX befindet sich vermutlich im Iran. Der Beschwerdeführer hatte mit seinem Bruder XXXX in Österreich nie einen gemeinsamen Wohnsitz.

XXXX ist der leibliche Bruder des Beschwerdeführers und wurde nicht adoptiert. Er stellte am 01.12.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 31.01.2018, Zl. XXXX , wurde er wegen des Verbrechens des versuchten Mordes nach den §§ 15 Abs. 1 und 75 StGB sowie des Verbrechens der schweren Nötigung nach den §§ 105 Abs. 1 und 106 Abs. 1 Z1 1. Fall StGB rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 10 Jahren verurteilt. Mit Bescheid des BFA vom 27.04.2018, Zl. XXXX wurde sein Antrag sowohl im Hinblick auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch im Hinblick auf die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist. Es wurden eine Rückkehrentscheidung und ein unbefristetes Einreiseverbot gegen ihn erlassen. Gegen den Bescheid des BFA vom 27.04.2018 erhob XXXX Beschwerde. Mit Teilerkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28.05.2018, XXXX , wurde der Beschwerde gegen Spruchpunkt VI. stattgegeben, dieser Spruchpunkt behoben und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.07.2018, XXXX , wurde die Beschwerde mit der Maßgabe abgewiesen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab dem Zeitpunkt der Enthaftung beträgt. XXXX befindet sich seit 13.05.2017 durchgehend in Haft und ist derzeit in der Justizanstalt XXXX untergebracht. Der Beschwerdeführer hatte mit seinem Bruder XXXX in Österreich nie einen gemeinsamen Wohnsitz, er besuchte ihn jedoch zwei bis drei Mal in der Justizanstalt.

XXXX , stellte am 06.06.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des BFA vom 16.02.2018, Zl. XXXX wurde sein Antrag sowohl im Hinblick auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, als auch im Hinblick auf die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, sowie festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist. Eine Rückkehrentscheidung wurde erlassen. Gegen den Bescheid des BFA erhob XXXX Beschwerde. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.04.2019, XXXX , wurde die Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet abgewiesen. XXXX wurde am 20.05.2019 von seinem Hauptwohnsitz in XXXX abgemeldet. Seither verfügt er über keine aufrechte Meldung im österreichischen Bundesgebiet. XXXX befindet sich vermutlich in XXXX . Der Beschwerdeführer hatte mit seinem Bruder XXXX in Österreich nie einen gemeinsamen Wohnsitz.

XXXX reiste gemeinsam mit dem Beschwerdeführer nach Österreich und stellte ebenfalls am 24.01.2016 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. XXXX , stellte in einem Gutachten vom 20.05.2017 fest, dass XXXX sich geistig auf dem Niveau eines Sechsjährigen befinde und unter einer starken Intelligenzminderung leide. Mit Bescheid des BFA vom 14.05.2018, Zl. XXXX , wurde XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 14.05.2019 erteilt. Die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde insbesondere damit begründet, dass dieser an „gesundheitlichen Beeinträchtigungen, chronischem Spannungskopfschmerz und leichtgradiger Intelligenzminderung“ leide. XXXX lebt aktuell in XXXX . Der Beschwerdeführer und XXXX haben in Österreich von 25.03.2016 bis 23.12.2016 in derselben Unterkunft in XXXX und XXXX gelebt. Der Beschwerdeführer hat regelmäßigen Kontakt zu XXXX und besucht ihn etwa einmal pro Monat in XXXX .

Der Beschwerdeführer hat familiäre und soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Ein Onkel väterlicherseits lebt in Mazar-e Sharif, und ein Onkel mütterlicherseits lebt in Kabul. Ein weiterer Onkel lebt in Tschechien. Ob der Beschwerdeführer weitere Onkel oder Tanten in Afghanistan oder in einem anderen Land hat, kann nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer steht mit seinen Onkeln selten in Kontakt.

Der Beschwerdeführer ist jung, gesund, arbeitsfähig und befindet sich im erwerbsfähigen Alter. Der Beschwerdeführer zählt zu keiner COVID-19 Risikogruppe.

Der Beschwerdeführer ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der Beschwerdeführer ist unbescholten.

2.2      Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen gemeinsam mit seinem Bruder nach Österreich ein und hält sich seit fünfeinhalb Jahren durchgehend in Österreich auf. Er war nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 24.01.2016 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer verfügt über bloß geringe Deutschkenntnisse. Er hat in Österreich bisher mehrere Deutschkurse des Sprachniveaus A1 absolviert. Eine Deutschprüfung legte der Beschwerdeführer bisher nicht ab.

