TE OGH 2021/10/21 2Ob98/21g

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Veröffentlicht am 21.10.2021
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R***** S*****, vertreten durch Mag. Johannes Kerschbaumer, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Verband der Versicherungsunternehmen Österreichs, Schwarzenbergplatz 7, Wien 3, vertreten durch Pilz & Burghofer Rechtsanwalts GmbH in Wien, wegen 32.992,65 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 8. März 2021, GZ 14 R 168/20h-39, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 2. Juli 2020, GZ 21 Cg 17/19b-32, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahingehend abgeändert, dass sie einschließlich ihrer unangefochtenen Teile insgesamt zu lauten hat:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 24.642,65 EUR samt 4 % Zinsen aus 12.000 EUR seit 9. 9. 2017, aus 3.350 EUR seit 17. 10. 2018 und aus 9.292,65 EUR seit 10. 5. 2019 binnen 14 Tagen zu bezahlen.

Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig der klagenden Partei weitere 8.350 EUR samt 4 % Zinsen seit 9. 9. 2017 zu bezahlen, wird abgewiesen.“

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt dem Erstgericht vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

[1]       Am 21. 10. 2005 ereignete sich auf der Westautobahn A1 ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger mit seinem PKW und der Lenker eines in Italien zugelassenen PKW beteiligt waren. Der 1961 geborene Kläger erlitt bei dem Unfall einen Bruch des 11. und 12. Brustwirbels mit vollständiger Querschnittlähmung. Er ist seither auf einen Rollstuhl angewiesen, wobei er einen solchen mit elektrischer Antriebsunterstützung („E-Motion-Antrieb“) verwendet. Aufgrund seiner anhaltenden Schmerzen im Schulterbereich kann er den Rollstuhl nur eingeschränkt bedienen. Wegen der physiotherapeutischen Wirkung soll er ihn aber möglichst oft selbst mit den Armen bewegen. Dem Kläger ist es kaum möglich, seinen Oberkörper zu drehen oder sich seitlich zu beugen. Er verwendet einen Gurt über seine Knie, um seine Beine zusammenzuhalten. Der Kläger erlitt bereits einmal einen massiven Dekubitus im Gesäßbereich, weshalb er aus medizinischer Sicht seine Sitzposition regelmäßig verlagern muss und durchgehend überhaupt nur 4,5 Stunden sitzend verbringen darf.

[2]       Ein „Personenrückhaltesystem“, also ein Gurtsystem, mit dem die Hüfte und/oder der Oberkörper am Rollstuhl fixiert wird, ist beim Kläger aus medizinischen Gründen nicht erforderlich und er könnte dadurch auch seine Sitzposition nicht mehr verlagern. Außerdem wäre seine ohnehin sehr geringe Bewegungsfreiheit zusätzlich eingeschränkt und im Falle eines Kippens des Rollstuhls bestünde erhöhte Verletzungsgefahr.

[3]       In einem beim Landesgericht Wels geführten Vorverfahren wurde, ausgehend vom Alleinverschulden des Unfallgegners, dem Kläger ein Schmerzengeld von 150.000 EUR zugesprochen und die Haftung auch des hier Beklagten – begrenzt mit der in Österreich zum Unfallszeitpunkt geltenden Mindesthaftpflichtsumme – für sämtliche zukünftigen Schäden aus dem Verkehrsunfall festgestellt.

[4]       Am 1. 7. 2016 um etwa 22:00 Uhr bewegte der Kläger, unterstützt durch den E-Motion-Antrieb, den Rollstuhl mit Schrittgeschwindigkeit vorwärts. An einer Stelle ragte das Kopfsteinpflaster über den bis dahin befahrenen Untergrund hinaus. Trotz aufmerksamen Fahrverhaltens nahm der Kläger die sich ändernden Bodenverhältnisse in der Dunkelheit nicht wahr. Als er diese Stelle überfahren wollte, blockierten die Vorderräder, wodurch der Rollstuhl nach vorne kippte. Im Sturz stützte er sich mit der rechten Hand ab und fiel auf die rechte Seite. Er erlitt eine Ellenbogenprellung und hatte (gerafft) drei Tage leichte Schmerzen.

[5]       Am 25. 5. 2017 befand sich der Kläger am späten Vormittag auf dem allgemein zugänglichen Teil einer Baustelle in einem Hafengelände, um dort zu fotografieren. Die Bodenfläche war zwar ungefährlich, aber teilweise mit Sand und Kies versehen. Der Kläger verwendete wieder seinen elektrisch unterstützten Rollstuhl, wurde aber von seinem Assistenten mit Schrittgeschwindigkeit geschoben. Aufgrund eines für den Assistenten unter dem sandigen Boden nicht sichtbaren Steins blockierte eines der Vorderräder. Da der Assistent versuchte, weiter zu schieben, kam es zu einer Drehbewegung, durch die der Kläger aus dem Rollstuhl fiel. Der Kläger erlitt einen Bruch des rechten Oberschenkelknochens, der operativ mit einer Platte und Schrauben stabilisiert werden musste. Da dieser Bereich von der Querschnittlähmung betroffen ist, konnte der Kläger dort keine Schmerzen verspüren. Aufgrund dieses Ereignisses erlitt der Kläger – einschließlich des Rehabilitationsaufenthalts – insgesamt 1Tage leichte Schmerzen (im Sinne physischen und psychischen Unbills).

[6]       Der Kläger begehrte 32.992,65 EUR sA, darunter – für das Revisionsverfahren noch allein relevant – einen nicht weiter aufgeschlüsselten Gesamtbetrag von 20.000 EUR an Schmerzengeld für die Folgen dieser beiden Unfälle.

[7]       Die Beklagte wandte ein, bei den Vorfällen habe es sich nicht um adäquat kausale Folgen des ursprünglichen Verkehrsunfalls aus dem Jahr 2005 gehandelt. Das Nichtverwenden eines Gurts im Rollstuhl (Personenrückhaltesystem) in Kombination mit einem Aufmerksamkeitsfehler des Klägers bzw seines Assistenten hinsichtlich der Bodenunebenheiten sei ein grob fahrlässiges Verhalten gewesen, welches die Adäquanz aufhebe. Jedenfalls treffe den Kläger an beiden Vorfällen ein überwiegendes Mitverschulden. Im Übrigen stünde dem Kläger aufgrund der bereits erfolgten Globalbemessung kein weiteres Schmerzengeld zu.

[8]       Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte zur Zahlung von 14.992,65 EUR, darunter eines Schmerzengeldes von 2.000 EUR sA. Mit der Globalbemessung des Schmerzengeldes im Vorprozess seien nur die Folgen des üblichen Verlaufs und Unbills abgedeckt worden. Beide Stürze seien weitere Folgen des Unfalls aus dem Jahr 2005. Ein Mitverschulden bestehe nicht. Weder der Kläger noch sein Assistent hätten auffallend sorgfaltswidrig oder grob fahrlässig gehandelt. Der Kläger sei auch nicht verpflichtet gewesen, ein Rückhaltesystem zu verwenden, welches ihm die medizinisch notwendige, regelmäßige Gewichtsverlagerung erschwere, beim Kippen des Rollstuhls potenziell noch größere Verletzungen hervorrufe und die durch die Querschnittlähmung stark eingeschränkte Beweglichkeit noch weiter reduziere. Im Hinblick darauf, dass der Kläger im Bereich des Oberschenkelknochens keine Schmerzen verspüren habe können, sei das Schmerzengeld an der unteren Grenze zu bemessen, aber zu berücksichtigen, dass der Kläger sich einer weiteren Operation und einem weiteren Rehabilitationsaufenthalt unterziehen habe müssen. Die damit verbundene psychische und physische Unbill sei zu berücksichtigen und daher das Schmerzengeld mit 2.000 EUR zu bemessen.

[9]       Das von beiden Parteien angerufene Berufungsgericht änderte dieses Urteil dahin ab, dass es den Zuspruch an Schmerzengeld auf 8.000 EUR (und den Zuspruch insgesamt auf 20.642,65 EUR) sA erhöhte. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

[10]     Das Berufungsgericht teilte die – im Folgenden von der Beklagten nicht mehr bekämpfte – Ansicht des Erstgerichts, dass die beiden Unfälle und die daraus entstandenen Schäden adäquate Folgen des Verkehrsunfalls aus dem Jahr 2005 seien. Ein Mitverschulden sei dem Kläger beim Unfall vom 1. 7. 2016 nicht anzulasten. Wohl aber treffe ihn ein solches beim Unfall vom 25. 5. 2017. Zwar habe sich noch kein allgemeines Bewusstsein der beteiligten Kreise dahin manifestiert, bei Fahrten im Rollstuhl generell ein Rückhaltesystem zu benützen. Angesichts des nur knapp ein Jahr vorher erlittenen Sturzes und des mit Sand und Kies bedeckten Baustellengrundes habe dem Kläger aber die erhöhte Gefahr eines neuerlichen Sturzes bewusst sein müssen. Unter diesen Umständen treffe ihn wegen der dennoch unterlassenen Verwendung eines Rückhaltegurts ein Mitverschulden, das in Anlehnung an die „übliche Mitverschuldensquote wegen Verletzung der Gurtenanlegepflicht“ mit einem Viertel zu bemessen sei.

[11]           Was die Höhe des Schmerzengeldes anlangt, hielt das Berufungsgericht für alle Folgen des Unfalls vom 1. 7. 2016 ein Schmerzengeld von 500 EUR für angemessen. Für die Folgen des Unfalls vom 25. 5. 2017 gelangte es unter Berücksichtigung der Rechtsprechung, dass auch schmerzunempfindliche Personen einen Anspruch auf einen „Sockelbetrag“ hätten, zu einem Schmerzengeld von 10.000 EUR, das es um die Mitverschuldensquote auf 7.500 EUR kürzte. Daraus ergebe sich insgesamt ein Zuspruch von 8.000 EUR.

[12]           Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision insbesondere zur Frage der Bemessung des Schmerzengeldes bei Verletzung der unteren Extremitäten eines Querschnittgelähmten zu, zu der der Oberste Gerichtshof erst in einem Verfahren Stellung genommen habe.

[13]           Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem Abänderungsantrag, seinem Schmerzengeldbegehren von insgesamt 20.000 EUR zur Gänze stattzugeben. Hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.

[14]           Der Beklagte beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen und hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

[15]           Die Revision ist mangels Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage des Mitverschuldens von Rollstuhlbenützern wegen Nichtanlegung eines Rückhaltegurts zulässig; sie auch teilweise berechtigt.

[16]           Der Kläger hält in seinem Rechtsmittel das Schmerzengeld als zu gering bemessen und den Vorwurf eines Mitverschuldens für verfehlt.

Hiezu wurde erwogen:

Rechtliche Beurteilung

[17]     1. Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

[18]           2. Eine als Mitverschulden bezeichnete Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten, die zur Selbstschädigung führt (RS0032045), liegt dann vor, wenn jene Sorgfalt außer Acht gelassen wird, die nach dem allgemeinen Bewusstsein der beteiligten Kreise von jedem Einsichtigen und Vernünftigen eingehalten worden wäre, um eine Schädigung zu verhindern (2 Ob 99/14v mwN; RS0026828). Dies setzt auch voraus, dass der Geschädigte die Gefahr erkannte bzw diese zumindest erkennbar war. Erkennbaren Gefahrenquellen muss nämlich jedenfalls ausgewichen werden (RS0023704 [T1]).

[19]           3. § 106 Abs 2 KFG verpflichtet zur Benutzung von Sicherheitsgurten in Kraftfahrzeugen. Ausnahmen von der Gurtenpflicht bestehen insofern gemäß § 106 Abs 3 Z 2 KFG bei Unmöglichkeit des bestimmungsgemäßen Gebrauchs des Sicherheitsgurts wegen der Körpergröße oder schwerster körperlicher Beeinträchtigung des Benützers.

[20]           § 2 Abs 1 Z 19 StVO nimmt aber Rollstühle explizit vom Fahrzeugbegriff aus. Aus der Bestimmung ergibt sich – auch wenn eine § 24 Abs 1 dStVO entsprechende Regelung in Österreich fehlt –, dass Benutzer von Greifreifenrollstühlen auch in Österreich wie Fußgänger zu behandeln sind (2 Ob 42/17s = RS0131963). Eine gesetzliche Gurtenpflicht besteht daher für sie nicht.

[21]           4. Mit der Frage des Mitverschuldens bei unterlassener Verwendung von Schutzeinrichtungen ohne entsprechende gesetzliche Verpflichtung hatte sich der Senat im Zusammenhang mit Helmen bei Radfahrern und Motorradschutzkleidung zu beschäftigen:

[22]           4.1. In der Entscheidung 2 Ob 99/14v sprach er erstmals aus, dass das Nichttragen eines Fahrradhelms bei „sportlich ambitionierten“ Radfahrern im Falle einer kausalen Kopfverletzung als Obliegenheitsverletzung zu werten sei. Auch wenn die österreichische Rechtsordnung keine allgemeine Helmpflicht vorsehe, sei eine Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten anzunehmen, wenn sich in den beteiligten Kreisen bereits ein allgemeines Bewusstsein zum Tragen eines Helms gebildet habe, was bei Fahrten unter rennmäßigen Bedingungen anzunehmen sei.

[23]     4.2. In ähnlicher Weise wertete der Senat trotz fehlender gesetzlicher Anordnung das Nichttragen von Schutzkleidung durch einen Motorradfahrer auf einer kurzen Überlandfahrt als Mitverschulden, weil sich unter Motorradfahrern eine entsprechende soziale Norm herausgebildet habe (2 Ob 119/15m mwN; RS0130397). Diese Grundsätze wurden in der Entscheidung 2 Ob 44/17k auch auf den Motorradverkehr im Ortsgebiet übertragen.

[24]     5. Dass sich unter Rollstuhlfahrern ein allgemeines Bewusstsein herausgebildet hätte, Rückhaltegurte bzw Beckengurte auch bei der händischen – allenfalls elektrisch unterstützten – Benutzung des Rollstuhls zu verwenden, steht nicht fest und ist auch nicht offenkundig iSd § 269 ZPO, sodass dem Kläger bereits aus diesem Grund kein Mitverschulden anzulasten ist.

[25]           Hinzu kommt, dass der Kläger bei Verwendung eines Rückhaltegurts – abgesehen von der weiteren Einschränkung seiner Beweglichkeit – seine Sitzposition entgegen seinen medizinischen Erfordernissen nicht mehr regelmäßig verlagern und damit erneut den bereits einmal eingetretenen Dekubitus im Gesäßbereich riskieren würde. Wenn damit im konkreten Einzelfall sogar Umstände vorliegen, die den oben angeführten Ausnahmen von der gesetzlichen Gurtenpflicht in Kraftfahrzeugen zumindest nahe kommen, kann umso weniger ein Mitverschulden des Klägers angenommen werden.

[26]     6. In Deutschland hatte das Bundesverfassungsgericht aufgrund einer Verfassungsbeschwerde eines bei einem Verkehrsunfall zu Schaden gekommenen Rollstuhlfahrers zu prüfen, ob die Annahme eines (zum Sturz aus dem Rollstuhl führenden) Mitverschuldens wegen Nichtanlegung des Beckengurts gegen das Verbot der Benachteiligung behinderter Personen (Art 3 Abs 3 Satz 2 GG) verstieß. Es entschied, dass für Rollstuhlfahrer im Straßenverkehr keine Obliegenheit zum Anlegen eines Beckengurts bestehe (1 BvR 742/16). Auch wenn ein Beckengurt bereits am Rollstuhl befestigt sei, diene er lediglich der Sicherung während des Transports mit einem Fahrzeug. Die Verwendung des Beckengurts sei bei der Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr nach dem allgemeinen Bewusstsein zum eigenen Schutz nicht geboten, sodass ein Mitverschulden nicht vorliege. Das Bundesverfassungsgericht wies auch auf die Bedeutung des Verbots der Benachteiligung behinderter Menschen für die Beurteilung eines Mitverschuldens hin.

[27]     Diese Erwägungen sind auch auf österreichische Verhältnisse übertragbar.

[28]     7. Da sich schließlich der erste Vorfall unter völlig anderen Bedingungen (Dunkelheit, Kopfsteinpflaster) ereignete als der zweite (Hafengelände mit sandigem Boden), ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch daraus kein Mitverschulden des Klägers abzuleiten.

[29]           Seine Begründung für ein Mitverschulden des Klägers erweist sich somit insgesamt als nicht tragfähig.

[30]           8. Dem Kläger steht daher der ungekürzte Schmerzengeldanspruch zu. Soweit er sich gegen die Höhe des bisher zugesprochenen Schmerzengeldes wendet, ist ihm teilweise zu folgen.

[31]     8.1. Schmerzengeld gebührt nach der Rechtsprechung grundsätzlich auch dem, der durch eine haftungsbegründende Einwirkung auf seine Persönlichkeitsstruktur außerstande gesetzt wird, Schmerz und Leid im Gegensatz zu Wohlbefinden und Freude zu empfinden und damit elementarster menschlicher Empfindungen beraubt wird (RS0031232). Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Fachsenats fällt es nicht entscheidend ins Gewicht, ob das Unfallopfer Schmerzen empfand oder nicht (2 Ob 66/92; 2 Ob 192/97t; 2 Ob 106/10t; 2 Ob 48/16x ua).

[32]     8.2. Lag aber die Einschränkung des Schmerzempfindens des Geschädigten schon vor der Schadenszufügung durch den Schädiger und wurde daher nicht durch diesen verursacht, steht dem Geschädigten nach der Entscheidung 3 Ob 116/05p lediglich ein Mindestersatz für die Schädigung seiner körperlichen Unversehrtheit bzw die Schädigung der Persönlichkeit zu, also ein Sockelbetrag zur Abgeltung von Unlustgefühlen und Missempfindungen, den hier auch das Berufungsgericht für maßgeblich erachtete.

[33]     8.3. Im vorliegenden Fall wurde aber die Einschränkung des Schmerzempfindens des Klägers durch den Schädiger, für den der Beklagte haftet, verursacht, sodass die soeben erörterte Rechtsprechung nicht zum Tragen kommt. Vielmehr bleibt das Argument für die Berechtigung eines Schmerzengeldanspruchs auch ohne Schmerzempfinden, nämlich dass der Verlust der Erlebnisfähigkeit ein schadenersatzrechtlich zumindest ebenso bedeutender Nachteil ist wie der Schmerz, weiter schlagend.

[34]     8.4. Angesichts der bereits vom Berufungsgericht zitierten Schmerzengeldzusprüche bei ähnlichen Verletzungen und angesichts wesentlich geringerer Zusprüche für Oberschenkelbrüche bei kurzen Schmerzperioden (zB in OLG Innsbruck, 1 R 82/13d mit 3.700 EUR valorisiert bzw OLG Wien 11 R 73/15 3.000 EUR valorisiert, vgl jeweils Danzl, HB Schmerzengeld, Online-Datenbank) sowie unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Schmerzengeldzusprüche im Bereich von 20.000 EUR jeweils wesentlich längere Schmerzperioden mit zusätzlichen Verletzungen umfassten (vgl 8 Ob 3/80 – valorisiert 23.800 EUR; 2 Ob 209/82 valorisiert 18.000 EUR; 8 Ob 229/82 valorisiert 18.600 EUR) oder erhebliche Beinverkürzungen mit sich brachten (vgl 2 Ob 89/80 valorisiert 22.800 EUR), aber auch darauf Bedacht nehmend, dass das Schmerzengeld tendenziell nicht zu knapp bemessen werden sollte (vgl 2 Ob 61/02p; 2 Ob 12/02g; 2 Ob 101/05z; 2 Ob 105/09v), erscheint hier ein Zuspruch von 12.000 EUR angemessen, der auch die vergleichsweise geringen Schadensfolgen nach dem Sturz vom 1. 7. 2016 umfasst.

[35]     9. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 3 ZPO; das Berufungsgericht hat die Kostenentscheidung nach § 52 Abs 1 Satz 1 letzter Halbsatz ZPO vorbehalten.

Textnummer

E133186

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00098.21G.1021.000

Im RIS seit

02.12.2021

Zuletzt aktualisiert am

02.12.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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