Der Beschwerdeführer ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Er half gelegentlich in seiner Asylunterkunft bei diversen Tätigkeiten.

Der Beschwerdeführer ist nicht erwerbstätig und lebt von der Grundversorgung. Er legte eine Absichtserklärung des Unternehmens XXXX vom 28.06.2021 vor, den Beschwerdeführer im Falle der Vorlage einer gültigen österreichischen Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis als XXXX anzustellen.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich, neben seinen Brüdern XXXX und XXXX , weder über sonstige Verwandten noch über sonstige enge soziale Bindungen. Zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Bruder XXXX besteht kein Abhängigkeitsverhältnis. Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Sorgepflichten und kann bisher nur mäßige Integrationserfolge aufweisen.

2.3      Zu den vorgebrachten Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan gemeinsam mit seinen Eltern, seinen Brüdern XXXX , XXXX , XXXX und seiner Schwester, etwa im Jahr 2010. Der Beschwerdeführer besaß einen afghanischen Reisepass und war legal im Iran aufhältig.

Die Familienangehörigen des Beschwerdeführers wurden in Afghanistan weder durch Taliban noch durch sonstige Personen entführt, verletzt, verfolgt oder bedroht. Der Vater des Beschwerdeführers war in Afghanistan nicht als Polizeikommandant tätig.

Der Beschwerdeführer wurde weder von Taliban noch von sonstigen Personen angegriffen und geschlagen, und es ereignete sich kein Entführungsversuch. Der Beschwerdeführer ist nicht ins Blickfeld der Taliban oder sonstiger radikaler Gruppierungen geraten und wird auch nicht von ihnen gesucht. Es kann nicht festgestellt werden, ob der Beschwerdeführer überhaupt jemals Kontakt zu Taliban oder sonstigen radikalen Gruppierungen hatte.

Der Beschwerdeführer und seine Familienmitglieder haben Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen konkreter Verfolgungs- oder Lebensgefahr verlassen.

Der Beschwerdeführer stützte einen Teil seines Fluchtvorbringens auf Vorkommnisse, welche sich angeblich im Iran ereigneten.

Der Beschwerdeführer verließ den Iran Anfang 2016 und reiste schlepperunterstützt nach Europa. In Österreich stellte er am 24.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er befindet sich daher seit ca. 5 ½ Jahren im Bundesgebiet.

Der Beschwerdeführer ist persönlich unglaubwürdig.

2.4      Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer droht in Afghanistan keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung. Somit kann nicht festgestellt werden, dass er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan deswegen Drohungen oder Gewalthandlungen von staatlicher oder privater Seite zu erwarten hätte. Auch kann nicht festgestellt werden, dass er deshalb in eine Notlage geraten würde, die seine Existenz bedrohen würde.

Der Beschwerdeführer würde nicht von der Familie der (Ex-) Freundin seines Bruders XXXX in Afghanistan verfolgt werden.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Es liegt keine „westliche“ Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden wäre.

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land, und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.

Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und des stetigen Vorstoßes der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Dem Beschwerdeführer ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar, sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht, nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif sich immer mehr verschlechtert. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können und nicht in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der Beschwerdeführer gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban derzeit noch ungewiss.

Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht ihm ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).

2.5      Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 11.06.2021 (LIB), Kapitel 3, 6 und 19

-        Kurzinformation der Staatendokumentation: Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan, Stand: 20.08.2021 (KI vom 20.08.2021)

-        UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR)

-        UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan (August 2021)

2.5.1   Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 11.06.2021:

„[...]

2.5.1.1 Kapitel 3: COVID-19

Letzte Änderung: 10.06.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

2.5.1.1.1 Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).

Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

2.5.1.1.2 Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020).

Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden

(IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden.

Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. NachAngaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“ (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in Taliban-Gebieten arbeiten (NH 7.4.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt (NH 7.4.2021).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten mehr als ein Viertel - als „schwer erreichbar“ gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

2.5.1.1.3 Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im AlfalahLabor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021). Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, das s die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (UNOCHA 3.6.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

2.5.1.1.4 Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021).

2.5.1.1.5 Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurde berichtet, dass in 16 Provinzen aufgrund steigender Fallzahlen für 14 Tage die Schulen geschlossen würden (BAMF 31.5.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehe

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten